Kategorie: Andy Ruhr

Rebecca Makkai | Ich hätte da ein paar Fragen an Sie

Rebecca Makkai | Ich hätte da ein paar Fragen an Sie

Und dann die Art, wie Thalia starb – wie ihr Körper misshandelt worden war – und ins Wasser geworfen – jedes Mädchen bloß ein Körper, den man benutzen und entsorgen konnte – einen Körper zu haben schon genug, um von ihnen begrapscht zu werden – einen Körper zu haben schon genug, um von ihnen vernichtet zu werden – (Auszug Pos. 5064)

Vor über zwanzig Jahren wurde in einem Internat in New Hampshire die Schülerin Thalia Keith ermordet, der mutmaßliche Täter sitzt seitdem in Haft. Bodie Kane, die die Tragödie hautnah miterlebte, ist mittlerweile eine erfolgreiche Medienwissenschaftlerin. Zusammen mit einem Co-Moderator betreibt sie einen bekannten Podcast, in dem sie sich mit Frauen im Filmgeschäft beschäftigt, die einem Verbrechen zum Opfer gefallen sind. Als sie eingeladen wird, an ihrem ehemaligen College als Gastdozentin zwei Wochen lang einen Kurs übers Podcasten zu geben, tut sie das mit gemischten Gefühlen. Anfang der 90er Jahre war sie 4 Jahre in dem elitären Internat Granby. Diese Zeit war von schrecklichen Ereignissen überschattet. Da sie nicht zur Upperclass der US-Gesellschaft oder zu den wohlhabenden Auslandsstudenten gehörte, hatte sie es als Außenseiterin mit DocMartens und schwarz umrandeten Augen nicht leicht und wurde von einigen Jungs gemoppt. Trotzdem war das tief in den Wäldern gelegene Internat auch eine Heimat in Zeiten schwerer privater Krisen. Erinnerungen kommen hoch an den Mord an ihrer Zimmergenossin Thalia Keith, als eine ihrer Schülerinnen sich genau diesen Mord als Thema ihres Podcasts aussucht.

Unschuldig im Gefängnis?
Trotz dünner Beweislage wurde damals der schwarze Sporttrainer Omar Evans festgenommen. Sein Geständnis, scheinbar erzwungen, nahm er nach einigen Tagen zurück, doch da war es schon zu spät. Er wurde verurteilt und sitzt seit 20 Jahren hinter Gittern. Die Ereignisse werden auch durch ein Video wieder aufgewühlt, das Thalia Keith während einer Schulaufführung des Musicals Camelot zeigt. Es ist das letzte Mal, dass die beliebte Schönheit lebend zu sehen sein wird, denn kurz darauf wird sie ermordet im Schwimmbad aufgefunden. Bodie gerät zunehmend in einen Sog, der sie über die vergangenen Ereignisse nachdenken lässt. Sie vermutet, dass bei der Aufklärung nicht alle Details geklärt wurden. Sie hinterfragt auch ihre eigene Rolle bei den Befragungen im Umfeld des Opfers nach der Tat, denn eventuell hat sie durch ihre Aussage die Ermittlungen in eine falsche Richtung gelenkt. Zweifel werden geweckt, ob der richtige Täter verurteilt wurde und ihre Schüler*innen wollen das Verbrechen in dem Podcast neu aufrollen und beweisen, dass der Inhaftierte unschuldig einsitzt. Bodie ermutigt ihre Schüler*innen dabei und wird wieder mit ihrer Schulzeit konfrontiert, die sie als scharfe Beobachterin verbracht hat.

True-Crime-Podcasts
Die Geschichte wird allein aus Bodies Blickwinkel erzählt. Wir erfahren nur, was Bodie weiß oder uns wissen lässt. Das macht die Geschichte zu einer sehr persönlichen Angelegenheit, denn sie rechnet erbarmungslos mit ihrer Zeit im College ab. In unregelmäßigen Abständen spricht sie einen ihrer ehemaligen Lehrer in direkter Rede an. Dieser Dennis Bloch war ein bei allen beliebter Musiklehrer, doch in der Rückschau bekommt sein Verhalten für die erwachsene Bodie eine andere Bedeutung und sie findet sein Verhalten im Nachhinein teilweise verdächtig. Bloch ist der Angesprochene im Titel, den Bodie immer wieder in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit rückt. Da ich das oft sehr spät erkannte, wurde ich immer wieder durch diese Anrede aus dem Lesefluss gerissen. Ein interessantes Stilmittel, das für mich leider nicht ganz funktionierte. Auch wenn sie spekulative Szenarien durchspielt, die jeden möglichen Verdächtigen, inklusive ihrer selbst, als Mörder dastehen lassen, bedeutete das für mich hohe Konzentration. Alte Fotos, zeitliche Abläufe und Einträge in Planers werden betrachtet und neu bewertet und wechseln sich ab mit Szenen aus dem Gefängnis und Einblicke, wie Omars Familie seinen Verlust erlebt und für seine Rehabilitation kämpft.

Ich habe eine Meinung zu ihrem Tod, eine Meinung, die mir nicht zusteht. Gleichzeitig ist mir etwas mulmig dabei zumute, dass die Frauen zum Gemeingut geworden sind, der kollektiven Fantasie ausgeliefert. Dass die Frauen, mit deren Tod ich mich beschäftige, zumeist schön und reich waren. Dass die meisten jung waren, wie uns Opferlämmer am liebsten sind. Dass ich mit dieser Fixierung nicht alleine bin. (Auszug Pos. 370)

Von der Autorin Rebecca Makkai hatte ich vor einiger Zeit „Die Optimisten“ gelesen. Der für den Pulitzer Preis und den National Book Award nominierte Roman war für mich ein Lebenshighlight. Umso gespannter war ich auf den vorliegenden Roman. „Ich hätte da ein paar Fragen an Sie“ befasst sich nur vordergründig mit einem Cold Case in einem verschneiten amerikanischen Campussetting. Vielmehr thematisiert die Autorin aktuelle sozialkritische Themen, die von sexueller Belästigung, Misogynie über Rassismus bis hin zum längst veralteten amerikanischen Klassensystem reichen. Dabei kritisiert sie auch die Ausbeutung echter Menschen zur reißerischen Unterhaltung und dass Opfer zu öffentlichem Eigentum werden.

Ich habe Makkais literarischen Schreibstil bis zum überraschenden Ende sehr genossen, auch wenn die vielen Themen den Spannungsroman grade im Mittelteil etwas überfrachten. Kein Werk, das man schnell weg lesen kann.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Ich hätte da ein paar Fragen an Sie | Erschienen am 28. September 2023 im Eisele Verlag
ISBN 978-3-9616-1173-7
560 Seiten | 28.- Euro
Originaltitel: I Have Some Questions For You | Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Bettina Arbabanell
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Val McDermid | 1989 – Wahrheit oder Tod (Band 2)

Val McDermid | 1989 – Wahrheit oder Tod (Band 2)

Im zweiten Band um die Journalistin Allie Burns sind 10 Jahre vergangen, wir schreiben das Jahr 1989. Allie lebt mittlerweile in Manchester mit ihrer geliebten Partnerin Rona zusammen und ist leitende Redakteurin für den Sunday Globe. Beruflich hat sie sich weiterentwickelt und führt nun ein Team von Journalisten an. Ihr Arbeitgeber, der Medienmogul Wallace „Ace“ Lockhart ist allerdings an kritischem Investigativjournalismus nicht sonderlich interessiert und schiebt Allie in die Klatschspalte.

Mit ihrer Situation unzufrieden, stößt sie auf einen Skandal bei der Entwicklung eines AIDS-Medikamentes. Edinburgh gilt zu der Zeit als AIDS-Hauptstadt und viele HIV-Patienten sehen sich gezwungen, aus ihrer Heimat zu fliehen um überhaupt Behandlung zu erfahren. Allie bekommt Wind davon, dass obwohl bei den klinischen Studien aufgrund schädlicher Nebenwirkungen schon mehrere Teilnehmer gestorben sind, diese einfach von Edinburgh nach Ost-Berlin verlegt wurden. Allie nimmt sich Urlaub und will in Eigeninitiative die ethisch ziemlich verwerfliche Geschichte verfolgen. Durch ihren waghalsigen Alleingang, bei dem sie auch noch versucht, einem Wissenschaftler und seiner Freundin bei der Flucht aus Ost-Berlin in den Westen zu helfen, wird sie als Spionin verhaftet.

„Weißt du, was das Lustige daran ist? In der Einrichtung im Norden von Manchester gibt es fünfzehn Betten. Und mehr als die Hälfte davon ist mit euren Leuten belegt.“ Aufrichtig verwirrt fragte Allie: „Was meinst du mit ‚unseren Leuten‘?“ „Schotten. Ihr exportiert heutzutage nicht nur Whisky. Sondern auch Junkies.“ (Auszug Pos. 314)

In einem zweiten Handlungsstrang geht es um Ace Lockhart, ein hochdekorierter Kriegsveteran, ein Überlebender des Nazi-Regimes, welches sein polnisches Dorf ausgelöscht hat. Lockhart, offensichtlich angelehnt an den real existenten Robert Maxwell, steckt in finanziellen Schwierigkeiten, da er Pensionsfonds abgeschöpft hat. Hilfe erhofft er sich durch seine politischen und wirtschaftlichen Verwicklungen mit den sowjetischen Blockstaaten. Der Medienmogul beauftragt seine ehrgeizige Tochter Genevieve Lockhart, die alten Verbindungen im Osten Europas zu sichern. Sie soll sich bei idealistischen Dissidenten einschmeicheln und wird nach Berlin entsandt.

Im Gegensatz zum ersten Band um Allie konnte mich der Nachfolger nur bedingt begeistern. Er schwächelt an so vielen Stellen, als hätte McDermid ihn mit grober Nadel hastig gestrickt. 1989 war ein spannendes Jahr in der Geschichte mit vielen Wendepunkten, beispielsweise der Öffnung des Eisernen Vorhangs, der später zum Fall der Berliner Mauer mündete. Der historische Krimi ist dies leider über große Strecken nicht. Es ist die Hochzeit der AIDS-Epidemie ohne Aussicht auf Heilung. Am Anfang ist Ally auf der Trauerfeier für die Opfer des Lockerbie-Bombenanschlages. In einer amerikanischen Boeing war eine Bombe explodiert und über der schottischen Kleinstadt abgestürzt. Und es endet mit der größten Katastrophe in der Geschichte des Fußballs, als sich im Hillsborough Stadium in Sheffield ein schweres Zuschauerunglück mit vielen Toten und Verletzten abspielte. Anstatt sich hierauf zu konzentrieren, werden diese beiden Ereignisse lediglich kurz angerissen, nur um es auch noch unterzubringen. Dafür ist die Handlung rund um Ost-Berlin an vielen Stellen völlig überzogen und unglaubwürdig.

Außerdem bedient sich die schottische Autorin vieler Klischees. Als beispielsweise zwei Flüchtige Westberlin erreichen und kichernd auf alle Embleme des westlichen Kapitalismus deuten, überwältigt von den Farben und den leuchtend bunten Klamotten in den Schaufenstern, konnte ich nur mit den Augen rollen. Auch Allie, mit einem starken moralischen Kompass und großem Gerechtigkeitssinn ausgestattet, immer bereit für Außenseiter oder Schwächere in die Bresche zu springen und zu helfen, ist viel zu glatt und ohne Brüche gestaltet.

Alles in allem viel zu viele Themen, wie AIDS, Pharmamissbrauch, Schwulen- und Lesbenhass, aufhetzende Yellow-Press, Stasi, Nazis etc., die den Roman überfrachten. Allie hetzt hinter der großen Geschichte hinterher, während sie sich persönlich an den Katastrophen des Jahres sowohl abarbeitet als auch aufreibt. Der Krimianteil ist nur mäßig ausgebaut, der Schwerpunkt liegt auf den historischen Fakten. Trotzdem entfaltet er nicht die Magie wie „1979 – Jägerin und Gejagte“, bei dem ich den Zigarettenrauch förmlich riechen und das Geklapper der Schreibmaschinen hören konnte. Zusätzlich bietet der Roman einen Blick hinter die Kulissen der Medienlandschaft. Auf was man sich bei McDermid immer verlassen kann, ist eine gehörige Portion Gesellschaftskritik und authentische Zeitgeschichte.
Ich bin trotzdem auf 1999 gespannt und werde dem nächsten Band eine weitere Chance geben.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

1989 – Wahrheit und Tod | Erschienen am 3. Juli 2023 bei Knaur
ISBN 9-7834-2652-984-3
464 Seiten | 14,99 Euro
Als E-Book: ISBN 978-3-426-46660-5 | 9,99 Euro
Originaltitel: 1989 | Übersetzung aus dem Englischen von Dr. Kirsten Reimers
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Rezension zu Band 1 „1979“

Tom Hillenbrand | Die Erfindung des Lächelns

Tom Hillenbrand | Die Erfindung des Lächelns

1911 wurde das berühmteste Gemälde der Welt, die „Mona Lisa“ von Leonardo da Vinci, aus dem Pariser Louvre gestohlen. Es ist die Zeit der Belle Époque, die Blütezeit von Kunst und Kultur. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg dominiert in den Großstädten, besonders in Paris , das mondäne Leben der tonangebenden Pariser Bohème. Es findet auf den Boulevards, in den Cafés und Cabarets, in den Ateliers und Galerien, in den Konzertsälen und Salons statt.

Die Ermittlungen der Pariser Polizeipräfektur gingen ins Leere, der Diebstahl der Joconde blieb auch nach Aussetzung großer Summen als Belohnung mehr als zwei Jahre lang ungeklärt. Für die stolzen Franzosen, besonders für den Louvre, ein Riesenskandal. Der Museumsdirektor wurde entlassen, wochenlang beherrschte die Geschichte die Titelseiten der Zeitungen und das weltweit. Viele Bürger gingen in den Louvre, um sich die leere Stelle an der Wand anzusehen. Und erst danach, wurde aus da Vincis Ölgemälde „La Joconde“, dessen geheimnisvolles Lächeln und das Rätsel um die wahre Identität der Dargestellten bis dahin nur Kunstinteressierte betörte, das weltbekannte und meistbesuchte Kunstwerk.

Picasso in Nöten
Auch der spanische Künstler Pablo Picasso und sein Freund, der Schriftsteller Guillaume Apollinaire, gerieten unter Verdacht, da beide mit Géry Pieret, einem Kleinkriminellen, in Verbindung standen. Und tatsächlich hatte der aufstrebende Picasso sich von Pieret verschiedene Statuetten und Masken aus dem Louvre „besorgen“ lassen. Apollinaire wurde sogar verhaftet, musste aber aus Mangel an Beweisen wieder freigelassen werden.

„Es muss logischerweise die sein, die da Vinci seinerzeit mit nach Frankreich genommen hat, an den Hof von Francois I. Oder glaubst du etwa, er hätte die zweitklassige eingepackt?“ „Wieso denn nicht? Vielleicht brauchte er Geld für die Reise. Er hat die gute Lisa in Florenz meistbietend verkauft. Und die mit dem schiefen Lächeln hat er mitgenommen, weil ihr Franzosen den Unterschied eh nicht bemerkt.“ (Auszug Position 6483)

Neben dem jungen Picasso und Apollinaire, die schon einen großen Raum im Roman einnehmen, werden noch viele andere historische Persönlichkeiten vorgestellt. Das sind beispielsweise die Ausdruckstänzerin Isadora Duncan und ihr Guru, der Satanist Aleister Crowley. Oder die gewalttätigen Anarchisten der Bonnot-Bande, die mit schonungsloser Brutalität ganz Paris in Angst und Schrecken versetzten. Und wieder stand die Pariser Polizei stümperhaft da, kann den Revoluzzern, die nach den Raubüberfällen schnell mit Hilfe gestohlener Kraftwagen entkamen, nicht habhaft werden, da ihnen Automobile noch nicht zur Verfügung standen. Wir begleiten Commissaire Juhel Lenoir von der Sureté Générale bei seinen schwierigen Ermittlungen, der auch nach Einstellung der Suchaktion an der Sache dranblieb.

Satanische Séancen und Opiumräusche
Tom Hillenbrand, der sich als Schriftsteller in unterschiedlichen Genres bewegt, hat einen der größten Kunstraube der Geschichte und seine späte Aufdeckung als Rahmenhandlung genommen, hat historisch verbriefte Fakten und Fiktion miteinander verbunden und rausgekommen ist eine launige und sehr unterhaltsame Story. Es ist aber auch ein wilder Ritt, der die damalige Faszination für Okkultismus mit satanischen Séancen und Halluzinationen ausgelöst durch viel Opium porträtiert.

Ich hatte etwas Mühe in das Buch hineineinzufinden. Das lag an der Vielzahl der Akteure, aber auch an dem episodenhaften Schreibstil. In jedem Kapitel wechseln Schauplätze, Handlungsstränge und Personen und zahlreiche Themen, wie das Entstehen des Kubismus, das Leben der Pariser Künstlerszene sowie die politischen Umtriebe der Anarchisten werden ausführlich beschrieben. Der vielschichtig konstruierte und glänzend recherchierte Roman lässt seine Leser tief in das historische Paris eintauchen. Dass diese brodelnde, pulsierende Stadt voller Umbrüche und rasantem Fortschritt damals das Zentrum der modernen Welt darstellte, kann man intensiv zwischen den Zeilen spüren.

Ausführlich schreibt Hillenbrand von den Diskussionen der Künstler in den Cafés, auf privaten Festen, in der Oper und beim Ballett. Eine hohe Konzentration ist gefordert, aber für Kunst- und Geschichtsinteressierte bietet der Roman eine Fülle an Informationen. Das Finale ist dann wieder ein spektakulärer sowie spannender Showdown mit einer augenzwinkernden Theorie und die Leser können darüber grübeln, was wahr und was erfunden ist.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Die Erfindung des Lächelns | Erschienen am 07. September 2023 bei Kiepenheuer & Witsch
ISBN 978-3-462-00328-4
512 Seiten | 25,- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Weitere Rezensionen zu Romanen von Tom Hillenbrand auf Kaliber.17

Joe R. Lansdale | Moon Lake

Joe R. Lansdale | Moon Lake

Wir waren in unserem klapprigen Buick unterwegs, der noch aus einer Zeit stammte, in der die Autos groß gewesen waren und der amerikanische Traum für jeden erreichbar schien, der weiß, männlich, heterosexuell und gewillt war, ihn zu träumen. Alle anderen mussten eine Nummer ziehen und warten. (Auszug Seite 6)

Daniel Russell ist 14 Jahre alt und lebt alleine mit seinem Vater in Ost-Texas. Seit seine Mutter die Familie vor ein paar Monaten ohne eine Nachricht verließ, hat sein Vater nicht nur seine Arbeit, sondern auch den Boden unter den Füßen verloren. Eines Nachts fährt der verzweifelte und total überforderte Mann mit Daniel zum nahegelegenen Stausee nach New Long Lincoln und hält auf einer klapprigen Brücke. Die Stadt unter dem See, ehemals Long Lincoln war vor Jahren überschwemmt worden. Dannys Vater erzählt ihm, dass er hier aufgewachsen ist und hier auch Daniels Mutter, seine große Liebe kennengelernt hat. Der Ort wurde damals evakuiert, als das Wasser in die Stadt geleitet wurde, befanden sich jedoch noch Menschen in den Gebäuden, von denen viele elendig ertranken. Plötzlich gibt er Gas und lenkt den alten Buick über das Geländer ins eisige Wasser. Während sein Dad mitsamt Wagen in der Tiefe verschwindet, gelingt es dem Jungen, sich zu befreien. Er wird von der etwa gleichaltrigen Ronnie Candles ans Ufer gezogen, die ganz in der Nähe mit ihrem Vater angelte.
Danny kann einige Monate bei den Candles verbringen, die sich liebevoll um ihn kümmern. Die Familie fängt ihn auf und lässt ihn an ihrem Leben teilhaben. So lernt Danny zum ersten Mal in seinem Leben Geborgenheit kennen, aber auch den nach wie vor existenten tagtäglichen Rassismus, dem die schwarze Familie ausgesetzt ist. Schließlich wird eine Tante ausfindig gemacht und er muss zu ihr ziehen.

Leichen auf dem Seegrund
Zehn Jahre später trocknet der Moon Lake aufgrund einer Hitzeperiode komplett aus und legt nicht nur den überfluteten Ort frei, sondern auch den Buick seines Vaters. Im Wagen kann die Polizei nicht nur dessen Überreste sondern auch eine weibliche Leiche im Kofferraum bergen. Chief Dudley vermutet, dass es sich um Daniels Mutter handelt. Dieser, inzwischen Journalist und Autor, kehrt nach New Long Lincoln zurück, um der Sache auf den Grund zu gehen. Zusammen mit Ronnie Candles, die mittlerweile bei der örtlichen Polizei arbeitet, besucht er die überraschend gut erhaltene Stadt auf dem Seegrund. Die beiden stoßen nicht nur auf einige Fahrzeuge, in denen sich weitere Leichen finden, sondern auch auf große Widerstände seitens der Stadt. Diese wird seit Jahrzehnten von einer totalitären Elite-Clique beherrscht, die skrupellos und mit grenzenlosem Egoismus regieren. Was ist dran an den Gerüchten, dass der Rat der Stadt damals aus Gier den Tod der Bewohner billigend in Kauf genommen hatte?

Der fast volle Mond schien auf dem Wasser zu treiben. Ich erinnere mich an seinen Glanz und die Art, wie sich die Schatten der Bäume am Seeufer zu ihm hinstreckten wie Finger aus Schokolade, die nach einem Silberteller greifen. (Auszug Seite 6)

Lansdales Schreibstil besticht gleichermaßen durch Poesie, knackige Metaphern sowie eindringliche Formulierungen für Gewalt, Brutalität und Tod. Der Roman wechselt zwischen verschiedenen Genres hin und her, ist Crime Noir, Coming-of-Age und Mystery gewürzt mit Horrorelementen. Dabei schießt er auch das ein oder andere Mal über das Ziel hinaus und die gruselige Verschwörungstheorie, die hier gesponnen wird, driftet zumindest im Finale ins Absurde ab. Für mich tat das dem Vergnügen jedoch keinen Abbruch und ich genoss die entfesselte Geschichte mit wirklich sehr vielen Leichen und mit einem teilweise abstrusen Plot. Der Roman bietet eine packende Handlung in einer durchweg schaurigen Stimmung, ist gespickt mit überraschenden Wendungen, knochentrockenen Dialogen und ungewöhnlichen Figuren. Die übernatürlichen Sequenzen und menschlichen Abgründe lassen den Lesenden gruseln, der lakonische Humor aber auch oft schmunzeln.

Gesellschaftskritik in trashigen Sequenzen
„Moonlake“ spielt wie so oft in Lansdales Heimat Ost-Texas und geht zurück in die 60er und 70er Jahre. Wobei das Cover scheinbar auch aus dieser Zeit stammt. Der Altmeister teilt gerne aus gegen die stockkonservativen Einwohner der Südstaaten und zeichnet ein wenig positives Bild dieses Landstrichs. Dabei transportiert er fast beiläufig seine Gesellschaftskritik wie Rassismus, Kapitalismuskritik, Fremdenfeindlichkeit und soziale Ungerechtigkeiten mit Horrorelementen in trashiger hardboiled Tradition. Seine Stärken liegen für mich in der Erschaffung lebendiger Charaktere. Seine Figuren bilden stets das Zentrum der Ereignisse, ihre Hintergründe und Beziehungen zueinander sind ihm allzeit wichtig. Das gilt im Besonderen für Daniel, aus dessen Perspektive erzählt wird, dessen Entwicklung wir verfolgen und der seine Menschlichkeit nie verliert.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Moon Lake | Erschienen am 08.11.2022 im Festa Verlag
ISBN 978-3-9867-6030-4
464 Seiten | 26,99 €
Originaltitel: Moon Lake | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Patrick Baumann
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Andys Rezension zu „Ein feiner dunkler Riss“ von Joe R. Lansdale

Matt Query & Harrison Query | Old Country – Das Böse vergisst nicht

Matt Query & Harrison Query | Old Country – Das Böse vergisst nicht

Es war ein fremdartiges Gefühl von Furcht, wie eine Ansteckung, ein Panikvirus, der nicht aus dir selbst kommt, sondern sich von außen einen Weg in dein Bewusstsein bahnt. Ich spürte einen Druck auf meinen Ohren. (Auszug Seite 309)

Eine eigene kleine Farm in der weiten Natur, Ruhe in der ländlichen Abgeschiedenheit. Für das junge Paar Harry und Sasha Blakemore geht ein Lebenstraum in Erfüllung, als sie den Zuschlag für eine Ranch in Idaho bekommen. Voller Vorfreude machen sie sich mit Jagdhund Dash auf den Weg in die Abgeschiedenheit, weit weg von ihren Familien. In den Bergen angekommen sind sie überwältigt von der traumhaft schönen Landschaft direkt vor den Ausläufern der Rocky Mountains. Die nächsten Nachbarn Dan und Lucy Steiner wohnen einige Meilen entfernt. Das ältere Ehepaar steht mit Rat und Tat zur Seite und hilft den Neuankömmlingen, sich in das Leben als Farmer einzufinden.

Das Grauen in der Idylle
Als sie die Blakemores allerdings mit einem uralten Geist konfrontieren, der in jeder Jahreszeit in unterschiedlicher Manifestation die Bewohner des Tals heimsucht, sind Harry und Sasha mehr als skeptisch. Es gibt genaue, auch schriftlich fixierte Anleitungen, um den Geist in Schach zu halten. Wenn die beiden Neufarmer sich an diese Anweisungen halten und die Rituale genauestens befolgen, würde ihnen nichts passieren. Besonders Harry weist die bevorstehenden Heimsuchungen brüsk als abwegige Spinnerei ab und fühlt sich veräppelt. Doch während Harry und Sasha sich langsam einrichten, zum Reiten, Fischen und zur Moorhuhnjagd gehen, bricht das Grauen über die Idylle herein.

Die Handlung ist in 5 Abschnitte unterteilt und folgt der Dramaturgie der Jahreszeiten. Die Perspektive, die kapitelweise zwischen Harrys und Sashas Sicht hin und her wechselt, ist in der Ich-Form verfasst. Dadurch entsteht eine dichte Psychologisierung des jungen Paares. Die Figuren sind sympathisch und authentisch, nahbar und mit Hintergrund gezeichnet. Harry ist ein Afghanistan-Veteran, in Rückblenden erfahren wir viel über die traumatischen Geschehnisse, die er auch noch nicht endgültig verarbeitet hat. Selbst mit seiner Frau, zu der er eine sehr innige und intensive Beziehung pflegt, spricht er nicht über seine Zeit als Marine in den Kriegsgebieten. So liebevoll Harry zu seiner Frau und dem Golden Retriever ist, kann er aber auch schon mal sehr hitzig und impulsiv handeln und wenn er Gefahr für seine Liebsten wittert, fühlt er sich schnell provoziert.

„Ich habe bereits Menschen erschossen, Lucy. Echte Menschen. Dass dieser verdammte … Geist echt ist, beunruhigt mich weit mehr, als einen Kerl abzuknallen, der meine Frau und mein Zuhause bedroht.“ (Auszug Seite 158)

Old Country ist ein mystischer Spannungsroman mit Gruselelementen, wobei die gruseligen Abschnitte doch überschaubar waren. Dabei schleichen sich die schaurigen Szenen langsam an und waren für mich eher skurril als gänsehauterzeugend. Das vorhersehbare Regelwerk konterkariert unweigerlich den Spannungsbogen. Das liegt daran, dass wir aufgrund der Anleitung von Dan und Lucy ja immer schon genau wissen, was passiert. Auch wenn durch Harrys teilweise ungestümes Verhalten das ein oder andere Unvorhergesehene passiert, werden die Gefahren allzu gleichförmig erzählt. Die Zeit zwischen den übernatürlichen Ereignissen war mit detaillierten Beschreibungen des alltäglichen Lebens, traumatischen Erinnerungen und Rückblenden gefüllt.

Horror im Winter
Im letzten Drittel wächst die Bedrohung und das Tempo zieht an. Die Horror-Momente im Winter werden sehr bildhaft und plastisch geschildert und zumindest meine Nackenhaare stellten sich auf. Als klar wird, dass kein Entkommen möglich ist, die Farm verlassen und irgendwo anders neu anzufangen, keine Option darstellt, spitzt sich alles zu.

Old Country ist gradlinig in einer gefälligen Sprache und einer fast heimeligen Erzählweise geschrieben. Der weitläufige Schauplatz wird anschaulich geschildert, die Verbundenheit zur Natur ist omnipräsent. Die Brüder Matt und Harrison Query nehmen sich viel Zeit für Setting und Charaktere. Ich habe immer wieder gerne zum Buch gegriffen, auch wenn es sich eher um eine gemütliche, zurückhaltende Spannung mit einer subtil bedrohlichen Aura handelt. Eine Verfilmung kann ich mir gut vorstellen und das Erfolgsteam Shawn Levy und Dan Cohen, die Macher von Stranger Things, sollen schon ihr Interesse bekundet haben.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Old Country – Das Böse vergisst nicht | Erschienen am 15. Februar 2023 im Heyne Verlag
ISBN 978-3-45332-231-8
432 Seiten | 15.- Euro
Originaltitel: Old Country | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Michael Pfingstl
Bibliografische Angaben & Leseprobe