Stephen King | Holly
Holly Gibney, Privatermittlerin und Inhaberin der Detektei Finders Keepers bekommt den Auftrag, eine vermisste junge Frau zu finden. Penny Dahl, die Mutter, hat ihre Tochter Bonnie seit drei Wochen nicht mehr gesehen, die Polizei ist wegen der anhaltenden Corona-Pandemie überlastet. Holly beginnt ohne ihren Partner, den an Corona erkrankten ehemaligen Polizistin Pete Huntley, mit den Ermittlungen. Sie recherchiert in der Nähe des Ortes, an dem Bonnie zuletzt gesehen wurde und an dem nur ihr Fahrrad gefunden wurde. Am Sattel klebte lediglich ein Zettel: „Ich habe genug“. Holly befragt Zeugen, findet Hinweise und stößt in der Gegend auf weitere Vermisstenfälle in den letzten Jahren, welche ein ähnliches Muster aufweisen. Beweisen kann sie es noch nicht, weswegen sie auch erst mal die Polizei aus dem Spiel lässt und den Großteil der Ermittlungen allein erledigt.
Sie weiß, wer sie beide sind und dass Roddy und Em sie nicht gehen lassen können, weil man sie sonst wegen Entführung verhaften würde (was nur einer von vielen Anklagepunkten wäre), aber trotzdem hat sie weder zu verhandeln versucht noch gebettelt. Nur dieser Hungerstreik. Wie sie Em gesagt hat, würde sie breitwillig einen Salat essen, aber das kommt absolut nicht infrage. Ein Salat, ob mit oder ohne Dressing, ist kein Sakrament. Fleisch ist ein Sakrament. Leber ist ein Sakrament. (Auszug Seite 83)
Als Leser*in weiß man allerdings von Anfang an, was passiert ist. Denn jedes zweite Kapitel des 630 Seiten starken Romans ist aus der Sicht eines bereits emeritierten Professorenpaares geschrieben. Emily und Rodney Harris sind ein altes Ehepaar, als Akademiker gehören sie der bürgerlichen Oberschicht an. Miteinander gehen sie sehr liebevoll um. Aber die durchgeknallte Professorin für Englische Literatur und der Biowissenschaftler sind Rassisten und homophob. Sie geben sich als hilflose alte Menschen, die ein Problem mit dem Rollstuhl haben. Gutmütige Helfende finden sich bald im Keller der Harris in einem Stahlkäfig wieder. Der Autor macht von Anfang an klar, um was es geht. Ich möchte das aber hier nicht spoilern. Die Entführungen der Opfer spielen sich immer wieder in der gleichen Weise ab, es gibt keine Überraschungen, keine Twists.
„Holly“ ist bereits der sechste Roman, in dem die Protagonistin Holly Gibney vorkommt. Wir begegneten ihr zuerst 2014 in „Mr. Mercedes“ als beliebte Nebenfigur. Stephen King scheint sich in die eigentlich als schrullige Statistin gedachte Figur verliebt zu haben. Nach der gesamten Bill-Hodges-Trilogie hatte sie Auftritte in „Der Outsider“ sowie in dem Kurzgeschichten-Band „Blutige Nachrichten“. Jetzt ist die Neurotikerin mit Zwangsstörungen und Marotten die Hauptfigur in einem Crime-Thriller, der ganz ohne übernatürliche Elemente auskommt. Dabei befindet sie sich in ihrer Spleenigkeit und ihren Verhaltensauffälligkeiten in guter alter Detektivtradition. In dieser klassischen Ermittlergeschichte baut sich der Schrecken allmählich auf, die Spannung entsteht, zu verfolgen, wie Holly Spuren findet und die ganze Dimension des Grauens erkennt.
Stephen King glänzt auch hier wieder mit seinen schriftstellerischen Qualitäten, findet in knappen Worten beeindruckend plastische Bilder in vielen stimmigen Passagen und hat seine Charaktere immer fest im Blick. Was ich nicht so gelungen fand, war das simplifizierte Bild von Gut und Böse. Seine Welt ist einfach strukturiert ohne jegliche Grautöne. Wenig subtil gibt es die Covidleugner, die Trump-Wähler, die alle rassistisch oder zumindest dumm sind. Dagegen die Guten, die mindestens doppelt geimpft sind und ständig Maske tragen und Körperkontakte vermeiden.
Der amerikanische Autor hat den Roman 2021 während des Lockdowns geschrieben und deshalb fehlt auch nicht der für King typische Blick aufs Weltgeschehen. Die Handlung spielt sich während der Pandemie ab, dominiert jedes Kapitel und thematisiert auch die tiefen Gräben zwischen Impfgegnern und Befürwortern. Das muss man mögen, mich hat es nicht groß gestört, es war vielleicht noch zu früh. Die Menschen begrüßen sich mit Ellbogencheck, stellen sich mit Namen vor und mit welchen Impfstoff sie versehen sind. Hollys Mutter, auch eine Corona-Leugnerin ist an Covid verstorben und der Roman beginnt mit ihrer Beerdigung in Form einer Zoom-Konferenz.
Dann gibt es noch eine Nebenhandlung, in der die junge Barbara Robinson ihren Weg von der unbekannten Verfasserin von Gedichten zur Preisträgerin amerikanischer Lyrik macht, während ihr Bruder Jerome zeitgleich zum Bestsellerautor aufsteigt. Dieses rührende Künstlermärchen war nicht nur dramaturgisch total entbehrlich sondern auch teilweise sehr kitschig garniert mit Phrasen. Und was ist eigentlich mit „Show, don’t tell“? Die Analogie zu Amanda Gorman, um nur ein Beispiel zu nennen, wird selbst angesprochen, ohne dass wir diese selbst ziehen können. Als wenn King diese Schlussfolgerungen seinen Leser*innen nicht zutraut. 2024 soll tatsächlich der nächste Roman erscheinen, wieder mit Holly Gibney und ihrer Gang.
Foto und Rezension von Andy Ruhr.
Holly | Erschienen am 20.09.2023 im Heyne Verlag
ISBN 978-3-45327-433-4
640 Seiten | 28,- €
Originaltitel: Holly | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Bernhard Kleinschmidt
Bibliografische Angaben & Leseprobe
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