Kategorie: Andy Ruhr

Liz Moore | Der Gott des Waldes

Liz Moore | Der Gott des Waldes

Wenn das sein Junge wäre, der verschwunden war und mitten in der Nacht in dem kalten Wald herumirrte, vielleicht sogar verletzt irgendwo lag, dann wäre er, Carl, immer noch da draußen und würde nach ihm suchen. Er würde nicht aufhören, Bears Namen zu rufen, bis er selbst den Geist aufgab. (Auszug E-Book Pos. 2131 von 6988)

Hoch oben an der US-amerikanischen Ostküste in den dichten Wäldern der Adirondack Mountains liegt ein riesiges Naturreservat, bestehend aus einem dunklen Waldgebiet und einem großen See. Seit Generationen im Besitz der schwerreiche Familie Van Laar, die mitten im Reservat ein Sommer-Camp für Kinder der Oberschicht errichtet haben. Das elitäre Ferienlager bietet viele Aktivitäten in der Natur mit Lagerfeuer und nächtlichen Survivaltrainings im Wald.

Im Sommer 1975 verschwindet die 13-jährige Barbara aus dem Ferienlager. Die Betreuerin Louise findet morgens ihr Bett verlassen vor. Sie hat ein Problem, denn Barbara ist nicht nur die Tochter der Gründer-Familie Van Laar, die erstmalig am Camp unweit des imposanten Anwesens teilnimmt, sondern auch die Schwester von Bear, dem Jungen, der vor 14 Jahren spurlos verschwand. Zufall oder gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Verlust der beiden Geschwister, die beide während der jährlich stattfindenden, einwöchigen Party der van Laars verschwanden? Eine großangelegte Suchaktion läuft an. Hat es etwas mit dem Serienmörder Jacob Sluiter zu tun, der gerade jetzt aus dem Gefängnis ausbrechen konnte?

Die Suche nach der verschwundenen Barbara van Laar und die Ermittlungsarbeiten über mehrere Tage hinweg nehmen einen großen Raum ein. Empathisch und mit präzisem Blick schildert Liz Moore ein Familiendrama, das seinen Anfang schon viele Jahre vor dem aktuellen Verschwinden Barbaras nimmt. In Rückblicken erfahren wir nicht nur von dem traurigen Schicksal des 5-jährigen Bear van Laar, sondern gehen auch ins Jahr 1950 zurück, als seine damals 17-jährige Mutter Alice auf einem Debütantinnenball den reichen Peter van Laar kennenlernt. Diese Ereignisse nehmen eine zentrale Funktion in der Geschichte ein.

Der Plot wird nicht linear sondern aus mehreren Zeitebenen erzählt. Gekonnt und mit einem verlässlichen Gespür für Timing werden die Perspektiven gewechselt und der Überblick behalten. Man muss konzentriert bleiben, der Roman ist aufgrund des großen Personentableaus und vielen Zeitebenen komplex, aber nie kompliziert. Die Kapitel werden jeweils mit einem Namen und einem Zeitstrahl versehen, was die Zuordnung erleichtert, die Spannung aber kontinuierlich nach oben schraubt. Das ist souverän und mit großer Erzählfreude gemacht. Liz Moore arrangiert die Berichte diverser Figuren und verleiht dabei jedem seine eigene Stimme, Perspektive und Geschichte. Von der jungen Ermittlerin Judyta Luptack, die sich in der von Männern dominierten Kriminalpolizei durchsetzen muss bis hin zum Serienmörder Jacob Sluiter, von den Bewohnern des naheliegenden Dorfes bis hin zu den Campbewohnern und Angestellten der Familie Van Laar. Die Autorin nimmt sich viel Zeit für ihre Protagonisten, macht sie vielschichtig und zeigt mir ihre inneren Konflikte. Jede Figur hat ein weiteres Detail zum Gesamtbild hinzuzufügen, und je weiter die Erzählung vorangetrieben wird, desto neugieriger wird man und je mehr klebt man an den Seiten. Ein Roman, der für mich von Seite zu Seite immer besser wird, je mehr man erfährt.

„Mir fällt nur ein, dass niemand in dieser Familie das Mädchen mag, Barbara. Vernachlässigung würde ich das nennen. Bevor sie runter ins Ferienlager gegangen ist, ist sie immer in die Küche gekommen, um sich was zu essen zu holen. Hat immer ganz verloren gewirkt, und das in ihrem eigenen Zuhause…“. (Auszug Pos 4450 von 6988)

Ich mochte auch, wie subtil Moore hier gesellschaftliche Kritik verwebt. Alle Personen stellen unterschiedliche gesellschaftliche Schichten dar. Es wird schnell klar, dass reiche Familien wie die van Laars und ihre Freunde sich mit Geld eine Menge Macht erkaufen können, auch Verschwiegenheit. Es geht um die Privilegien des Geldadels, deren Skrupellosigkeit und Mangel an Empathie. Es geht auch um Klassenunterschiede, soziale Ungleichheiten und um die Rolle der Frau in der Gesellschaft der 50er und 70er Jahre.

Manchmal hatte Alice das Gefühl, dass sie so schnell einen Jungen bekommen hatte (und dann auch noch einen so wunderbaren), war das Einzige an ihr, womit ihr Mann zufrieden gewesen war. (Auszug Pos. 1577 von 6988)

Durch die bildhafte Sprache waren das Feriencamp und das raue Klima der dichtbewaldeten Landschaft vor meinen Augen lebendig, das Camp in mitten des Gebirges ein geniales Setting. „Long Bright River“ war ein Highlight für mich und obwohl die Themen in „Der Gott des Waldes“ nicht ganz neu sind, sorgte der mitreißende Schreibstil dafür, dass ich das Buch, welches auch auf der Sommerleseliste 2024 des ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama stand, nicht aus der Hand legen konnte. Ein richtig guter Schmöker, wie ich ihn schon lange nicht mehr gelesen habe.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Der Gott des Waldes | Erschienen am 28. Februar 2025 im Verlag C.H. Beck
ISBN 978-3-406-82977-2
590 Seiten | 26,00 Euro
Originaltitel: The God of the Woods | Übersetzung aus dem Englischen von Cornelius Hartz
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Die Meinung von Marius Müller auf buch-haltung.com zu „Der Gott des Waldes“

Jessica Knoll | Bright Young Women

Jessica Knoll | Bright Young Women

Der Mann öffnete die Tür und verschwand. Bei unserer nächsten Begegnung würde er Anzug und Krawatte tragen, sowohl Groupies als auch die New York Times auf seiner Seite haben, und auf die Frage nach meinem derzeitigen Wohnsitz wäre ich gesetzlich verpflichtet, ihm meine Privatadresse zu nennen. Einem Mann, der fünfunddreißig Frauen ermordet hatte und zweimal aus dem Gefängnis ausgebrochen war. (Auszug Seite 29)

In der Nacht zum 15. Januar 1978 dringt ein unbekannter Mann in ein Verbindungshaus auf dem Campus der Florida State University ein, misshandelt und tötet mehrere Studentinnen. Die Jura-Studentin Pamela Schumacher, Vorsitzende der Verbindung wird von Geräuschen wach und kann unbemerkt noch einen kurzen Blick auf den Täter werfen. Sie glaubt anfänglich sogar den Exfreund ihrer ermordeten Freundin Denise zu erkennen. Ein Irrtum, den sie sofort revidiert, der ihr aber später zum Verhängnis wird, da die Ermittlungen erst mal in die falsche Richtung gehen. Denn es handelt sich nicht um ein einzelnes Verbrechen. Der Täter ist ein Serienmörder, dem mehr als 30 Frauen zum Opfer fielen. Unzählige Ermittlungsfehler vereitelten über Jahre seine Verhaftung, bis er 1989 hingerichtet wurde, und seither in den Medien überhöht und glorifiziert wurde. Jessica Knoll nennt nicht einmal seinen Namen, ihr geht es um die Opfer und Überlebenden.

Pamela lernt Tina Gannon kennen, deren Freundin Ruth einige Jahre zuvor an einem heißen Sommertag von einem völlig überfüllten See verschwand. Tina ist davon überzeugt, dass Ruths Mörder auch für die Taten an Pamelas Kommilitoninnen verantwortlich ist, auch wenn Ruths Leiche nie gefunden wurde. Von den Behörden weitestgehend alleine gelassen, tun die beiden Frauen sich zusammen und stellen auf eigene Faust Nachforschungen an. Bei der Polizei und Justiz stoßen sie jedoch immer wieder auf Widerstände.

Fassungslos verfolgen wir, wie wenig Unterstützung die Überlebenden erhalten, wie Behörden und die Gesellschaft mit den Frauen umgehen, sie überhaupt nicht ernst nehmen. Der Täter ist noch auf freiem Fuß und die traumatisierten Studentinnen müssen wieder auf den Campus und in ihre Studentenzimmer zurückkehren. Es werden nur neue Schlösser besorgt und dazu der Tipp, sich nicht alleine mit jemandem zu treffen. Als der Killer schließlich gefasst wird und es zu einer Gerichtsverhandlung kommt, verteidigt sich der gescheiterte Jurastudent selbst.

Der Angeklagte selbst würde mich befragen. Anders konnte es nicht sein – denn für gewöhnlich sagte man vor Gericht aus oder wurde in einer Kanzlei von zugelassenen Anwälten befragt, die nicht dazu neigten, dutzende Frauen zu erschlagen. (Auszug Seite 346)

Der Roman ist raffiniert mit verschiedenen Perspektiven und Zeitsträngen konstruiert. Eine ist die Rahmenhandlung in der jetzigen Zeit. Die Ich-Erzählerin Pamela, aus deren Sicht wir weite Strecken des Buches erleben, versucht zeitlebens, das Trauma der Tatnacht zu verwinden. Als Vorsitzende der Verbindung fühlte sie sich für die Kommilitoninnen verantwortlich. Dann gibt es Rückblenden auf die grausamen Morde 1978 und eine dritte Perspektive erzählt aus der Sicht der ermordeten Ruth 1974. Das fand ich einen cleveren Kniff, macht es aber auch etwas sperrig. Man benötigt volle Konzentration und kann es nicht einfach so weg lesen. Die junge Frau lernen wir am besten kennen, verfolgen ihre Suche nach einer Rolle in einer von Männern dominierten Gesellschaft und ohne Unterstützung ihrer Eltern den Kampf für ein selbstbestimmtes Leben. Anhand Ruths nuancierter Darstellung spürt man die Kritik an den patriarchalen Strukturen der 70er Jahre.

Im Klappentext erfährt man, dass Jessica Knoll hier ein wahres Verbrechen fiktionalisiert und dass es sich bei dem amerikanischen Serienmörder um Ted Bundy handelt. Dieser ist Thema zahlreicher Bücher, Filme, Netflix-Dokus und Serien, wurde in den Medien gefeiert und glorifiziert. Sein gutes Aussehen und sein angeblicher Charme wurden zum zentralen Teil seiner Legende, auch um die Inkompetenz der Polizei zu verschleiern. Knoll stellt sich dem Personenkult des Täters entgegen. Ihr ist es wichtig ihn als gewöhnlichen Frauenhasser zu schildern. Sehr überzeugend versucht sie den Mythos des jungen, verführerischen Mörders zu demontieren. Indem sie die weibliche Gewalterfahrung in den Fokus rückt, gibt sie in ihrem Roman allen Opfern stellvertretend eine Stimme. Der Roman, eine Mischung aus True Crime und Thriller bietet eine wütende Auseinandersetzung mit der voyeuristischen Ausschlachtung der Morde und der Mystifizierung von Mord und Gewalt gegen Frauen mit gesellschaftskritischem und feministischem Ansatz.

Jessica Knoll ist eine amerikanische Bestsellerautorin, dessen Debütroman „Ich.Bin.So.Glücklich“ bereits von Netflix verfilmt wurde. Inspiriert zu ihrem Roman „Bright Young Women“ wurde sie durch die Geschichte von Kathy Kleiner, einer der wenigen Überlebenden der Mordserie, die auch im Prozess aussagte.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Bright Young Women | Erschienen am 25. Oktober 2024 im Eichborn Verlag
ISBN 978-3-84790-189-1
464 Seiten | 18,- Euro
Originaltitel: Bright Young Women | Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Jasmin Humburg
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Ivy Pochoda | Sing mir vom Tod

Ivy Pochoda | Sing mir vom Tod

Dios hatte recht – na und? Sie hatte tatsächlich alle darüber belogen, was an dem Abend wirklich passiert war. Alle außer Tina. Und das war ein Fehler gewesen, ein bedauernswerter Versuch in ihren ersten Tagen im Knast, härter rüberzukommen, als sie sich fühlte. (Auszug Seite 82)

In einem Frauengefängnis im heißen Arizona treffen Florence „Florida“ Baum und Diana Diosmary „Dios“ Sandoval aufeinander. Auf den ersten Blick könnten die beiden nicht unterschiedlicher sein. Auf der einen Seite Florida, Tochter aus reichem Hause, nach eigener Aussage nur durch einen Typen ins falsche Milieu abgerutscht. Dagegen Dios, Latina aus schwierigen Verhältnissen, hochbegabt, mit einem Stipendium an einem renommierten College. Die wegen schwerer Körperverletzung verurteilte Dios ist, warum auch immer, beherrscht von dem Wunsch, Florida zu demaskieren und ihre wahre Natur zum Vorschein zu bringen. Kommentiert wird die Story der beiden Kontrahentinnen von Kace, der psychotischen Zellengenossin von Florida. Sie ist davon überzeugt, die Seelen der getöteten Opfer in sich zu tragen und dass diese zu ihr sprechen. Ihre eigenen Opfer, aber auch die Opfer der anderen Insassinnen. Sie und diese Geister bilden eine Art griechischen Chor, der das Geschehen kommentiert.

Eine Welt, die sich verpisst hat
Überraschend werden Florida und Dios auf Bewährung aus dem überfüllten Knast entlassen und müssen wegen der Pandemie 14 Tage in einem schmuddeligen Motel in Quarantäne verbringen. Florida jedoch, einem plötzlichen Impuls folgend, verletzt ihre Bewährungsauflagen und steigt in einen illegalen Bus, der sie in ihre Heimat Los Angeles bringen soll. Keine gute Entscheidung und das nicht erst, als Dios plötzlich zusteigt. Der nun folgende Roadtrip, auf dem sich die Wege der beiden immer wieder kreuzen, entwickelt sich zu einem Fiasko, einer nicht enden wollenden Gewaltspirale. Hier kommt mit Detective Lobos eine dritte Figur ins Spiel, auch sie mit großer Wut beladen. Sie ist wütend auf sich selbst, hat sie es zugelassen, Opfer häuslicher Gewalt zu werden. Es gibt ein Kontaktverbot gegen ihren Ex-Mann, der sie aber immer wieder drangsaliert. Für mich die gelungenste Figur, deren Motivation ich nachvollziehen konnte. Wir kennen sie bereits aus „Diese Frauen“. Es beginnt ein gnadenloser Roadtrip durch geisterhaft leere Gegenden in Los Angeles. Die Obdachlosigkeit hat sich im pandemie-gebeutelten, dystopischen LA mittlerweile verschärft, Menschen leben in Zelten, die Zeltstadt hat sich bis nach Downtown ausgebreitet. Die Beschreibungen der menschenleeren Straßen haben etwas Apokalyptisches.

Es ist bloß eine Straße, die eine andere Straße kreuzt, leer wie der Rest der Stadt – undurchsichtige Fenster, verwaiste Parkplätze, verschwundene Läden. Eine Welt, die sich verpisst hat. (Auszug Seite 307)

Bitches mit Problemen
„Diese Frauen“ von Ivy Pochoda war ein großes Highlight für mich, daran kommt „Sing mir vom Tod“ nicht ganz heran. Durch den fordernden Schreibstil mit rotzigem Ton und unverblümte Sprache werden die Schicksale der Protagonistinnen schonungslos aufbereitet. Es gibt viele Wiederholungen des Erzählten, was auf Kosten der Dramatik geht. Ich musste mir das teilweise erarbeiten. Spannung entsteht, da man um den ungewissen Fortgang des ereignisreichen Trips bangt. Die ständigen Perspektivwechsel verwirren und der Grund für diese große Wut blieb mir verborgen. Die Entwicklung der Figuren hat mich wenig überzeugt, besonders das Seelenleben Dios blieb mir fremd. Auch die Darstellung des Gefängnisalltags und die Brutalität der Frauen untereinander sowie der übergriffigen Wärter fand ich zwar stimmig, war aber für mich kaum zu ertragen. Die Gewalt, hier vornehmlich unter Frauen, spielt eine große Rolle. Pochodas Thema ist die für sie irrtümliche Annahme in der Gesellschaft, dass Frauen nicht zu der gleichen Brutalität und Gewalt fähig sind wie Männer. Zumindest nicht ohne Grund und wenn dann nur als Reaktion. In der Literatur werden gewalttätige Frauen oft dargestellt als

Lady Killers. Femme Fatales. Schwarze Witwen. Thelma & Louise, Bitches mit Problemen. (Auszug Seite 166)

Das Cover mit den roten und gelben Farben strahlt eine flirrende, staubige Hitze aus und auch der Titel deutet auf eine Geschichte im Wilden Westen hin. Mit dem großen Showdown an einer leergefegten, vermüllten Straßenkreuzung, der sicher nicht zufällig an den großen Filmklassiker High Noon erinnert, schafft sie einige ikonische Bilder im Kopf. Eine Verfilmung könnte ich mir super vorstellen.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Sing mir vom Tod | Erschienen am 13. Januar 2025 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-5184-7462-4
328 Seiten | 17,00 Euro
Originaltitel: Sing Her Down | Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Stefan Lux
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Rezension zu „Diese Frauen“ von Ivy Pochoda

Volker Kutscher | Rath (Band 10)

Volker Kutscher | Rath (Band 10)

Und dann sagte er einen Satz, von dem er nicht gedacht hätte, dass er ihn jemals wieder sagen würde, aber er sagte ihn. „Eine Fahrkarte nach Berlin, bitte.“ (Auszug E-Book Pos. 3843 von 9095)

Diesen Satz sagt tatsächlich Gereon Rath im Herbst 1938. Der in Deutschland nach einer Schießerei für tot Erklärte, Charlotte erhält sogar eine Witwenrente, lebte zwei Jahre mit neuer Identität in den USA. Er verlässt mit seinem Bruder Severin Rath die USA, da sie ihren im Sterben liegenden Vater nicht alleine lassen wollen. Gereon taucht erst mal unter falschem Namen in Rhöndorf im Haus des ehemaligen Kölner Oberbürgermeisters Konrad Adenauer unter, einem Vertrauten seines Vaters. Er trifft sich einmal im Monat heimlich mit seiner Frau Charly und wartet nur auf den richtigen Moment, Deutschland gemeinsam Richtung USA zu verlassen. Doch Engelbert Rath stirbt nicht so schnell und Charly will Deutschland nicht ohne ihren ehemaligen Pflegesohn Friedrich Thormann verlassen.

Fritze steht unter Verdacht, zwei Hitlerjungen getötet zu haben und hat sich erst mal aus dem Staub gemacht. Charly kann das nicht glauben und als Angestellte der Privatdetektei Böhm macht sie sich selbst an die Aufklärung. Dazu muss sie erst mal Fritze finden. Zuvor war Hannah, seine jüdische Freundin bei einer Zwangssterilisation angeblich aufgrund unvorhersehbarer Komplikationen verstorben. Charly kehrt sogar wieder zur Kriminalpolizei zurück, die allerdings längst zum Handlanger der Gestapo geworden ist. Hier weiß sie nicht mehr, wem sie noch trauen kann. Jeder scheint jeden zu bespitzeln und es herrscht eine Atmosphäre von Misstrauen und Denunziation.

„Dann lassen Se uns mal anstoßen“, sagte er und hob sein Glas, „Auf die Jesundheit Ihres Herrn Papa und auf den Weltfrieden.“ „Da haben Sie recht, die haben’s beide nötig“, sagte Rath. „Beim Weltfrieden möjen Sie recht haben, aber um ihren Vater machen Se sich mal kejne Sorgen, der ist ein zäher Brocken.“ (Auszug E-Book Pos. 3233 von 9095)

Es dauert ganz schön lange, bis Gereon in der Geschichte auftaucht. Wie schon im Vorgängerband „Transatlantik“ spielt er nur eine untergeordnete Rolle und lange ist Charlotte Rath die Protagonistin. Erst als seine Ehefrau nicht mehr zu den heimlichen Treffen erscheint, macht er sich auf nach Berlin um sie zu suchen. Charly wurde aus unbekannten Gründen in ein Konzentrationslager gesteckt.

Der zehnte und finale Band ist weniger Krimi mit polizeilichen Ermittlungen und der Suche nach einem Mörder. Als Leser:in hat man auch schon relativ zügig einen Verdacht, wer der wahre Täter ist. Vielmehr spannt Kutscher die Fäden zwischen den bekannten Figuren, lässt einige aus dem Romanzyklus noch mal auftauchen und schildert anhand eines stimmigen Plots den Weg in eine Diktatur. Die Nazizeit und die Verstrickungen der Protagonisten in das NS-System nehmen einen immer breiteren Raum ein. Es gibt bedrückende Szenen einer Massendeportation von Juden und Jüdinnen an der polnischen Grenze, brutale Folterungen im Konzentrationslager bis zu den unmenschlichen Geschehnissen am 9. November 1938. Sehr eindrücklich werden die Ereignisse der antisemitischen Progromnacht mit brennenden Synagogen, zusammengeschlagenen und ermordeten Menschen geschildert. Schwer zu ertragen und folgerichtig endet die Reihe mit diesem Datum, denn die Progromnacht ist für den Autor der „Point of no Return“. Für ihn das Ende der Zivilisation, eine Grenze, die er als Schriftsteller nicht überschreiten kann, wie er oft in Interviews erklärte.
Dafür gelingt es ihm, die Atmosphäre dieser verrohenden Zeit bildhaft einzufangen und ohne erhobenen Zeigefinger darzustellen, wie sich die Stimmung im Land gegen Gegner jeder Art verdüstert und radikalisiert und auch die Faszination der Durchschnittsbürger für diese faschistische Ideologie einigermaßen greifbar zu machen.

Einige lose Fäden aus den vergangenen Bänden werden zusammen-, aber nicht alle Erzählstränge zu Ende geführt; einige bleiben offen. Aber man muss nicht endgültig von den liebgewonnen sowie verhassten Charakteren Abschied nehmen. Volker Kutscher hat schon verraten, dass er nach zwei kleinen illustrierten Büchern, „Moabit“ und „Mitte“, einen dritten geplant hat. Dafür wird er sich mit der Illustratorin Kat Menschik wieder in den Rath-Kosmos begeben.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Rath | Erschienen am 24. Oktober 2024 bei Piper
ISBN 978-3-492-07410-0
624 Seiten | 26.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Andys Rezensionen zu weiteren Romanen der Reihe

James Kestrel | Bis in alle Endlichkeit

James Kestrel | Bis in alle Endlichkeit

Um eine Millionenerbin zu ermorden, war ich zu sehr damit beschäftigt gewesen, einen Zeugen der Bundesanwaltschaft einzuschüchtern. Was die mögliche Gefängnisstrafe anging, würde ich wahrscheinlich besser dastehen, wenn ich zugab, sie im Vollrausch vom Dach gestürzt zu haben. (Auszug Seite 188)

Leland Crowe, der Protagonist in James Kestrels aktuellem Thriller arbeitet als Privatdetektiv in San Francisco, seit er seine Anwaltslizenz verloren hat. In dem heruntergekommenen Viertel Tenderloin hat er sich in einem schäbigen Hotel einquartiert, um für den Strafverteidiger Jim Gardner in einem spektakulären Fall eines Drogenkartellchefs zu recherchieren. Als er in den frühen Morgenstunden seine Runde um den Block dreht, stolpert er über einen Rolls Royce, der definitiv nicht in diese Gegend gehört. Auf dem eingedrückten Dach entdeckt er die Leiche einer schönen, jungen Frau in einem Cocktail-Kleid, die offenbar aus großer Höhe herabgestürzt ist.

Anstatt die Polizei zu verständigen, das wäre aufgrund seiner illegalen Tätigkeit suboptimal, macht er sich aus dem Staub. Aber nicht, ohne vorher einige Fotos zu schießen, die er meistbietend an Zeitungen verhökert. Geld ist immer knapp, deshalb nimmt er auch den nächsten Auftrag an, den ihm Gardner vermittelt. Die Klientin ist ausgerechnet Olivia Gravesend, einflussreiche Millionärin und Mutter des Opfers. Geld spielt keine Rolle, er soll nur herausfinden, was mit ihrer geliebten Tochter Claire passiert ist. Die Polizei hat den Fall bereits als Suizid zu den Akten gelegt. Das kann sich die verzweifelte Olivia nicht vorstellen, auch wenn sie seit einem halben Jahr nichts mehr von ihrer Tochter gehört hatte.

Die Welt der Reichen und Schönen
Eine erste Spur führt Crowe nach Boston, wo Claire studierte. Hier findet er im Tresor ihres Hauses einen Schlüssel zu einem anderen Haus in San Francisco. Bevor er sich auf den Weg machen kann, wird er von einem maskierten Mann angegriffen, es kommt zu einem brutalen Kampf auf Leben und Tod. Unser Protagonist fragt sich, in was für Machenschaften Claire verwickelt war und was hat es mit den zahlreichen Narben an ihrer Wirbelsäule auf sich? Am neuen Ziel angekommen, findet der Ermittler eine junge und äußerst lebendige Frau vor, die genauso aussieht wie die verstorbene Claire Gravesend einschließlich der seltsamen Narben auf dem Rücken. Nachdem in Crowes Wohnung eingebrochen und sein Büro verwanzt wurde, hat er das Gefühl, in ein Wespennest gestochen zu haben und einer viel größeren Sache auf der Spur zu sein.

Lee Crowe arbeitet als privater Ermittler, seit er seine Zulassung als Anwalt und auch seine Ehefrau verloren hat. Nur am Rande erfährt man, dass er handgreiflich gegenüber dem Obersten Richter wurde, mit dem seine Exfrau Juliette nun zusammen ist. Es spielt für die Geschichte auch keine große Rolle. Typisch für eine Detektivstory wird aus der Ich-Perspektive des Privatschnüfflers erzählt. Dieser hat kein Problem damit, sich auch mal die Hände schmutzig zu machen, geht der Polizei gerne, einer Schlägerei dagegen nie aus dem Weg. Crowe ist ein cleverer Typ, der sich meistens zu helfen weiß, wenn auch oft am Rande der Legalität. Kestrel zeigt uns hier die klassische Figur eines coolen Einzelgängers, immer einen lässigen Spruch auf den Lippen, mitunter zynisch, illusionslos aber auch total einsam.

„Er hat mir gesagt, dass Sie einen flexiblen Umgang mit Regeln pflegen“, sagte Olivia. „Dass Sie einen verbissener Dreckskerl sind. Jetzt weiß ich, was er gemeint hat.“ „Von wem reden Sie?“ „Von Jim Gardner.“ „Das hat Jim gesagt? So nett redet er sonst nie über mich.“ (Auszug Seite 328)

Das düstere Cover mit der Golden Gate Bridge fällt sofort ins Auge und erinnert in seiner Gestaltung an den Vorgänger, ein wahres Krimi-Juwel des letzten Jahres. Dabei ist „Bis in alle Endlichkeit“ im Original unter dem Titel „Blood Relations“ bereits 2019 erschienen und gar nicht mit dem epischen und mehrfach ausgezeichneten Werk „Fünf Winter“ zu vergleichen sowie auch einem ganz anderen Genre zugehörig. Wir haben es hier mit einem klassischen Hardboiled zu tun. Dabei hat der Autor die traditionelle Detektivfigur in die Gegenwart und damit in ein modernes Setting transferiert.

Meine Meinung
Obwohl man früh ahnt, wohin die Reise geht, hatte mich James Kestrel durch seinen flüssigen und bildhaften Schreibstil von der ersten Seite an am Haken. Besonders gut gefallen hat mir der Witz in den rotzig-geschliffenen Dialogen. Als Leserin verfolgte ich atemlos die nachvollziehbaren Ermittlungsarbeiten, staunte über falsche Fährten und überraschende Twists, genoss die Verfolgungsjagden per Auto und Hubschrauber, fieberte mit bei den Kampfszenen und Explosionen. Ein düsterer Pageturner, knapp und mit viel Tempo erzählt, der mich bestens unterhalten hat.
Das Ende und auch das Nachwort deuten weitere Fälle um Leland Crowe an. Ich würde mich freuen, denn das Zeug zum Serienermittler hat er auf jeden Fall.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Bis in alle Endlichkeit | Erschienen am 09. September 2024 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-51847-435-8
430 Seiten | 20,- Euro
Originaltitel: Blood Relations | Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Stefan Lux
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Andys Rezension zu „Fünf Winter“ von James Kestrel