Calla Henkel | Ein letztes Geschenk
Rückblickend könnte man meinen, ich hätte mich mit meiner Leidenschaft für True Crime auf Naomis Ermordung vorbereitet, hätte im übertragenen Sinne Gewichte gestemmt und meine Muskeln gestählt. (Auszug Pos. 28 von 4891)
In New York lernt die Künstlerin Esther Ray auf der Vernissage einer Freundin die Multimillionärin und Wohltäterin Naomi Duncan kennen. Eigentlich verabscheut Esther die Welt der Superreichen genauso wie die Kunstszene. Sie versteht sich eher als geerdete Kunsthandwerkerin, die Bücher von Hand bindet und mit ihrer Partnerin zurückgezogen in den Bergen lebt. Aus diesem Grund lehnt sie, trotz fürstlichem Honorar, erstmal Naomis Angebot ab, für deren Ehemann zu seinem 60. Geburtstag sogenannte Scrapbooks zu erstellen. Das sind aufwendig gestaltete Fotoalben, die durch künstlerische Verzierungen mit Texten und vielen Aufklebern eine Geschichte erzählen.
Abgründe einer Vorzeigefamilie
Erst als sie in ihren Bungalow in den Blue Ridge Mountains zurückkehrt und feststellen muss, dass ihre Verlobte Jessica sie verlassen hat und sie die Hypothek für das gemeinsame Häuschen nicht alleine auftreiben kann, überlegt sie es sich anders. Daraufhin erhält sie von ihrer Auftraggeberin eine ganze LKW-Ladung voller Kisten mit Material für die Alben, eine Kiste pro Jahr. Darin hat Naomi alles Mögliche gesammelt: Nicht nur Urlaubsfotos, Quittungen und Zeitungsausschnitte sondern auch Klassenarbeiten und Zeugnisse ihrer Tochter, Elternbriefe, Einladungen und sogar Kontoauszüge aus der Firma ihres Mannes. Wichtigste Regel für den Auftrag: Absolute Verschwiegenheit; es soll ja eine Überraschung zum Sechzigsten werden. Esther muss eine Verschwiegenheitserklärung unterzeichnen und der gesamte Kontakt zu Naomi erfolgt über ein extra angeschafftes Prepaid-Handy.
Esther sichtet das Material und je tiefer sie in die Unterlagen eintaucht, desto mehr gerät sie in den Bann von Naomis Familie. Sie erhält Einblicke in deren Geheimnisse und einige Ungereimtheiten lassen sie stutzig werden. Die Abgründe der reichen Vorzeigefamilie haben es in sich. Für Esther eine willkommene Ablenkung von ihrem Liebeskummer und aufgrund ihrer Einsamkeit wird das fremde Leben immer mehr zu ihrem eigenen, sie verliert die professionelle Distanz zu den Duncans. Als Naomi plötzlich bei einem Skiunfall ums Leben kommt, glaubt Esther nicht daran. Die Liebhaberin von True-Crime-Podcasts beginnt fast besessen, selbst Nachforschungen anzustellen um die Hintergründe herauszufinden. Dabei muss sie sich in die Welt von Naomis Familie und Freunden begeben, geht dabei nicht immer legal vor und gerät auch schon mal in lebensgefährliche Situationen. Unerwartet findet sie dabei Hilfe und Unterstützung bei ihrem Nachbarn Patrick, einem verschlossenen alten Mann, der selbst immer noch unter den Folgen eines tragischen Ereignisses aus seiner Vergangenheit leidet.
Schillernde Protagonistin
Mit Esther Ray hat die Autorin einen faszinierenden Charakter geschaffen. Nach und nach erfahren wir Details aus ihrer geheimnisvollen Vergangenheit, zum Beispiel über den frühen Unfalltod ihrer Mutter, der ihr Leben bis heute überschattet und für den nötigen Tiefgang sorgt. Sie hat eine Obsession für True-Crime-Podcasts, ist sehr verbissen, eigensinnig und extrem neugierig. Mit einem hohen Sinn für Gerechtigkeit versucht sie immer, das Richtige zu tun, trifft dabei aber häufig impulsive und moralische fragwürdige Entscheidungen. Als Leser leidet und fiebert man mit.
Ich malte mir aus, wie ich jedes Kleidungsstück von Naomi ausbreiten, mit den Fingern über die Siegel der Vakuumverpackungen streichen und sie dann aufreißen würde. Diesmal würde ich das Rätsel lösen, diesmal würde mir nichts entgehen. (Auszug Pos. 3931 von 4891)
„Ein letztes Geschenk“ ist ein raffiniert komponierter Psychothriller voller nicht vorhersehbarer Kapriolen und innovativer Wendungen, der erstaunlich leichtfüßig und lebendig daher kommt. Dabei wirft die Autorin einen herrlich bissigen Blick in die ineinander verflochtenen Welten der Kunstszene und der Superreichen. Geschickt und fast unbemerkt fließt eine unterschwellige Gesellschaftskritik in die Handlung ein. Der Roman ist höchst amüsant, erfrischend mit einem atemlosen Plot.
Foto und Rezension von Andy Ruhr.
Ein letztes Geschenk | Erschienen am 12. Juli 2024 bei Kein & Aber
ISBN 978-3-0369-5043-3
464 Seiten | 25,00 Euro
Originaltitel: Scrap | Übersetzung aus dem Englischen von Verena Kilchling
Bibliografische Angaben & Leseprobe