Kategorie: Kriminalroman

Hervé Le Corre | Durch die dunkelste Nacht

Hervé Le Corre | Durch die dunkelste Nacht

Es ist dunkel und man sieht keine Bäume. Man sieht nichts außerhalb des Lichts der Straßenlaternen. Es ist Nacht, aber man sieht nicht mal die Nacht. (Auszug Seite 84)

Der Titel „Durch die dunkelste Nacht“ ist hier Programm. Es ist nicht das pittoreske, von Touristen für seinen Wein geliebte Bordeaux. Wir begleiten Commandante Jourdan von der Police Judicaire in die dunkelsten Ecken, finster und unwirtlich, es könnte jede Großstadt sein. Von der ersten Seite an regnet es ununterbrochen. Gleich am ersten Tatort findet die Polizei drei tote Kinder, noch im Schlafanzug, erschossen von ihrem Vater, die Mutter liegt im Bad, das Auge ausgeschossen. Der mörderische Vater ist auf der Flucht. Jourdan ist zutiefst erschüttert, unterdrückt nur mühsam seine Wut. Der desillusionierte Polizist zerbricht langsam an dem Elend, dass er täglich sieht, macht aber trotzdem fast zombiehaft immer weiter. Während er seiner Truppe Halt bietet, stürzt er immer mehr in Düsternis und Depressionen. Er ist der typische ausgebrannte Cop, später wird ihn seine schöne sowie kluge Frau Marlène verlassen, die Tochter Barbara geht mit. Als Marlène mit gepackten Koffern vor ihm steht, ist er nicht in der Lage, etwas zu sagen.

Dann machten sie sich wieder an die Arbeit. Jourdan hatte manchmal das Gefühl, der Tod schaute ihnen zu und glitt mit eisiger Präsenz umher, um sie am Arbeiten zu hindern, verstimmt, weil sie versuchten, Licht in das von ihm gesäte Dunkel zu bringen. (Auszug Seite 83)

Aber da ist der Frauenmörder, den er kriegen will. Und Jourdan ist gut in seinem Job. Ihm sind die gleichen Stichverletzungen bei mehreren weiblichen Opfern aufgefallen, die auf einen Serienmörder hindeuten. Weiter bringt die DNA eines Toten auf dem Trottoir vor dem Polizeigebäude die Polizei auf eine heiße Spur. Und auch der hektische Polizeialltag mit drogensüchtigen Zwangsprostituierten, Minderjährigen, die einen anderen Jungen wegen 100 Euro Schulden zu Tode prügelten sowie einer weiteren Frauenleiche, die seit vier Tagen in einem Abrisshaus liegt, geht unerbittlich weiter.

In einem zweiten Handlungsstrang lernen wir den Serienkiller kennen. Christian, ein Psychopath und ehemaliger Elitesoldat im Tschad wurde jahrelang von seiner Mutter missbraucht. Tagsüber arbeitet er als Lastwagenfahrer, nachts geht er mit dem Messer auf die Jagd nach Prostituierten und anderen Frauen. Man spürt, wie hier etwas aus dem Ruder läuft, wie Christian immer mehr eskaliert und die Kontrolle verliert.

Die dritte Perspektive besetzt Louise, eine junge alleinerziehende Mutter eines 8-jährigen Sohnes mit einem Händchen für die falschen Männer. Die junge Frau war nach dem Unfalltod ihrer Eltern in die Drogen- und Alkoholszene abgerutscht. Doch für ihren kleinen Jungen, ihren Sonnenschein, hatte sie sich aus dem Sumpf von Drogen, Sex und Gewalt herausgekämpft und schlägt sich als Haushaltshilfe für Senioren durch. Wäre da nicht ihr Ex-Freund, der sie immer wieder belästigt und schwer misshandelt. Louises angsterfülltes Leben setzt der Leserin zu, besonders die Weigerungen der Polizei, ihre Beschwerden ernst zu nehmen. Erst als Sam, ihr kleiner Sohn mit in die Gewaltspirale reingezogen wird, zieht Louise die Reißleine.

Jourdan versucht, in alldem einen Sinn zu erkennen: diese Verbrechen, die Täter, die Arbeit als Polizist. Festnehmen, verurteilen und bestrafen? Wozu, wo doch die Toten nicht wieder lebendig werden? (Auszug Seite 200)

Drei Menschen, deren Schicksale sich im Laufe der Seiten kreuzen. Jeder von ihnen geht durch seine eigene schauerliche Nacht, mit einem kurz auf blitzenden Hoffnungsschimmer, als sich Jourdan und Louise begegnen, der aber schnell wieder in der Dunkelheit versinkt. Erträglich wird diese beklemmende Geschichte durch die intensive fast poetische Sprache. Ganz großes Lob an die Übersetzerin Anne Thomas. Hervé Le Corre breitet seine Geschichte sehr wortreich aus, mit gnadenlosen Worten voll finsterer Schönheit, die die Verzweiflung einfühlsam beschreibt und einem Realismus, der nicht verschont. Hervé le Corre ist ein scharfsinniger Beobachter kleinster Gesten, ein Dialogschreiber von höchster Präzision, jedes Detail ist wichtig und trotzdem ist kein Wort zu viel. Von Anfang an zieht dieser desillusionierte Polizeiroman die Leserin in den Bann, in einen Strudel von Gewalt, Sprachlosigkeit und Schmerz. Ein außergewöhnlicher atemberaubender Roman, den man immer weiter liest, weil man stets auf einen Lichtblick hofft, der diese Nacht zu erhellen verspricht.

Hervé Le Corre ist schon länger einer der großen Namen des französischen Noir, und „Traverser la nuit“ ist nicht sein erster mit einem Krimipreis ausgezeichneter Roman, aber sein erster ins Deutsche übersetzter.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Durch die dunkelste Nacht | Erschienen am 15.01.2024 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-51847-369-6
339 Seiten | 17,- €
Originaltitel: Traverser la nuit | Übersetzung aus dem Französischen von Anne Thomas
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Susanne Tädger | Das Schweigen des Wassers

Susanne Tädger | Das Schweigen des Wassers

Die DDR ist jetzt bereits schon 30 Jahre Geschichte und dennoch auch heute noch irgendwie präsent in allerlei soziologisch-politischen Kontexten. Frei nach Faulkners „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen.“ Das gilt auch für die Kriminalliteratur, die selbstverständlich gerne Unaufgearbeitetes aus der Vergangenheit aufgreift, natürlich auch aus der deutsch-deutschen. Zuletzt hatte mir etwa „Die Toten von Marnow“ von Holger Karsten Schmidt gut gefallen, in dem es um Medikamentenversuche in der damaligen DDR ging. Nun greift die Autorin Susanne Tägder in ihrem Krimidebüt einen alten Kriminalfall auf, der zu DDR-Zeiten nicht aufgeklärt wurde (zumindest wurde ein Verdächtiger freigesprochen) und der nun in der Zeit kurz nach der Wiedervereinigung wieder hochkommt. Es ist die Zeit der Umbrüche, viele werden in neue Lebenssituationen geworfen. Und einige stellen fest, dass sie auch im neuen System abgehängt werden, während die Opportunisten den Absprung glatt geschafft haben und dafür sorgen, dass alte Ungereimtheiten weiterhin unter dem Teppich bleiben.

Groths Leben hat 1960 mit einer Fahrkarte begonnen. Oder aufgehört, je nachdem, wie man die Sache betrachtet. Mit einer Fahrkarte nach Hamburg. Aus ihm unerfindlichen Gründen erinnert er sich sogar noch an den Preis: acht mark siebzig. Im Schaukasten, das Groths Leben ausstellt, wäre diese Fahrkarte ein zentrales Artefakt. (Auszug E-Book Pos.1640)

Herbst 1991 in Mecklenburg: Der Hamburger Kommissar Arno Groth ist als Aufbauhelfer Ost in seine alte Heimat Wächtershagen (steht wohl für Neubrandenburg) versetzt worden. Damals war er als junger Abiturient mangels Perspektive vor dem Mauerbau in den Westen gegangen. Nun kehrt er zurück, gibt Seminare für die Ost-Kollegen über nunmehr gesamtdeutsche Polizeiarbeit, aber es ist nicht ganz klar, wer hier wen aufbaut. In Hamburg ist der geschiedene Groth, der immer noch um seine verstorbene Tochter trauert, beruflich aufs Abstellgleis geraten, nachdem er einen Fall vermasselt hat, weil er zu stark einer Zeugin vertraut hatte. Groth bekommt schon nach kurzer Zeit Besuch auf der Dienststelle von einem merkwürdigen, heruntergekommenen Mann, der ihn vom Hof aus beobachtet. Dieser Mann heißt Siegmar Eck, ist Verleiher von Tretbooten und aktuell ohne festen Wohnsitz. Er fasst nach einem kurzen Gespräch offenbar Vertrauen zu Groth und verspricht, nach dem Wochenende wegen eines Diebstahls wiederzukommen. Doch dazu wird es nicht kommen.

Zwei Tage später wird Eck tot am See aufgefunden, ertrunken, die Umstände sind unklar. Der Dienststellenleiter will den Fall zügig als Unfall einstellen. Doch ausgerechnet ein Kollege, mit dem Groth bislang alles andere als warm wurde, offenbart ihm, dass Eck kein Unbekannter war: Vor etwa zehn Jahren war er Hauptverdächtiger in einem Mord an einer jungen Frau, wurde aber vor Gericht wegen Ermittlungsfehler überraschend freigesprochen. Und obwohl die damaligen Akten zum großen Teil verschwunden sind, hat Groth einen Anhaltspunkt für weitere Ermittlungen.

Außer aus Groths wird die Geschichte noch aus einer weiteren Perspektive erzählt. Regine Schadow ist Servicekraft in der Ausflugsgaststätte am See, kannte Eck, rauchte öfter mal mit ihm eine Zigarette in der Pause. Regine war Angestellte in einer Bar in Berlin und ist nun nach Wächtershagen zurückgekehrt, angeblich um die Wohnung ihrer Großmutter aufzulösen. Der Leser wird schnell darauf gestoßen, dass sie etwas von Eck wollte. Und dies hängt auch mit dem damaligen Fall, dem Mord an Jutta Timm zusammen, denn Jutta war Regines große Schwester.

Als sie ihm sagte, wer ihre Schwester ermordet hat, zuckte Ludi nicht mal mit der Wimper. Fragte nicht: „Bist du sicher?“ Oder: „Wieso glaubst du das?“
Alles, was Ludi dazu anmerkte, war: „Oha.“ Und dass sie gut auf sich aufpassen müsse. „Wer es so weit nach oben geschafft hat, der räumt nicht so mir nichts dir nichts den Sessel. Wenn du verstehst, was ich meine.“ (Auszug E-Book Pos. 4051).

Susanne Tädger war Richterin in Karlsruhe, lebt inzwischen im Ausland und hat dennoch eine Verbindung in die DDR, denn ihre Eltern stammten von dort. Eine Reportage über einen ungelösten DDR-Mordfall aus der Süddeutschen Zeitung war Auslöser dieses Romans. Die Autorin versteht sich dabei als Meisterin der leisen Töne. Sie dringt tief in die Biografien der zentralen Figuren vor, die alle Traumata erlitten haben. Bei Groth und Regine Schadow über die Erzählperspektive, bei Eck indirekt über diejenigen, die über ihn berichten. Damit erzählt der Roman oft weniger von einem Mordfall, sondern von Brüchen, Umwälzungen, Schicksalsschlägen im Leben der Figuren. Das Ganze wirkt organisch, authentisch und verweist auf andere Literatur. Groth wird als „Literat“ von den Kollegen verspottet, der „Hungerkünstler“ von Kafka spielt eine Rolle, zudem liest er in Texten von Eck, der eine Art Liedermacher war. Insgesamt dringen Groth und Regine von unterschiedlichen Seiten langsam zur Lösung der Geschichte vor, die, man ahnt es bereits, keine vollständige Erlösung bieten kann. „Das Schweigen des Wasser“ ist ein wirklich guter, sehr stimmiger, unaufgeregter und melancholischer Kriminalroman, der viele Leser verdient hat. Der Blurb auf dem Klappentext vom von uns auch sehr geschätzten Andreas Pflüger kommt nicht von ungefähr.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Das Schweigen des Wassers | Erschienen am 16.03.2024 im Tropen Verlag
ISBN 978-3-608-50194-0
336 Seiten | 17,- €
Als E-Book: EAN 978-3-608-12254-1 | 13,99 €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Ron Corbett | Cape Diamond (Band 2)

Ron Corbett | Cape Diamond (Band 2)

Springfield, eine fiktive kanadische Großstadt im Landesinneren an der nördlichen Wasserscheide. An einem Zaun eines Sportplatzes am Rande einer Hochhaussiedlung wird übel zugerichtet Augustus Morissey, Boss des heimischen Gangsterclans der Shivers, ermordet aufgefunden. Besonderes Detail: In seinem Mund wird ein äußerst wertvoller ungeschliffener Diamant gefunden. Detective Frank Yakabuski stößt bei seinen Ermittlungen auf viel Schweigen und wenig Interesse. Der Verdacht fällt auf die rivalisierende, kriminelle Truppe der North Shore Travellers. Auch von diesen wird kurz darauf jemand an der gleichen Stelle aufmordet aufgefunden. Es kommt zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, die Stadt gleicht einem Pulverfass, man erwartet täglich einen blutigen Bandenkrieg.

Die Shivers sind eine ursprünglich irische Schmugglerbande, die seit der ersten Besiedlung der Region (nach den Indigenen) mit den Travellers, die als Nachfahren von Sinti und Roma nach Kanada kamen, einen blutigen Bandenkrieg liefert. Beide Gruppen haben mittlerweile ihre kriminellen Aktivitäten diversifiziert. Durch den Diamantenfund kommt aber noch eine ganz andere Wendung in den Fall: Nicht allzuweit entfernt von Springfield befindet sich Cape Diamond, eine äußerst lukrative Diamantenmine. Allerdings auch mit äußerst strengen Sicherheitsvorkehrungen, sodass die Leitung der Mine es ausschließt, dass der Diamant entwendet worden sein kann.

Zudem kommt ein weiterer Erzählstrang hinzu: Von den Akteuren in Springfield unbemerkt, begleitet der Leser die Fahrt eines Killers aus Mexiko Richtung Kanada. Der kühle, rationale Mann fährt mit einem Campervan Richtung Norden und ist für alle Eventualitäten gut ausgerüstet. Bald schon zieht er eine Blutspur hinter sich her, da er alle Personen, die ihn an die Behörden verraten könnten, ausschaltet. Was der Leser bald weiß: Er hat einen Auftrag in Springfield. Doch wie hängt das mit den sonstigen Ereignissen zusammen?

Yakabuski fühlte sich wie der unter Zeitdruck geratene Künstler. Weil er das Bild einfangen wollte, bevor es ganz verschwand. Inzwischen war er überzeugt, dass in diesem Fall nichts so war, wie es auf den ersten Blick schien. Die Ermittlungen erinnerten an einen Stummfilm auf Zelluloid, als genug fürs Museum, ein Streifen in Schwarz-Weiß, ohne Anfang und Ende, sondern lediglich einem mysteriösen Mittelteil und ätzenden chemischen Emulsionen anstelle des Vor- und Abspanns. (E-Book Pos. 1842-1851)

Der zweite Teil der Reihe um den einzelgängerischen Detective Yakabuski führt wieder in die rauen, kargen Gegenden Kanadas am Rande des borealen Nadelwalds, obwohl Autor Ron Corbett mit Springfield eine großstädtisches Setting ebenfalls erschafft. Yakabuski ist ähnlich wie im ersten Roman „Preisgegeben“ eher als einsamer Wolf unterwegs, ein Ermittler, der sich wenig um Hierarchien und Polizeitaktiken schert. Von seiner Vergangenheit als Soldat mit Auslandseinsatz im Bosnienkrieg und als Untercover-Cop, der eine berüchtigte Motorradgang erfolgreich infiltriert hat, ist Yakabuski geprägt und handelt eher spontan und intuitiv, um dem Bösen die Stirn zu bieten. Gleichzeitig ist er bereit, bei seinen Ermittlungen nicht nur die ausgetretene Pfade zu benutzen und das Offensichtliche anzunehmen, sondern in die tieferen Hintergründe vorzudringen.

Der Roman erzählt viel von der Vergangenheit der Region mit Siedlern, Holzfällern, fahrendem Volk und wie sich Konflikte aus der damaligen Zeit bis in die Gegenwart erhalten haben. Der Autor erschafft einen auf Gewalt basierenden Gründungsmythos seiner fiktiven Stadt Springfield, der allerdings an echte Geschichten und Konflikten anknüpft. Interessant dabei sind auch die Wetterverhältnisse während der Handlung: Am Ende des Herbstes und zu Winterbeginn erwartet man in Springfield eigentlich Frost und Schnee. Stattdessen herrschen warme, fast sommerliche Temperaturen, die die Geschehnisse vor Ort buchstäblich nochmal anheizen.

Insgesamt hat Ron Corbett einen harten Krimi mit brutalen Gestalten und groben Gewalttaten geschrieben, der mich an manchen Stellen an James Lee Burkes Robicheaux-Romane erinnert haben, z.B. Bei den Geschichten aus der Vergangenheit und diesem Killer, der aus dem Nichts kommend auf den Plan tritt. Ein Dave Robicheaux ist Frank Yakabuski trotz ein paar Ähnlichkeiten nicht ganz. Allerdings ist auch er ein Ermittler, der die ganze Zeit versucht, auf die Zwischentöne zu achten und herauszufinden, ob hinter der ganzen Gewalt nicht noch mehr dahintersteckt. Und so viel sei gesagt – er wird recht behalten in diesem hartgesottenen kanadischen Krimi. Insgesamt eine wirklich gelungene Fortsetzung der Reihe.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Cape Diamond | Erschienen am 12.02.2024 im Polar Verlag
ISBN 978-3-948392-92-5
320 Seiten | 17,- €
Originaltitel: Cape Diamond | Übersetzung aus dem kanadischen Englisch von Harriet Fricke
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Gunnars Rezension zu Band 1 „Preisgegeben“

Arne Dahl | Stummer Schrei

Arne Dahl | Stummer Schrei

Von einer Anhöhe wid durch ein Fernglas das zweite Überholmanöver verfolgt. Vor allem, was mit dem Wagen auf der linken Spur passiert. Er fängt Feuer, der Fahrer verliert die Kontrolle und schert in der Kurve in die falsche Richtung aus, rast von der Autobahn und pflügt wie ein Feuerball durch das goldgelbe Rapsfeld. […]
Das Fernglas senkt sich in der einen Hand, der Fernzünder in der anderen.
Das Universum hört einen tiefen Atemzug.
Es hat begonnen. (Auszug E-Book Pos.77-85)

Es beginnt mit zwei Sprengstoffanschlägen. Zum einen auf den Wagen eines hohen Managers eines Stahlkonzerns, zum anderen eine Paketbombe auf den Chef einer renommierten Werbeagentur, der gerade eine Kampagne für mehrere Konzerne mit dem Schwerpunkt auf fossile Energien vorbereitete. Dann erhält Eva Nyman, Leiterin der kleinen Spezialeinheit NOVA in der schwedischen Kriminalpolizei, eine Art Bekennerbrief. In diesem wird auf die Zerstörung der Umwelt und des Klimas hingewiesen, verklausuliert sich der beiden Anschläge bekannt und weitere angekündigt. Doch was Eva Nyman sofort stutzig macht, ist der Duktus des Schreibens und eine bestimmte Formulierung. „Die Ruinen des Verfalls“ war eine der Lieblingsformulierungen ihres ehemaligen Vorgesetzten Lukas Frisell.

Frisell war bis vor etwa 15 Jahren im Dienst der Kripo, doch im Zuge eines fehlgeschlagenen Einsatzes, bei dem eine Geisel aufgrund seiner falschen Entscheidungen verstarb, hatte er den Dienst quittiert. Frisell arbeitete später als Dozent für Umwelt- und Klimaforscher an einer Fachhochschule, bevor er dann als Prepper in die Wälder ging und seitdem von der Bildfläche verschwunden ist. Nyman und ihr vierköpfiges Team fragen sich, ob Frisell sich weiter radikalisiert hat und nun als Klimaterrorist aktiv wird. Sie nehmen seine Spur auf und müssen tief in die schwedischen Wälder, um seiner habhaft zu werden. Doch gerade als sie ihn zur Verhör haben und er alles von sich weist, geschieht ein dritter Anschlag auf eine Serverfarm eines globalen Versandhändlers.

Arne Dahl ist schon einer der Veteranen der schwedischen Krimiszene. 1999 begann er seine Karriere als Krimiautor mit dem ersten Band der Serie um die Sondereinheit „A-Gruppe“ mit insgesamt elf Romanen, an die er auch in seiner zweiten Reihe um eine Europol-Ermittlungsgruppe anknüpfte. Nun beginnt er mit „Stummer Schrei“ wieder eine Reihe mit einer kleinen, hochintelligenten Ermittlungseinheit. Im Zentrum steht neben Eva Nyman und ihrer Einheit vor allem der ehemalige Polizist, ehemalige Forscher und Dozent, Spezialist für Überlebenstraining und Prepper Lukas Frisell. Ein undurchsichtiger Typ, intelligent, ignorant, Einzelgänger, lebt einerseits als Eremit im Wald, hat schon immer gegen den Raubbau an der Natur doziert, aber entsagt keinesfalls aller Technologie oder sonstigen Bedürfnissen. Was hat er mit den Anschlägen zu tun? Für meinen Geschmack kann der erfahrene Leser zu schnell seine Rolle in dem Ganzen erraten.

Ansonsten bietet Dahl eine souveräne Vorstellung. Die Figuren sind interessant (auch wenn das NOVA-Team schon übertrieben gute Polizisten sind), der Spannungsaufbau stimmt, das Ganze liest sich gut weg. Auch die Schauplätze sind gut gewählt, neben Stockholm geht der Autor auch in die Provinz und in die Tiefe der schwedischen Wälder. Dieses „Zurück zur Natur“ als eines der zentralen Themen des Romans ist gut gemacht, führt aber auch zu meinem größten Kritikpunkt am Roman. Das eigentliche Motiv (Vorsicht Spoiler) der Anschläge führt wieder von diesem Thema weg und ist für meinen Geschmack viel zu übertrieben und aufgeblasen. So gibt es von mir doch noch am Ende ein paar Abzüge. Insgesamt erhält der Leser aber souveräne Krimikost aus dem hohen Norden.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Stummer Schrei | Erschienen am 01.02.2023 im Piper Verlag
ISBN 978-3-492-07241-0
464 Seiten | 17,- €
Als E-Book: EAN 978-3-492-60641-7 | 14,99 €
Originaltitel: I cirkelns mitt | Übersetzung aus dem Schwedischen von Kerstin Schöps
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Stephen King | Holly

Stephen King | Holly

Holly Gibney, Privatermittlerin und Inhaberin der Detektei Finders Keepers bekommt den Auftrag, eine vermisste junge Frau zu finden. Penny Dahl, die Mutter, hat ihre Tochter Bonnie seit drei Wochen nicht mehr gesehen, die Polizei ist wegen der anhaltenden Corona-Pandemie überlastet. Holly beginnt ohne ihren Partner, den an Corona erkrankten ehemaligen Polizistin Pete Huntley, mit den Ermittlungen. Sie recherchiert in der Nähe des Ortes, an dem Bonnie zuletzt gesehen wurde und an dem nur ihr Fahrrad gefunden wurde. Am Sattel klebte lediglich ein Zettel: „Ich habe genug“. Holly befragt Zeugen, findet Hinweise und stößt in der Gegend auf weitere Vermisstenfälle in den letzten Jahren, welche ein ähnliches Muster aufweisen. Beweisen kann sie es noch nicht, weswegen sie auch erst mal die Polizei aus dem Spiel lässt und den Großteil der Ermittlungen allein erledigt.

Sie weiß, wer sie beide sind und dass Roddy und Em sie nicht gehen lassen können, weil man sie sonst wegen Entführung verhaften würde (was nur einer von vielen Anklagepunkten wäre), aber trotzdem hat sie weder zu verhandeln versucht noch gebettelt. Nur dieser Hungerstreik. Wie sie Em gesagt hat, würde sie breitwillig einen Salat essen, aber das kommt absolut nicht infrage. Ein Salat, ob mit oder ohne Dressing, ist kein Sakrament. Fleisch ist ein Sakrament. Leber ist ein Sakrament. (Auszug Seite 83)

Als Leser*in weiß man allerdings von Anfang an, was passiert ist. Denn jedes zweite Kapitel des 630 Seiten starken Romans ist aus der Sicht eines bereits emeritierten Professorenpaares geschrieben. Emily und Rodney Harris sind ein altes Ehepaar, als Akademiker gehören sie der bürgerlichen Oberschicht an. Miteinander gehen sie sehr liebevoll um. Aber die durchgeknallte Professorin für Englische Literatur und der Biowissenschaftler sind Rassisten und homophob. Sie geben sich als hilflose alte Menschen, die ein Problem mit dem Rollstuhl haben. Gutmütige Helfende finden sich bald im Keller der Harris in einem Stahlkäfig wieder. Der Autor macht von Anfang an klar, um was es geht. Ich möchte das aber hier nicht spoilern. Die Entführungen der Opfer spielen sich immer wieder in der gleichen Weise ab, es gibt keine Überraschungen, keine Twists.

„Holly“ ist bereits der sechste Roman, in dem die Protagonistin Holly Gibney vorkommt. Wir begegneten ihr zuerst 2014 in „Mr. Mercedes“ als beliebte Nebenfigur. Stephen King scheint sich in die eigentlich als schrullige Statistin gedachte Figur verliebt zu haben. Nach der gesamten Bill-Hodges-Trilogie hatte sie Auftritte in „Der Outsider“ sowie in dem Kurzgeschichten-Band „Blutige Nachrichten“. Jetzt ist die Neurotikerin mit Zwangsstörungen und Marotten die Hauptfigur in einem Crime-Thriller, der ganz ohne übernatürliche Elemente auskommt. Dabei befindet sie sich in ihrer Spleenigkeit und ihren Verhaltensauffälligkeiten in guter alter Detektivtradition. In dieser klassischen Ermittlergeschichte baut sich der Schrecken allmählich auf, die Spannung entsteht, zu verfolgen, wie Holly Spuren findet und die ganze Dimension des Grauens erkennt.

Stephen King glänzt auch hier wieder mit seinen schriftstellerischen Qualitäten, findet in knappen Worten beeindruckend plastische Bilder in vielen stimmigen Passagen und hat seine Charaktere immer fest im Blick. Was ich nicht so gelungen fand, war das simplifizierte Bild von Gut und Böse. Seine Welt ist einfach strukturiert ohne jegliche Grautöne. Wenig subtil gibt es die Covidleugner, die Trump-Wähler, die alle rassistisch oder zumindest dumm sind. Dagegen die Guten, die mindestens doppelt geimpft sind und ständig Maske tragen und Körperkontakte vermeiden.

Der amerikanische Autor hat den Roman 2021 während des Lockdowns geschrieben und deshalb fehlt auch nicht der für King typische Blick aufs Weltgeschehen. Die Handlung spielt sich während der Pandemie ab, dominiert jedes Kapitel und thematisiert auch die tiefen Gräben zwischen Impfgegnern und Befürwortern. Das muss man mögen, mich hat es nicht groß gestört, es war vielleicht noch zu früh. Die Menschen begrüßen sich mit Ellbogencheck, stellen sich mit Namen vor und mit welchen Impfstoff sie versehen sind. Hollys Mutter, auch eine Corona-Leugnerin ist an Covid verstorben und der Roman beginnt mit ihrer Beerdigung in Form einer Zoom-Konferenz.

Dann gibt es noch eine Nebenhandlung, in der die junge Barbara Robinson ihren Weg von der unbekannten Verfasserin von Gedichten zur Preisträgerin amerikanischer Lyrik macht, während ihr Bruder Jerome zeitgleich zum Bestsellerautor aufsteigt. Dieses rührende Künstlermärchen war nicht nur dramaturgisch total entbehrlich sondern auch teilweise sehr kitschig garniert mit Phrasen. Und was ist eigentlich mit „Show, don’t tell“? Die Analogie zu Amanda Gorman, um nur ein Beispiel zu nennen, wird selbst angesprochen, ohne dass wir diese selbst ziehen können. Als wenn King diese Schlussfolgerungen seinen Leser*innen nicht zutraut. 2024 soll tatsächlich der nächste Roman erscheinen, wieder mit Holly Gibney und ihrer Gang.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Holly | Erschienen am 20.09.2023 im Heyne Verlag
ISBN 978-3-45327-433-4
640 Seiten | 28,- €
Originaltitel: Holly | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Bernhard Kleinschmidt
Bibliografische Angaben & Leseprobe

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