Kategorie: Kriminalroman

Jurica Pavičić | Mater Dolorosa

Jurica Pavičić | Mater Dolorosa

Sie lief nach draußen, an die frische Luft, in die belebende Kälte, nur weg von den Menschen. Sie lief nach Hause, und durch ihren Kopf wirbelten grausame Bilder von dem ,was sie gerade gehört hatte. Sie dachte an Schnitte und Würgemale. Und ihr ging es besser. Denn eins wusste sie: Das konnte nicht Mario gewesen sein. Denn so etwas hatte Mario nicht in sich. Er hatte keinen Funken Aggression oder Böses in sich. Und das wusste jeder, der Mario gut kannte, so gut wie sie. (Auszug E-Book, S. 147)

Im kroatischen Split wird in einer alten Industriebrache die Leiche einer jungen Frau gefunden. Sie war vorher mit einer Freundin in einem Club, hatte sich offenbar mit ihrem späteren Mörder dort verabredet. Doch niemand hat den Mörder gesehen, lediglich der Autotyp wird identifiziert. Der Ermittlungsdruck der Polizei ist groß, über das Fahrzeug gerät ein aktenkundiger Sexualtäter ins Visier. Doch obwohl er extrem unter Druck gesetzt wird, gesteht er nicht und eindeutige Indizien, die ihn mit der Tat in Verbindung bringen gibt es nicht. Der junge Ermittler Zvone verfolgt währenddessen eine ganz andere Spur. Er vermutet den Täter im Bekanntenkreis. Durch gewisse Indizien verdichtet sich sein Verdacht auf eine Person.

Als die Polizei ein blutiges Kleidungsstück und ein abgerissenes Stück einer Tasche dem Täter zuordnet und der Öffentlichkeit präsentiert, können es Katja und ihre erwachsenen Tochter Ines kaum fassen. Diese Dinge gehören ihrem Sohn bzw. Bruder Mario und weitere Beweisstücke hat er noch zu Hause. Dies bringt die Familie vor eine riesige Zerreisprobe, während die Mutter alles verdrängt und Mario schützen will, hadert Ines mit sich, ob sie die Familie oder den Verrat zugunsten der Gerechtigkeit wählt.

Ich habe Jurica Pavičić als Autor vor einigen Jahren mit seinem Roman „Die Zeugen“ kennengelernt, später habe ich auch „Blut und Wasser“ von ihm gelesen. Beides überzeugende Roman, die sich in einem Grenzbereich zwischen Roman und Kriminalroman befinden. Pavičić legt zumeist einen Kriminalfall seinen Romanen zugrunde, verweigert sich dann aber den üblichen Schemeta, sondern beleuchtet die einzelnen Figuren und ihm gelingt darüber auch ein gesellschaftliches Panorama. So auch in „Mater Dolorosa“: Der Tod einer jungen Frau ist das Vehikel, um drei Personen näher zu kommen. Zvone, der junge Ermittler, der mit seinem verwitweten, kriegsversehrten Vater zu Hause lebt und als einziger Polizist die Spuren richtig deutet und die Identität des Mörders errät. Doch es fehlen die Beweise und niemand belastet den Täter. Wie weit will er gehen, um der Gerechtigkeit genüge zu tun? Ines, die Schwester des Mörders, der langsam klar wird, dass ihr Bruder der Täter ist und die irritiert ist, wie die Familie damit umgeht und zweifelt, ob sie ihren Bruder decken soll. Mehr noch, als herauskommt, dass sie mit ihrem verheirateten Chef eine Affäre hat, ist sie plötzlich überall unten durch und in der Defensive. Katja, die Mutter des Täters, gläubig, ist die „schmerzensreiche Mutter“. Sie ignoriert das Offensichtliche, will die Tat des Sohnes unbedingt unter den Teppich kehren, hat aber gleichzeitig kein Verständnis für ihre Tochter.

Pavičić schreibt die Geschichte abwechseln aus den Perspektiven der drei Hauptfiguren. Der Mörder, Mario, erscheint nur am Rande als antriebslose Person. Eine vollständige Aufklärung findet nicht statt, es gibt kein Geständnis, dennoch sprechen Indizien eine eindeutige Sprache. Doch das ist hier nicht entscheidend, denn die inneren Konflikte der drei Protagonisten zwischen Familie, Loyalität, Gerechtigkeit und Verrat sind entscheidend. Zudem scheinen die Konflikte in der kroatischen Gesellschaft durch, soziale Unterschiede, die Rolle der Frau, Spannungen zwischen alt und jung, die perspektivarme Generation der Kriegsveteranen, die immer noch bestehende Macht der Kirche – all das flechtet der Autor gekommt in diesen Roman ein. Er erinnert mich dabei an die ebenfalls von mir sehr geschätzte argentinische Autorin Claudia Piñeiro. „Mater Dolorosa“ ist ein in der Grundstimmung sehr melancholischer Roman, der zeigt, wie vielseitig das Krimigenre sein kann, und aus meiner Sicht unbedingt empfehlenswert.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Mater Dolorosa | Erschienen am 22.01.2025 im Verlag Schruf & Stipetic
ISBN 987-3-944359-81-6
356 Seiten | 16,90 €
als E-Book: ISBN 987-3-944359-91-5 | 12,99 €
Originaltitel: Mater Dolorosa | Übersetzung aus dem Kroatischen von Blanka Stipetic
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Weitere Rezensionen auf dem Blog zu Romanen von Jurica Pavičić

 

Holger Karsten Schmidt | Finsteres Herz (Band 2)

Holger Karsten Schmidt | Finsteres Herz (Band 2)

Seit langem ist Holger Karsten Schmidt einer der erfolgreichsten Drehbuchautoren in Deutschland. Der mehrfache Grimme-Preisträger und Fernsehkrimi-Preisträger (u.a. Für „Mord in Eberswalde“) hielt sich lange Zeit mit Romanveröffentlichungen zurück. Der große Erfolg auch auf diesem Segment stellt sich mit der Reihe „Lost in Fuseta“ ein, die er unter dem Pseudonym Gil Ribeiro verfasst. Mitten in diese erfolgreiche Reihe fiel 2020 der Roman „Die Toten von Marnow“ samt dazugehörigem Drehbuch und erfolgreichem TV-Mehrteiler (ebenfalls Gewinner des Deutschen Fernsehkrimipreises). In diesem Roman, angesiedelt in Mecklenburg-Vorpommern, ermitteln die Kommissare Lona Mendt und Frank Elling in mehreren Morden, die offenbar in Zusammenhang mit Medikamententests westdeutscher Pharmafirmen in der ehemaligen DDR stehen. Schmidt hat sich eine Fortsetzung offengelassen und veröffentlichte nun einen zweiten Band – „Finsteres Herz“. Die TV-Ausstrahlung erfolgt ab dem 07.12.2024.

Lona erspürte das Erstarren Sarahs direkt neben sich. Als wäre das Mädchen binnen eines Wimpernschlags erfroren. Selbst seine Gesichtsmuskeln wirkten versteinert.
Lona sah, wie sich ein dunkler Fleck im Schritt der kleinen Zeugin bildete, der sich ausbreitete. Genau der Moment, in dem Bennat von Elling zu Sarah schaute und es ebenfalls bemerkte. (Auszug E-Book Pos. 189)

Mit einem Paukenschlag führt der Autor in diesen Roman ein: Silvester 2006. Ein Ferienhaus im Schnee an einem Mecklenburger See. Ein Zeugenschutzhaus. Lona Mendt, Frank Elling und ihr Chef Mertens betreuen drei Zeugen im Zusammenhang mit Menschenhandel und mehreren Morden, darunter die 12jährige Sarah aus Bulgarien. An diesem Tag sollen die Zeugen eine Aussage bei einer Richterin in Rostock machen. Dazu werden sie von einem Fahrdienst der Bereitschaftspolizei abgeholt. Doch mitten in der Abholung merkt die junge Zeugin, dass dies keine echten Polizisten sind. Es kommt zu einem mehrminütigem Schusswechsel, bei dem am Ende zwei Zeugen und Mertens sowie mehrere Angreifer tot sind, Mendt und Elling schweben am Rande des Todes. Doch es ist ihnen dennoch geglückt, dass Sarah fliehen konnte. Nun sucht nicht nur die Polizei nach der jungen Zeugin.

Staatsanwalt Rost beauftragt Hagen Dudek vom LKA und Maja Kaminski von der Bundespolizei mit den weiteren Ermittlungen. Es gibt offensichtlich ein undichte Stelle bei der Rostocker Polizei und Mendt und Elling hatten in weiser Voraussicht offizielle dienstliche Unterlagen über die Zeugen vernichtet. Zudem befinden sich beide im künstlichen Koma. Dudek und Kaminski müssen die Ereignisse ganz von vorne aufrollen, aber gleichzeitig stehen sie unter engem Zeitdruck, Sarah als erste zu finden.

Das Besondere an diesem Kriminalroman ist die Konstruktion der zeitlichen Ebenen. Der Leser verfolgt nicht nur die Ermittlungen von Dudek und Kaminski in weiterer chronologischer Reihenfolge (wobei bald klar wird, dass einer der beiden seine eigende Agenda verfolgt), sondern der Autor springt auch einige Wochen vor die Silvesternacht zurück und schildert die Ermittlungen von Mendt und Elling, die zu dieser Situation geführt hat. Da sich Dudek und Kaminski auf Mendts und Ellings Spuren bewegen, kommt es dazu, dass innerhalb weniger Buchseiten dieselben Zeugen befragt werden. Diese zeitlichen Sprüngen sind ungewöhnlich, machen aber einigen Reiz an diesem Roman aus.

Schmidt gelingt ein wirklich starker Kriminalroman, der nicht nur mit einem aktuellen Thema wie dem Kampf gegen organisierten Menschenhandel und der schwierigen Rolle der Ermittlungsbehörden punktet, sondern insgesamt einen sehr durchdachten Spannungsaufbau abliefert. Traditionell als Drehbuchschreiber sind die Dialoge sehr überzeugend und nicht zuletzt beeindruckt auch nebenbei die akribische Zeichnung der wichtigsten Figuren, deren private Dinge sich harmonisch in die Story einfügen. Was den deutschsprachigen Kriminalroman betrifft, ist „Finsteres Herz“ mit Sicherheit einer der Highlights diesen Jahres.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Finsteres Herz | Erschienen am 10.10.2024 im Verlag Kiepenheuer & Witsch
ISBN 978-3-462-00616-2
464 Seiten | 17,- €
E-Book: ISBN: 987-3-462-31245-4 | 14,99 €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Gunnars Rezension zu „Die Toten von Marnow“

Seichō Matsumoto | Tokio Express

Seichō Matsumoto | Tokio Express

Vielleicht lag es am Zigarettenrauch, jedenfalls blinzelte Yasuda ein wenig. „Und wer hätte ahnen können, dass es für die beiden eine Reise in den Tod war. Es ist ein Jammer. Aber es zeigt wieder einmal, dass man auch in der Liebe maßvoll sein sollte, nicht wahr?“ (Auszug Pos. 883 von 1999)

An einem kalten Wintermorgen in den 50er Jahren werden in Südjapan, genauer in der Bucht von Hakata, die Leichen eines Mannes und einer Frau gefunden. Man vermutet ein junges Paar, es gibt keine Anzeichen für Gewalteinwendung, sie liegen friedlich, ordentlich drapiert nebeneinander. Bei den Toten handelt es sich um Toki, eine junge Serviererin aus einem Tokioter Restaurant namens Koyuki und Kenichi Sayama, den Untergebenen eines Ministerialbeamten, gegen den wegen Korruption ermittelt wird. Der Bestechungsskandal füllt aktuell die Schlagzeilen. Aufgrund der Tatsache, dass beide mit Zyankali vergiftet wurden, geht man von Doppelselbstmord eines Liebespaares aus. Außerdem hatten Augenzeugen gesehen, wie sie gemeinsam am Bahnhof Tokio in einen Zug stiegen. Das erfährt der Leser in einem kurzen Eröffnungskapitel, dessen Bedeutung wir erahnen aber noch nicht richtig einordnen können.

Ein kalter Platz zum Sterben
Dem erfahrenen Kommissar Jūtarō Torigai von der örtlichen Polizei fallen jedoch einige Ungereimtheiten auf, die ihm keine Ruhe lassen. Es gibt keinen Abschiedsbrief und niemand schien von der Beziehung zwischen Toki und Kenichi gewusst zu haben. Die Tage vor dem gemeinsamen Suizid verbrachten sie anscheinend getrennt und eine Quittung deutet darauf hin, dass Sayama allein im Zugrestaurant speiste. Aus Tokio reist zur Unterstützung der junge Polizist Kiichi Mihara an, der genau wie Torigai nicht recht an die Theorie des Selbstmordes glauben will. Mit Informationen von Torigai beginnt Mihara, die Todesfälle zu untersuchen und wir Leser begleiten ihn dabei, wie er aus verschiedenen Blickwinkeln versucht herauszufinden, was genau in dieser Nacht am Strand passiert ist.

Beide Kommissare lässt der Fall nicht los, aber Seichō Matsumoto ändert jetzt seine Erzählperspektive und konzentriert sich ganz auf die Sicht von Kiichi Mihara. In den Fokus der Ermittlungen gerät Tasuo Yasuda, ein Unternehmer, der seine Geschäftspartner, oft hohe Beamte regelmäßig ins Koyuki führt, das für seine Vertraulichkeit bekannt ist. Die Ermittlungen konzentrieren sich schon bald darauf, mit welchen Zügen Sayama und Toki unterwegs waren. Entscheidend für die Lösung des vertrackten Falles ist die Pünktlichkeit der Züge, der Plot würde in Deutschland zur jetzigen Zeit auf keinen Fall funktionieren. Es existiert nur ein kleines Zeitfenster von vier Minuten, das für die Lösung des Falles wichtig wird.

Die Augenzeugen hatten auf jeden Fall auf dem Bahnsteig von Gleis dreizehn gestanden, der Tokio-Express fuhr aus Gleis fünfzehn. War die Sicht etwa nur in dem kurzen Intervall, in dem sie Sayama und Toki in den Zug hatten steigen sehen, frei gewesen? (Auszug Pos. 784 von 1999)

Der Lesende verfolgt Mihara bei seinen Recherchen und bewertet seine logischen Schlussfolgerungen. Die Ermittlungen gestalten sich kleinteilig, es werden Zug- und Kurspläne studiert, Ticketkontrolleure, Hoteliers und Gäste als Zeugen hartnäckig, aber sehr höflich befragt.

Lückenlose Alibis und falschen Spuren
Tokio Express ist Kriminalliteratur ganz klassischer Prägung im Stil von Agatha Christie oder Simenons Maigret. Der Erzählstil ist ruhig, wenig rasant und steht in der Tradition klassischer Rätselkrimis. Trotzdem gerät man in den Sog der Geschichte und verfolgt gebannt den Detektiv bei seiner akribischen Spurensuche.

Der Klassiker aus den 1950er Jahren konzentriert sich auf die Verbrechen und deren Aufklärung und wenig auf die Charakterisierung der Figuren. Die sachlich-nüchterne Erzählweise ist typisch für den japanischen Raum, bei der wir von Emotionen und Ausbrüchen verschont bleiben. Man erfährt nicht viel von den Ermittlern, sie bleiben gesichtslos. Auch die von Mihara befragten Verdächtigen und Zeugen stehen nie im Mittelpunkt, noch geht der Autor auf ihre Persönlichkeiten ein. Dazu passt, dass das Buch nicht nur zwei Karten, sondern auch Skizzen von zeitlichen Abläufen enthält. Ein Krimi, der eher durch Komplexität auffällt als durch Brutalität oder Action. Bis zum Schluss wird die Spannung gehalten, bevor die Lösung in einem Briefwechsel präsentiert wird. Der Roman hat knackige 208 Seiten und ist damit aufs Wesentliche reduziert.

„Tokio Express“ erschien bereits Ende der 1950er Jahre und wurde zeitgleich unter dem Titel „Spiel mit dem Fahrplan“ in der DDR veröffentlicht. Diese Übersetzung wurde jetzt vom Kampa-Verlag durch Mirjam Madlung neu überarbeitet.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Tokio Express | Erstmals erschienen 1958
Die Neuauflage erschien am 22.08.2024 im Kampa Verlag
ISBN  978-3-311-12093-3
208 Seiten | 22,00 €
Originaltitel: ‎ 点と線 („Ten to sen“) | Übersetzung aus dem Japanischen von Edith Shimomura, Kim Buccie und Mirjam Madlung
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Rezensions-Doppel Christoffer Carlsson | Was ans Licht kommt & Wenn die Nacht endet (Band 2 & 3)

Rezensions-Doppel Christoffer Carlsson | Was ans Licht kommt & Wenn die Nacht endet (Band 2 & 3)

Der schwedische Autor Christoffer Carlsson ist der neue Shootingstar der renommierten schwedischen Krimiszene. Geboren in Halmstad an der schwedischen Westküste, eine Landschaft auf die er später in seiner aktuellen Romanreihe zurückkommt. Er ist studierter Kriminologe, widmete sich aber schnell nach seinem Studium der (Kriminal)-Literatur. Direkt sein Krimidebüt „Der Turm der toten Seelen“ wurde 2013 mit dem schwedischen Krimipreis ausgezeichnet, weitere Auszeichnungen folgten. Carlsson wurde mir mehrfach empfohlen, zuletzt der zweite Roman der „Halland“-Reihe „Was ans Licht kommt“. Kurz danach hatte ich Gelegenheit, auch den dritten Band „Wenn die Nacht endet“ zu lesen, somit gibt es an dieser Stelle eine Doppelrezension.

Was ans Licht kommt

Die Geschichte wird in mehreren Zeitebenen von einem Ich-Erzähler erzählt, einem Schriftsteller, der in einer kleinen Lebenskrise sich wieder nach Halland in die alte Heimat begibt, um dort einen True-Crime-Roman zu verfassen. Er wählt die Geschichte des Mordfalls Stina Franzén aus und die Obsession des örtlichen Polizeibeamten Sven Jörgensson, den Mörder zu finden. Der Mordfall ereignet sich am späten Abend bzw. in der Nacht des 28. Februar 1986. Für alle Schweden ein JFK-Moment, denn an diesem Abend wird Ministerpräsident Olof Palme von einem Attentäter erschossen. Der Palme-Mord überschattet den Fall in der Provinz. Der zuständige Beamte Jörgensson erhält einen anonymen Anruf vom Täter, in dem dieser weitere Taten ankündigt. Tatsächlich verschwindet kurz darauf wieder eine junge Frau, Frida Östmark. Doch sie bleibt verschwunden, wie auch lange der Täter. Sven Jörgensson wird schließlich krank über der Suche und vererbt seine Obsession schließlich an seinen Sohn Vidar, ebenfalls Polizist.

Durch diese Notizen sah Vidar seinen Vater in einem deutlicheren Licht, als er in jemals auf der anderen Seite des Küchentischs, am anderen Ende des Sofas oder neben sich im Auto gesehen hatte. Manche Verbrechen weichen nicht vom Fleck, ehe sie aufgeklärt sind. Und scheitert man, wird es einen für alle Zeiten prägen.
Was hier oben geschehen war, hatte seinen Vater regelrecht aufgezehrt. (Auszug Seite 308)

Das große Motiv des Romans ist das Scheitern, den Opfern durch Aufklärung eines Kriminalfalls Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, das vergebliche Mühen nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Sühne. Das Ganze bereitet Carlsson unglaublich präzise auf, in dem er die Geschichte von Vater und Sohn Jörgensson erzählt, die alles tun, um Gerechtigkeit herzustellen und doch dabei scheitern. Der Vater bezahlt es sogar mit Krankheit und Tod. Dabei schwelt neben den Fällen im ländlichen Halland immer der große Palme-Fall im Hintergrund, der das Vertrauen der schwedischen Bevölkerung in Polizei und Justiz fundamental erschüttert hat.

Christoffer Carlsson bedient sich dabei einer sehr klugen Gesamtkomposition mit einer cleveren Rahmenhandlung, in der der Autor als Ich-Erzähler letztlich selbst zum Ermittler wird und am Ende eine weitere Pointe dem Roman hinzufügt. Ein herausragender Kriminalroman, der sehr versiert und mit leiser Sohle Hintergründe, gesellschaftliche Stimmungen und die Psychologie der Figuren offenlegt.

Wenn die Nacht endet

Vidar Jörgensson begegnet uns auch im dritten Halland-Roman, wenn auch erst recht spät in der Geschichte. Diese beginnt im Dezember 1999, kurz vor der Jahrtausendwende. Die Jugend Hallands bereitet sich auf große Festivitäten vor, die ältere Bevölkerung ist teilweise leicht hysterisch, hebt in Sorge vor dem Millenniumscrash das Ersparte von der Bank ab. In einer Nacht in den Weihnachtstagen kommt es im Dorf Skavböke zu einer tragischen Nacht: Nach einer Party wird der 18jährige Mikael Söderström erschlagen aufgefunden, gleichzeitig wurde das Ersparte einer Bauernfamilie geraubt. Das Dorf ist erschüttert, der Verdacht liegt nahe, dass der Täter einer der weiteren Jugendlichen ist. Ins Visier gerät ein ungleiches Freundespaar: Killian Persson und Sander Eriksson. Weitere tragische Ereignisse erschüttern in den nächsten Wochen im wahrsten Sinne des Dorf. Doch erst zwanzig Jahre später kommt die Wahrheit über die Ereignisse von damals als Licht.

Als man aufwuchs, waren die Wege und Pfade so selbstverständlich wie die Menschen, die alten Steinmauern und die Häuser. Die Welt ringsum war schon immer da gewesen, und so würde es immer bleiben. […] Es gab kein Ende, und es war unmöglich, dass etwas oder jemand eines Tages nicht mehr existieren, nicht mehr da sein sollte.
Dann holte der Tod Mikael, und alles veränderte sich. (Auszug E-Book Pos. 886)

Auch dieser Roman zeugt von der enormen Fähigkeit Carlssons, in die Psychologie seiner Figuren einzutauchen. Das Buch erzählt von der Jugend und dem (manchmal abrupten) Erwachsenwerden, von Freundschaft, Verrat, Schuld und Vergebung. Und wieder schwingt im Hintergrund auch eine gesellschaftliche Komponente mit. Für meinen Geschmack war dieser Roman manchmal eine Spur zu langsam erzählt. Zudem bringt Jörgensson hier einige Wendungen bzw. Zufälle, die mir einen Tick too much waren. Dennoch wiederum ein guter Roman des schwedischen Autors und auch in der Form des Regionalkrimis eine wohltuende Alternative zum schematisch gewordenen Nordic Noir.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Was ans Licht kommt | Die aktuelle Taschenbuchausgabe erschien am 12.09.2023 im Rowohlt Verlag
ISBN 978-3-86648-701-7
492 Seiten | 14,- €
Originaltitel: Brinn mig en sol | Übersetzung aus dem Schwedischen von Ulla Ackermann
Bibliografische Angaben & Leseprobe
Wertung: 4,5 von 5

Wenn die Nacht endet | Erscheinen am 14.05.2024 im Kindler Verlag
ISBN: 978-3-463-00061-9
464 Seiten | 24,- €
Originaltitel: Levande och döda | Übersetzung aus dem Schwedischen von Ulla Ackermann
Bibliografische Angaben & Leseprobe
Wertung: 3,5 von 5

Weiterlesen: Kurts Rezensionen der Leo-Junker-Reihe von Christoffer Carlsson

Fred Vargas | Jenseits des Grabes (Band 10)

Fred Vargas | Jenseits des Grabes (Band 10)

Das Schloss Combourg in der Bretagne, in dem der große Schriftsteller François-René de Chateaubriand seine Kindheit verbrachte, ist eine Touristenattraktion, samt Schlossgespenst, denn der seit drei Jahrhunderten tote Graf von Combourg soll zu bestimmten Zeiten erscheinen, manchmal auch nur sein Holzbein alleine mit einer schwarzen Katze.

Vorboten des Todes
Als in dem in der Nähe liegendem malerischem Örtchen Louviec nachts ein Klopfen, angeblich die hinkenden Schritte eines Geistes, vernommen werden, ist die Gemeinde alarmiert. Denn nach einer jahrhundertalten Dorflegende kündigt der Hinkende Unheil an. Und tatsächlich wird am nächsten Tag der Wildhüter des Ortes auf offener Straße mit einem teurem Messer erstochen.

„Ich gehe davon aus, dass jemand die Gelegenheit der Rückkehr des Hinkenden nutzte, um eine persönliche Rechnung mit diesem Gaël zu begleichen. Ich begreife trotzdem nicht, wieso diese Geschichte Sie dermaßen fasziniert.“ „Ich weiß es nicht, Danglard“, brachte Adamsberg es auf seine ewige Formel. (Auszug Seite 13)

Also verschlägt es den Pariser Kommissar Adamsberg und ein Teil seiner Brigade in die Bretagne, wo er sich mit seinem örtlichen Kollegen Matthieu an die Aufklärung macht. Aufgrund letzter Worte, die das Opfer noch stammeln konnte, gerät Josselin de Chateaubriand, ein weit entfernter Nachfahre des großen Vicomte, in den Kreis der Verdächtigen. Dieser lebt ganz bescheiden, aber aufgrund seiner frappierenden Ähnlichkeit mit dem Urahn muss er immer wieder für die lokale Tourismuswerbung herhalten. Es bleibt nicht bei dem einen Opfer und alsbald erschüttert eine Mordserie das Dorf. Kommissar Adamsberg hat wie immer ein Auge für Details, die anderen verborgen bleiben. Alle Leichen hatten frische Flohbisse. Und welche Rolle spielen die zerquetschten Eier, die alle Mordopfer in den Händen halten?

Gutes Essen und bretonischer Met
Hauptquartier für die Beamten ist der Gasthof „Zu den zwei Schilden“, wo der Koch Johan sich neben den Touristen auch noch um das leibliche Wohl seiner Gäste aus Paris kümmert. Selbst als Hilfstruppen von der Gendarmerie mit achtzig Mann anrücken, werden noch gut bestückte Picknickkörbe erstellt. Immer wenn man nicht weiter weiß, wird erst mal in der Gaststätte gegessen, beraten und Wein oder Chouchen, bretonischer Met, getrunken.

„Die Mitglieder ihrer Brigade mögen sich in schützendes Schweigen hüllen, doch von ihren vagen Gefühlen hat man schon Wind bekommen“, bemerkte der Generalsekretär kühl. „Versuchen Sie, sich diesmal nicht davon leiten zu lassen, seien Sie präzise, effizient und schnell. …“ (Auszug Seite 91)

Der letzte Kriminalroman um Jean-Baptiste Adamsberg „Der Zorn der Einsiedlerin“ liegt bereits 6 Jahre zurück. Und schon nach wenigen Seiten war ich wieder gefangen in dem Kosmos mit all den verschrobenen Figuren. Allen voran der eigenwillige Adamsberg, der anstatt auf systematische Ermittlungsarbeit mehr auf Intuition und gute Beobachtungsgabe setzt. Der nachdenkliche Chef nervt sein Team auch schon mal mit seiner unorthodoxen Sicht auf die Dinge, lässt seine Gedanken diesmal auf einem bretonischen Dolmen schweifen. Danglard muss in Paris bleiben, aber mit in der Bretagne sind unter anderem Lieutenant Violette Retancourt, die Göttin der Brigade, die zwar wenig anmutig über übertrieben atemberaubende Kräfte verfügt. Mercadet mit dem krankhaften Schlafbedürfnis, der sich als Informatiker jedoch schnell überall einhacken kann. Vargas Charaktere besitzen abstruse Eigenschaften im Übermaß, stehen aber mit beiden Füßen fest im Leben.

Fazit
Typisch Vargas ist der Krimi eine Mischung aus Whodunit um einen Serienmörder mit zahlreichen Verdächtigen und einem Märchen. Um die gesellschaftliche Situation in Frankreich einzufangen und Sozialkritik zu üben, bedient sich Fred Vargas an dem Stilmittel der Fabel. Sowohl verpackt sie ihre mit unübertroffenen Dialogen gespickte abstruse Handlung immer mit wissenschaftlichen Fakten und jeder Menge glaubhafter Polizeiarbeit, bei der Sonderkommandos eingerichtet, Anfragen gestellt und Hubschrauber geordert werden. Vielleicht nicht ganz so gut wie sein Vorgänger, mit einigen schon vertrauten Mustern, sei es die Vorliebe der französischen Autorin für kleines Getier, Mythologie oder die ausufernden Gastronomiebesuche ein unterhaltsamer, literarischer Roman mit originellen Szenarien und psychologisch überzeugenden Figuren.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Jenseits des Grabes | Erschienen am 08. Mai 2024 im Limes Verlag
ISBN 978-3-8090-2782-9
528 Seiten | 26,00 Euro
Originaltitel: ‎ Sur la dalle | Übersetzung aus dem Französischen von Claudia Marquardt
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Rezension zu Fred Vargas „Der Zorn der Einsiedlerin“