William Boyle | Eine wahre Freundin

William Boyle | Eine wahre Freundin

Jeder weiß über Vic Bescheid, was er gemacht hat und wie er gestorben ist, aber niemand spricht sie darauf an. Niemand fragt sie, wie es ist, den eigenen Ehemann verbluten zu sehen. Oder wie es ist, mit dem Gartenschlauch getrocknetes Blut von den Stufen zu spritzen, nachdem man gerade den einzigen Mann beerdigt hat, den man je geliebt hat. (Auszug Seite 11)

William Boyle erzählt in seinem Kriminalroman „Eine wahre Freundin“ eine Mafiageschichte und hat dabei, und das ist das Ungewöhnliche, die Frauen in den Mittelpunkt gerückt. Frauen spielen in Geschichten über das organisierte Verbrechen selten eine große Rolle und ihr Leben wird oft als Familienmitglieder oder Geliebte von den Männern an ihrer Seite bestimmt.

Eine dieser Frauenfiguren ist die 60-jährige Rena Ruggiero, Witwe eines Brooklyner Gangsters, der vor neun Jahren vor ihrem Haus erschossen wurde. Der sanfte „Gentle“ Vic hatte für die Mafia sehr erfolgreich Schulden eingetrieben. Aber von dieser schmutzigen Arbeit wollte Rena nie etwas wissen und hatte sich darauf konzentriert, ihrem geliebten Ehemann ein behagliches Heim zu bereiten. Jetzt fühlt sich Rena einsam, denn auch zu ihrer einzigen Tochter hat sie seit einem Streit auf Vics Beerdigung keinen Kontakt mehr. Adrienne, die seit ihrer Teenager-Zeit mit dem Mafiosi Richie Schiavano liiert ist, lebt in der Bronx und hat mir ihrer Mutter gebrochen, selbst die inzwischen 15-jährige Enkelin Lucia hält sie von ihr fern.

Pornoqueen und gewiefte Betrügerin
Renas ruhiges Leben findet ein jähes Ende, als der achtzigjährige Nachbar Enzio ihr an die Wäsche will. Ausgerechnet der schmierige Enzio, der ständig mit blanker Brust in der Einfahrt sein schönes altes Auto wienert und sie beim Vorbeigehen Schätzchen oder Püppchen nennt. Als der alte Lüstling zudringlich wird, zieht sie ihm in ihrer Verzweiflung einen großen Glasaschenbecher über den Kopf. Panisch lässt sie den blutüberströmten Enzio zurück und flüchtet in seinem heißgeliebten schwarzen 62er Chevy Impala. Verzweifelt fährt sie in die Bronx zu ihrer Tochter, in der Hoffnung auf Hilfe in ihrer Not. Doch Adrienne will von Versöhnung nichts wissen und schlägt ihr die Tür vor der Nase zu.

Rena kommt erst mal bei der Nachbarin unter, der locker-lässigen etwa gleichaltrigen Lacey Wolfstein. Der frühere Pornostar hatte nach Karriereende ältere, wohlhabende Männer in Florida ausgenommen, bevor sie sich hier in der Bronx zur Ruhe setzte. Kurz darauf flüchtet auch Lucia hierher. Sie will nicht mit ihrer Mutter und deren Freund Richie nach New York fliehen, weil der seine Mafiakumpel um eine Menge Geld gebracht hat. In Wolfsteins Haus eskaliert die ganze Situation, weil auch noch ein betrogener Lover von Lacey auftaucht und der vermeintlich erschlagene Enzio seinen wertvollen Oldtimer zurück haben will. Nach aberwitzigen Wortgefechten läuft die Situation in Wolfies Haus komplett aus dem Ruder und endet in einem grotesken Blutbad. Rena, Wolfie und Lucia gelingt mit einem Koffer voll Dollar die Flucht in Richies 1982er Cadillac Eldorado, verfolgt von einem hammerschwingendem, irren Mafia-Killer.
Die so unterschiedlichen Frauen kommen sich näher, freunden sich an und halten zusammen. Das erinnert an Thelma und Louise, aber auch auf Mafiafilme a la Scorsese, De Niro und den Sopranos wird oft verwiesen.

Screwball Noir
Screwball Noir nennt der amerikanische Autor seinen Krimi. Dafür sprechen die schrägen Charaktere, die absurden Dialoge, der abgedrehte Plot und das hohe Erzähltempo, die ja typisch für eine Screwball-Komödie sind. Ich mochte den feinen und intelligenten Wortwitz, auch wenn er nicht so philosophisch ist, wie er gerne sein möchte. Unterbrochen wird das ganze immer wieder durch übertriebene Gewaltdarstellungen, die aus chaotischen Situationen entstehen und komödiantisch unterlaufen werden. Die Gewalt ist meistens völlig unangemessen und grenzt oft an sadistische Exzesse. Dadurch bewegt sich der Kriminalroman samt seiner exzentrischen Charaktere oft an der Grenze zur Posse, auch weil die Handlungen der Figuren an einigen Stellen für mich nicht komplett nachvollziehbar waren.
Alles in allem habe ich den harten wie komischen Kriminalroman gerne gelesen und mich gut unterhalten gefühlt und könnte es mir aufgrund der visuellen Situationskomik sehr gut verfilmt vorstellen. Es geht um Familienbande und Freundschaften zwischen Frauen, die über sich hinauswachsen. Männer spielen eine untergeordnete Rolle.

Der Autor
William Boyle ist 1978 im Süden des New Yorker Stadtteils Brooklyn geboren. Man merkt, dass er sich in diesen Vierteln, über die er immer wieder schreibt, gut auskennt. Er wuchs mit der italienischen Seite seiner Familie auf und die Mafiosis haben ihn von klein auf fasziniert und seine Fantasie als Autor beflügelt. Auch in seinem 2018 auf Deutsch erschienenen ersten Roman „Gravesend“ und im Folgeroman „Einsame Zeugin“ spielen diese italienisch-amerikanischen Viertel eine große Rolle. Seit 2012 lehrt er kreatives Schreiben an der University of Mississippi in Oxford, wo er mit Frau und zwei Kindern lebt.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Eine wahre Freundin | Erschienen am 01. Juni 2020 im Polar Verlag
ISBN 987-3-948392-08-6
360 Seiten | 22.- Euro
Originaltitel: A Friend Is A Gift You Give Yourself
Bibliografische Angaben

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