Christof Weigold | Der blutrote Teppich Bd. 2
Hollywood 1922: Hardy Engels zweiter Fall
Noch heute, zwanzig Jahre später, erinnere ich mich ganz deutlich an das erste Erbeben, das ich in Los Angeles miterlebt habe. Vielleicht liegt es daran, dass es sich ereignete, während ich gerade zwei Mörder verfolgte. (Auszug Seite 7)
1922 gibt es den berühmten Hollywood-Schriftzug in den Hollywood-Hills noch nicht, aber bereits gefühlt mehr Studiokulissen als Wohnhäuser und viele Deutschstämmige. Einer davon, der ehemalige Polizist Hardy Engel hat den Traum von der Schauspielerei bereits wieder aufgegeben, auch von der Detektivarbeit hat er nach den dramatischen Ereignissen seines ersten Falles und dem Verlust eines Auges die Nase voll.
Frustriert und knapp bei Kasse verbringt er die meiste Zeit bei Kumpel Buck in dessen Flüsterkneipe, denn trotz Prohibition floss der Alkohol in Strömen. Froh nimmt Engel den dringend benötigten Auftrag des Starregisseurs William Desmond Taylor an. Er soll den beliebten Filmstar Mabel Normand observieren, die sich mit den falschen Leuten eingelassen hatte. Als Engel am anderen Morgen Bericht erstatten will, findet er Taylor erschossen auf dem Teppich im Salon seines Bungalow vor. Selbst als Täter in Verdacht stehend, beschließt Engel den rätselhaften Tod des Regisseurs zu untersuchen. Ihm zur Seite steht die kesse Regisseurin Polly Brandeis, die von Taylors Studio beauftragt wird, Nachforschungen anzustellen.
Liebesbriefe und Spitzenhöschen
Viele Liebesbriefe, unter anderem auch von der kokainsüchtigen Mabel Normand und der blutjungen Schauspielerin Mary Miles Minter, sowie eine Sammlung von Spitzenhöschen mit Namensschildern versehen, werden bei Taylor gefunden und diese Trophäen-Sammlung geben Anlass für wilde Spekulationen. Andere Spuren führen zu einem Drogenbaron, der die gesamte Filmbranche mit Kokain versorgt und zu einem ehemaligen Butler von Taylor, der ihn erst kürzlich in einem Brief erpresste. Des weiteren war der schwarze Hausboy Henry Peavey verhaftet worden, weil er im Park junge Männer angesprochen hatte.
Im Auftrag der Staatsanwaltschaft reist der Privatdetektiv von der sonnigen Westküste ins kalte New York und entdeckt eine ganz andere Spur. Der charmante Top-Regisseur Taylor hatte Jahre vor seiner Hollywood-Karriere unter anderem Namen als Antiquitätenhändler gearbeitet, bevor er Frau und Tochter ohne Erklärung klammheimlich verließ und ein neues Leben anfing.
Skandalpanik
Hardy Engel sieht bei seinen Nachforschungen in die skandalträchtigen Abgründe Hollywoods, denn sowohl die Filmbranche als auch die Polizei machen es ihm schwer und scheinen an einer Aufklärung des Mordes nicht wirklich interessiert zu sein. Beweise werden manipuliert, Zeugen ermordet oder verschwinden einfach. Die großen Studiobosse fürchten sich vor weiteren Skandalen und setzen hysterisch alles daran, die Verfehlungen ihrer Stars zu vertuschen und den glamourösen Schein zu wahren. Eilig wird das Hays Office gegründet um Hollywoods Sauberkeit zu überwachen und in deren Folge eine schwarze Liste von über 100 Filmleuten erstellt wird, die als Sittlichkeitsrisiko in der Versenkung verschwinden.
Legendärer Mordfall
Wie schon im ersten Band – Der Mann, der nicht mitspielt – liegt hier ein wahrer Kriminalfall zugrunde und dieser wird mit der gerade erwachenden Filmindustrie verknüpft. Die ausführlichen Beschreibungen jeder Szene betten dabei den Krimiplot in eine stimmige Atmosphäre und zündeten bei mir ein richtiges Kopfkino. Der Drehbuchautor Christof Weigold benutzt eine bildhafte Sprache, die es mir ermöglichte, völlig in die Geschichte einzutauchen. Beeindruckend wie der Autor historisch belegte Fakten in den Krimiplot einarbeitet, wie zum Beispiel den berühmten literarischen Zirkel, den Dorothy Parker mit Freunden im Algonquin Hotel in New York bildete und wo sie durch ihre scharfzüngige Schlagfertigkeit zur Legende wurde. Als Leser ist man live bei dem riesigen Spektakel von Taylors Beerdigung dabei, fährt 5 ½ Tage mit Hardy im Zug von Los Angeles bis New York oder erlebt den ersten Einsatz eines roten Teppichs bei einer Filmpremiere.
Die Farbe, die er für diesen Teppich gewählt hatte, war ein leuchtendes Rot, das mich unwillkürliches an frisches Blut denken ließ, als wäre es damit getränkt worden. Und auf gewisse Weise, dachte ich, war es auch so. (Seite 608)
Das macht das Buch für mich faszinierend und voller Informationen, die ich mit Hilfe des Internets noch vertieft habe. Das sollte man aber besser im Nachhinein machen, denn man bringt sich sonst um viele Überraschungen.
Nach vielen Wendungen löst der Ich-Erzähler Hardy Engel den Fall und es wird eine schlüssige aber natürlich unbewiesene Auflösung geboten. Die Detailverliebtheit und Begeisterung des Autors für diese Zeit ist auf jeder Seite spürbar. Und es sind viele Seiten und ja, einige Filmgrößen, die Weigold durch den Handlungsverlauf flanieren lässt, Charlie Chaplin, Cecil B. DeMille oder Douglas Fairbanks, um nur einige zu nennen, bringen die Geschichte nicht unbedingt nach vorne. Für mich hat das aber gerade den besonderen Reiz ausgemacht und ich wäre bei einem dritten Teil mit dem trinkfesten Privatdetektiv und seinem Glasauge wieder dabei.
Fakt am Rande: Der mysteriöse Todesfall ist bis heute nicht aufgeklärt und hielt die Fantasie der Menschen jahrzehntelang gefangen. Mehrere Bücher gibt es inzwischen über den legendären Mordfall und 1985 wurde sogar eine eigene Zeitschrift gegründet: Taylorology.
Rezension und Foto von Andy Ruhr.
Der blutrote Teppich | Erschienen am 11. April 2019 bei Kiepenheuer & Witsch
ISBN 978-3-462-05141-4
640 Seiten | 16.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe
Auch bei uns: Andys Rezension zum ersten Hardy Engel-Fall Der Mann, der nicht mitspielt.