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Arne Dahl | Stummer Schrei

Arne Dahl | Stummer Schrei

Von einer Anhöhe wid durch ein Fernglas das zweite Überholmanöver verfolgt. Vor allem, was mit dem Wagen auf der linken Spur passiert. Er fängt Feuer, der Fahrer verliert die Kontrolle und schert in der Kurve in die falsche Richtung aus, rast von der Autobahn und pflügt wie ein Feuerball durch das goldgelbe Rapsfeld. […]
Das Fernglas senkt sich in der einen Hand, der Fernzünder in der anderen.
Das Universum hört einen tiefen Atemzug.
Es hat begonnen. (Auszug E-Book Pos.77-85)

Es beginnt mit zwei Sprengstoffanschlägen. Zum einen auf den Wagen eines hohen Managers eines Stahlkonzerns, zum anderen eine Paketbombe auf den Chef einer renommierten Werbeagentur, der gerade eine Kampagne für mehrere Konzerne mit dem Schwerpunkt auf fossile Energien vorbereitete. Dann erhält Eva Nyman, Leiterin der kleinen Spezialeinheit NOVA in der schwedischen Kriminalpolizei, eine Art Bekennerbrief. In diesem wird auf die Zerstörung der Umwelt und des Klimas hingewiesen, verklausuliert sich der beiden Anschläge bekannt und weitere angekündigt. Doch was Eva Nyman sofort stutzig macht, ist der Duktus des Schreibens und eine bestimmte Formulierung. „Die Ruinen des Verfalls“ war eine der Lieblingsformulierungen ihres ehemaligen Vorgesetzten Lukas Frisell.

Frisell war bis vor etwa 15 Jahren im Dienst der Kripo, doch im Zuge eines fehlgeschlagenen Einsatzes, bei dem eine Geisel aufgrund seiner falschen Entscheidungen verstarb, hatte er den Dienst quittiert. Frisell arbeitete später als Dozent für Umwelt- und Klimaforscher an einer Fachhochschule, bevor er dann als Prepper in die Wälder ging und seitdem von der Bildfläche verschwunden ist. Nyman und ihr vierköpfiges Team fragen sich, ob Frisell sich weiter radikalisiert hat und nun als Klimaterrorist aktiv wird. Sie nehmen seine Spur auf und müssen tief in die schwedischen Wälder, um seiner habhaft zu werden. Doch gerade als sie ihn zur Verhör haben und er alles von sich weist, geschieht ein dritter Anschlag auf eine Serverfarm eines globalen Versandhändlers.

Arne Dahl ist schon einer der Veteranen der schwedischen Krimiszene. 1999 begann er seine Karriere als Krimiautor mit dem ersten Band der Serie um die Sondereinheit „A-Gruppe“ mit insgesamt elf Romanen, an die er auch in seiner zweiten Reihe um eine Europol-Ermittlungsgruppe anknüpfte. Nun beginnt er mit „Stummer Schrei“ wieder eine Reihe mit einer kleinen, hochintelligenten Ermittlungseinheit. Im Zentrum steht neben Eva Nyman und ihrer Einheit vor allem der ehemalige Polizist, ehemalige Forscher und Dozent, Spezialist für Überlebenstraining und Prepper Lukas Frisell. Ein undurchsichtiger Typ, intelligent, ignorant, Einzelgänger, lebt einerseits als Eremit im Wald, hat schon immer gegen den Raubbau an der Natur doziert, aber entsagt keinesfalls aller Technologie oder sonstigen Bedürfnissen. Was hat er mit den Anschlägen zu tun? Für meinen Geschmack kann der erfahrene Leser zu schnell seine Rolle in dem Ganzen erraten.

Ansonsten bietet Dahl eine souveräne Vorstellung. Die Figuren sind interessant (auch wenn das NOVA-Team schon übertrieben gute Polizisten sind), der Spannungsaufbau stimmt, das Ganze liest sich gut weg. Auch die Schauplätze sind gut gewählt, neben Stockholm geht der Autor auch in die Provinz und in die Tiefe der schwedischen Wälder. Dieses „Zurück zur Natur“ als eines der zentralen Themen des Romans ist gut gemacht, führt aber auch zu meinem größten Kritikpunkt am Roman. Das eigentliche Motiv (Vorsicht Spoiler) der Anschläge führt wieder von diesem Thema weg und ist für meinen Geschmack viel zu übertrieben und aufgeblasen. So gibt es von mir doch noch am Ende ein paar Abzüge. Insgesamt erhält der Leser aber souveräne Krimikost aus dem hohen Norden.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Stummer Schrei | Erschienen am 01.02.2023 im Piper Verlag
ISBN 978-3-492-07241-0
464 Seiten | 17,- €
Als E-Book: EAN 978-3-492-60641-7 | 14,99 €
Originaltitel: I cirkelns mitt | Übersetzung aus dem Schwedischen von Kerstin Schöps
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Anthony McCarten | Going Zero

Anthony McCarten | Going Zero

Aber eine Bibliothekarin? So was sollte repräsentativ sein? Echt jetzt? Eine Person, die mit Büchern zu tun hatte? Der Rest der Welt war schon eine Generation zuvor auf Digital umgestiegen, und da sucht irgendein Blödmann einen Bücherwurm aus, eine, die mit Antiquitäten zu tun hat, als Herausforderung für Fusion? (Auszug Seite 43)

In den Vereinigten Staaten warten zehn Freiwillige auf das Signal „Going Zero“. Dann müssen sie für dreißig Tage untertauchen, bekommen einen Zeitvorsprung von zwei Stunden, bevor die Suche nach ihnen beginnt. Dem Gewinner winkt ein Preisgeld von drei Millionen Dollar. Initiator des Programms ist der Silicon-Valley-Milliardär Cy Baxter. Als Betreiber des mächtigen Tech-Konzerns WorldShare verfügt er über unzählige digitale Spuren und private Daten seiner Nutzer, die man miteinander verknüpfen kann. Das so entwickelte Programm, das auf den Namen Fusion hört, soll nun in einem Betatest auf Herz und Nieren geprüft werden. In der Vergangenheit waren Cy Baxter und seine Partnerin Erika Coogan mal zu dritt. Doch Erikas Bruder wurde von einem Amokläufer getötet. Vor diesem Hintergrund hoffen beide, dass das Programm zur Aufklärung von Verbrechen genutzt werden kann und der Social-Media-Mogul würde es gerne bei Erfolg dem CIA zu lukrativen Konditionen verkaufen. Die besten Programmierer, Analysten und Hacker stehen dabei an Baxters Seite, der dem US-Geheimdienst beweisen muss, dass sein Vorhaben gelingt. In der Fusion-Firmenzentrale in Washington werden sämtliche Überwachungstechnologien eingesetzt, um alle Going-Zero-Programmteilnehmer schon vor Ablauf der dreißig Tage festzusetzen.

Ein Querschnitt der amerikanischen Bevölkerung
Von den zehn ausgewählten Teilnehmenden sind fünf aus dem professionellen Security-Milieu, für die das Aufspüren und Untertauchen zum Geschäft gehört. Die anderen fünf hingegen sind ganz normale Bürger. Laien, die mit Überwachungstechnologien eigentlich nichts am Hut haben, darunter auch die Bibliothekarin Kaitlyn Day, die in ihrem Rucksack natürlich auch ein Exemplar von „Anna Karenina“ dabei haben muss.

Das Tempo ist von Anfang an sehr hoch. Ohne groß zu erklären oder die Figuren zu charakterisieren stürzen wir uns in die rasante Jagd und verfolgen, wie Überwachungsteams mit hochmoderner VR-Technik, Drohnen und Kameras ausgerüstet einen Zero nach dem anderen ausfindig machen. Dabei hat mich sehr gefesselt, mit welchen Methoden die Probanden und Probandinnen versuchen, unter dem Radar zu verschwinden und automatisch ergeben sich Gedankenspiele, wie man selbst agieren würde.

David gegen Goliath
Überraschend erweist sich grade Außenseiterin Kaitlyn Day als schwieriger Fall. Auf clevere und findige Art und Weise gelingt es ihr, sich, teilweise sehr knapp, den Jägern zu entziehen und der Gesichtserkennungssoftware oder der Ortung mittels Handy ein Schnippchen zu schlagen. Entsetzt verfolgt man, wie ein immer nervöser werdender Baxter die Verhältnismäßigkeit der Mittel völlig aus dem Blick verliert, wenn er in kanadisches Hoheitsgebiet vordringt oder Kampfdrohnen in Stellung bringen lässt. Doch ohne zu viel zu spoilern hat auch Kaitlyn Day eine ganz andere Mission, die sie verfolgt. Der Plot-Twist ungefähr nach der Hälfte der Geschichte weiß zu überraschen, ist aber auch etwas unglaubwürdig.

Hocherfreut über die unerwarteten Fähigkeiten der Bibliothekarin, die sich nun doch als Herausforderung entpuppt, haut Cy mit den Handflächen auf die Tischplatte. Wie cool ist das denn! Dank den Bodycams seiner Leute, die (natürlich unbewaffnet) die Verfolgung aufnehmen, ist es, als liefe er selbst dort; sie stürmen die Treppe hinunter, schubsen die jungen Leute beiseite. (Auszug Seite 50)

Es ist durchaus unterhaltsam, wenn die Häscher den Kandidaten mit der ganzen Fülle an Überwachungstechnologien zu Leibe rücken, bei der Gesichter, Körper, Kleidung, Stimmen selbst der Gang und die persönlichen Vorlieben ausgewertet werden. Erschütternd sind die unzähligen Möglichkeiten des Abgleichs von Datenbanken durch die vielen digitalen Spuren, die jeder von uns tagtäglich im Netz hinterlässt. Wenn die neun anderen Spielfiguren auf dem Feld mit mehr Gewicht ausgestattet wären, wäre die Jagd sicherlich noch spannender geworden. Dieses Potential wurde leider verschenkt. Auch Cy Baxter ist arg holzschnittartig wie die schablonenhafte Figur eines erfolgsverwöhnten, machthungrigen und größenwahnsinnigen Silicon-Valley-Milliardärs gestaltet. Wenn man darüber hinwegsehen kann, ist „Going Zero“ ein Pageturner, ein unterhaltsames Katz-und Mausspiel mit der bekannten Dramaturgie „David gegen Goliath“.

Dabei spielt der in Neuseeland geborene Autor mit ethischen Fragen. Welche Daten gibt jeder Mensch im Netz freiwillig von sich preis? Wie weit darf man gehen und wie tief in die Privatsphäre der Menschen eindringen, um Verbrechen zu bekämpfen? Wo sind die Grenzen zwischen Nutzen und Missbrauch? Anthony McCarten ist ein bekannter Drehbuchautor sowie mehrfach ausgezeichneter Filmproduzent, der gründlich über das Thema Überwachung recherchiert hat. Sein bildhafter Erzählstil ist actionlastig mit stakkatohaften Sätzen. Der Thriller lebt von schnellen Perspektivwechseln in kurzen Kapiteln und einer Menge Drive.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Going Zero | Erschienen am 26. April 2023 bei Diogenes
ISBN 978-3-257-07192-4
464 Seiten | 25,00 Euro
Originaltitel: Going Zero | Übersetzung aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Joe R. Lansdale | Moon Lake

Joe R. Lansdale | Moon Lake

Wir waren in unserem klapprigen Buick unterwegs, der noch aus einer Zeit stammte, in der die Autos groß gewesen waren und der amerikanische Traum für jeden erreichbar schien, der weiß, männlich, heterosexuell und gewillt war, ihn zu träumen. Alle anderen mussten eine Nummer ziehen und warten. (Auszug Seite 6)

Daniel Russell ist 14 Jahre alt und lebt alleine mit seinem Vater in Ost-Texas. Seit seine Mutter die Familie vor ein paar Monaten ohne eine Nachricht verließ, hat sein Vater nicht nur seine Arbeit, sondern auch den Boden unter den Füßen verloren. Eines Nachts fährt der verzweifelte und total überforderte Mann mit Daniel zum nahegelegenen Stausee nach New Long Lincoln und hält auf einer klapprigen Brücke. Die Stadt unter dem See, ehemals Long Lincoln war vor Jahren überschwemmt worden. Dannys Vater erzählt ihm, dass er hier aufgewachsen ist und hier auch Daniels Mutter, seine große Liebe kennengelernt hat. Der Ort wurde damals evakuiert, als das Wasser in die Stadt geleitet wurde, befanden sich jedoch noch Menschen in den Gebäuden, von denen viele elendig ertranken. Plötzlich gibt er Gas und lenkt den alten Buick über das Geländer ins eisige Wasser. Während sein Dad mitsamt Wagen in der Tiefe verschwindet, gelingt es dem Jungen, sich zu befreien. Er wird von der etwa gleichaltrigen Ronnie Candles ans Ufer gezogen, die ganz in der Nähe mit ihrem Vater angelte.
Danny kann einige Monate bei den Candles verbringen, die sich liebevoll um ihn kümmern. Die Familie fängt ihn auf und lässt ihn an ihrem Leben teilhaben. So lernt Danny zum ersten Mal in seinem Leben Geborgenheit kennen, aber auch den nach wie vor existenten tagtäglichen Rassismus, dem die schwarze Familie ausgesetzt ist. Schließlich wird eine Tante ausfindig gemacht und er muss zu ihr ziehen.

Leichen auf dem Seegrund
Zehn Jahre später trocknet der Moon Lake aufgrund einer Hitzeperiode komplett aus und legt nicht nur den überfluteten Ort frei, sondern auch den Buick seines Vaters. Im Wagen kann die Polizei nicht nur dessen Überreste sondern auch eine weibliche Leiche im Kofferraum bergen. Chief Dudley vermutet, dass es sich um Daniels Mutter handelt. Dieser, inzwischen Journalist und Autor, kehrt nach New Long Lincoln zurück, um der Sache auf den Grund zu gehen. Zusammen mit Ronnie Candles, die mittlerweile bei der örtlichen Polizei arbeitet, besucht er die überraschend gut erhaltene Stadt auf dem Seegrund. Die beiden stoßen nicht nur auf einige Fahrzeuge, in denen sich weitere Leichen finden, sondern auch auf große Widerstände seitens der Stadt. Diese wird seit Jahrzehnten von einer totalitären Elite-Clique beherrscht, die skrupellos und mit grenzenlosem Egoismus regieren. Was ist dran an den Gerüchten, dass der Rat der Stadt damals aus Gier den Tod der Bewohner billigend in Kauf genommen hatte?

Der fast volle Mond schien auf dem Wasser zu treiben. Ich erinnere mich an seinen Glanz und die Art, wie sich die Schatten der Bäume am Seeufer zu ihm hinstreckten wie Finger aus Schokolade, die nach einem Silberteller greifen. (Auszug Seite 6)

Lansdales Schreibstil besticht gleichermaßen durch Poesie, knackige Metaphern sowie eindringliche Formulierungen für Gewalt, Brutalität und Tod. Der Roman wechselt zwischen verschiedenen Genres hin und her, ist Crime Noir, Coming-of-Age und Mystery gewürzt mit Horrorelementen. Dabei schießt er auch das ein oder andere Mal über das Ziel hinaus und die gruselige Verschwörungstheorie, die hier gesponnen wird, driftet zumindest im Finale ins Absurde ab. Für mich tat das dem Vergnügen jedoch keinen Abbruch und ich genoss die entfesselte Geschichte mit wirklich sehr vielen Leichen und mit einem teilweise abstrusen Plot. Der Roman bietet eine packende Handlung in einer durchweg schaurigen Stimmung, ist gespickt mit überraschenden Wendungen, knochentrockenen Dialogen und ungewöhnlichen Figuren. Die übernatürlichen Sequenzen und menschlichen Abgründe lassen den Lesenden gruseln, der lakonische Humor aber auch oft schmunzeln.

Gesellschaftskritik in trashigen Sequenzen
„Moonlake“ spielt wie so oft in Lansdales Heimat Ost-Texas und geht zurück in die 60er und 70er Jahre. Wobei das Cover scheinbar auch aus dieser Zeit stammt. Der Altmeister teilt gerne aus gegen die stockkonservativen Einwohner der Südstaaten und zeichnet ein wenig positives Bild dieses Landstrichs. Dabei transportiert er fast beiläufig seine Gesellschaftskritik wie Rassismus, Kapitalismuskritik, Fremdenfeindlichkeit und soziale Ungerechtigkeiten mit Horrorelementen in trashiger hardboiled Tradition. Seine Stärken liegen für mich in der Erschaffung lebendiger Charaktere. Seine Figuren bilden stets das Zentrum der Ereignisse, ihre Hintergründe und Beziehungen zueinander sind ihm allzeit wichtig. Das gilt im Besonderen für Daniel, aus dessen Perspektive erzählt wird, dessen Entwicklung wir verfolgen und der seine Menschlichkeit nie verliert.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Moon Lake | Erschienen am 08.11.2022 im Festa Verlag
ISBN 978-3-9867-6030-4
464 Seiten | 26,99 €
Originaltitel: Moon Lake | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Patrick Baumann
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Andys Rezension zu „Ein feiner dunkler Riss“ von Joe R. Lansdale

Matt Query & Harrison Query | Old Country – Das Böse vergisst nicht

Matt Query & Harrison Query | Old Country – Das Böse vergisst nicht

Es war ein fremdartiges Gefühl von Furcht, wie eine Ansteckung, ein Panikvirus, der nicht aus dir selbst kommt, sondern sich von außen einen Weg in dein Bewusstsein bahnt. Ich spürte einen Druck auf meinen Ohren. (Auszug Seite 309)

Eine eigene kleine Farm in der weiten Natur, Ruhe in der ländlichen Abgeschiedenheit. Für das junge Paar Harry und Sasha Blakemore geht ein Lebenstraum in Erfüllung, als sie den Zuschlag für eine Ranch in Idaho bekommen. Voller Vorfreude machen sie sich mit Jagdhund Dash auf den Weg in die Abgeschiedenheit, weit weg von ihren Familien. In den Bergen angekommen sind sie überwältigt von der traumhaft schönen Landschaft direkt vor den Ausläufern der Rocky Mountains. Die nächsten Nachbarn Dan und Lucy Steiner wohnen einige Meilen entfernt. Das ältere Ehepaar steht mit Rat und Tat zur Seite und hilft den Neuankömmlingen, sich in das Leben als Farmer einzufinden.

Das Grauen in der Idylle
Als sie die Blakemores allerdings mit einem uralten Geist konfrontieren, der in jeder Jahreszeit in unterschiedlicher Manifestation die Bewohner des Tals heimsucht, sind Harry und Sasha mehr als skeptisch. Es gibt genaue, auch schriftlich fixierte Anleitungen, um den Geist in Schach zu halten. Wenn die beiden Neufarmer sich an diese Anweisungen halten und die Rituale genauestens befolgen, würde ihnen nichts passieren. Besonders Harry weist die bevorstehenden Heimsuchungen brüsk als abwegige Spinnerei ab und fühlt sich veräppelt. Doch während Harry und Sasha sich langsam einrichten, zum Reiten, Fischen und zur Moorhuhnjagd gehen, bricht das Grauen über die Idylle herein.

Die Handlung ist in 5 Abschnitte unterteilt und folgt der Dramaturgie der Jahreszeiten. Die Perspektive, die kapitelweise zwischen Harrys und Sashas Sicht hin und her wechselt, ist in der Ich-Form verfasst. Dadurch entsteht eine dichte Psychologisierung des jungen Paares. Die Figuren sind sympathisch und authentisch, nahbar und mit Hintergrund gezeichnet. Harry ist ein Afghanistan-Veteran, in Rückblenden erfahren wir viel über die traumatischen Geschehnisse, die er auch noch nicht endgültig verarbeitet hat. Selbst mit seiner Frau, zu der er eine sehr innige und intensive Beziehung pflegt, spricht er nicht über seine Zeit als Marine in den Kriegsgebieten. So liebevoll Harry zu seiner Frau und dem Golden Retriever ist, kann er aber auch schon mal sehr hitzig und impulsiv handeln und wenn er Gefahr für seine Liebsten wittert, fühlt er sich schnell provoziert.

„Ich habe bereits Menschen erschossen, Lucy. Echte Menschen. Dass dieser verdammte … Geist echt ist, beunruhigt mich weit mehr, als einen Kerl abzuknallen, der meine Frau und mein Zuhause bedroht.“ (Auszug Seite 158)

Old Country ist ein mystischer Spannungsroman mit Gruselelementen, wobei die gruseligen Abschnitte doch überschaubar waren. Dabei schleichen sich die schaurigen Szenen langsam an und waren für mich eher skurril als gänsehauterzeugend. Das vorhersehbare Regelwerk konterkariert unweigerlich den Spannungsbogen. Das liegt daran, dass wir aufgrund der Anleitung von Dan und Lucy ja immer schon genau wissen, was passiert. Auch wenn durch Harrys teilweise ungestümes Verhalten das ein oder andere Unvorhergesehene passiert, werden die Gefahren allzu gleichförmig erzählt. Die Zeit zwischen den übernatürlichen Ereignissen war mit detaillierten Beschreibungen des alltäglichen Lebens, traumatischen Erinnerungen und Rückblenden gefüllt.

Horror im Winter
Im letzten Drittel wächst die Bedrohung und das Tempo zieht an. Die Horror-Momente im Winter werden sehr bildhaft und plastisch geschildert und zumindest meine Nackenhaare stellten sich auf. Als klar wird, dass kein Entkommen möglich ist, die Farm verlassen und irgendwo anders neu anzufangen, keine Option darstellt, spitzt sich alles zu.

Old Country ist gradlinig in einer gefälligen Sprache und einer fast heimeligen Erzählweise geschrieben. Der weitläufige Schauplatz wird anschaulich geschildert, die Verbundenheit zur Natur ist omnipräsent. Die Brüder Matt und Harrison Query nehmen sich viel Zeit für Setting und Charaktere. Ich habe immer wieder gerne zum Buch gegriffen, auch wenn es sich eher um eine gemütliche, zurückhaltende Spannung mit einer subtil bedrohlichen Aura handelt. Eine Verfilmung kann ich mir gut vorstellen und das Erfolgsteam Shawn Levy und Dan Cohen, die Macher von Stranger Things, sollen schon ihr Interesse bekundet haben.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Old Country – Das Böse vergisst nicht | Erschienen am 15. Februar 2023 im Heyne Verlag
ISBN 978-3-45332-231-8
432 Seiten | 15.- Euro
Originaltitel: Old Country | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Michael Pfingstl
Bibliografische Angaben & Leseprobe

 

Yves Ravey | Taormina

Yves Ravey | Taormina

Er ist kein übler Ganove, kein skrupelloser Schuft. Und dennoch ist Melvil Hammett, der Ich-Erzähler, die vermutlich unsympathistischste Figur dieses Krimisommers. Das beginnt schon am Anfang der Erzählung: Melvil und Luisa Hammett haben ihren ersten Urlaubstag in Sizilien, mieten sich einen Wagen und sind unterwegs zu ihrem Hotel in Taormina. Doch der Unterton ist nicht so fröhlich und unbeschwert, sondern mit der Ehe steht es offenbar nicht zum besten. Wie man nach und nach erfährt, gab es wohl gegenseitige Affären und Melvil ist aktuell arbeitslos und lässt sich von seiner Frau aushalten, offenbar zum Widerwillen seines Schwiegervaters.

Jedenfalls will es Melvil seiner Frau in diesem Urlaub wohl besonders recht machen. Schon nach kurzer Zeit verlässt er die Hauptstraße, weil er die erstbeste Gelegenheit nutzen will, Luisa das Meer zu zeigen. Doch der Weg zum Strand entpuppt sich als Baustelle und Schotterpiste. Auf dem Weg zurück geraten sie in ein heftiges Gewitter, die Sicht ist sehr eingeschränkt und dann rammt Melvin ein Hindernis auf der Fahrbahn mit dem rechten Kotflügel. Er redet sich und seiner Frau ein, dass es wohl nichts Schlimmes gewesen sein wird – ein Tier vielleicht – und keiner steigt aus. Nichts darf das Gelingen des Urlaubs verhindern – doch meldet die Lokalzeitung am nächsten Tag, dass ein Flüchtlingskind aus einem Lager am Strand angefahren wurde und an den Verletzungen gestorben ist.

Lasse man jeden falschen Verdacht mal außer Acht, erklärte ich, sei es objektiv betrachtetet, weniger schlimm, als es aussehe. Um es klipp und klar zu sagen, Luisa, verstehe mich nicht falsch. Ich sage nicht, dass es weniger schlimm ist, weil es das Kind von Migranten ist, ich möchte nur zu bedenken geben, dass das wahrscheinlich häufiger vorkommt. Ich glaube also, dass die Behörden in der Region Catania nicht gleich alles auf den Kopf stellen werden, um den Verantwortlichen zu finden. Wobei es zunächst keinen Verantwortlichen gibt! (Auszug E-Book Pos. 580)

Melvil Hammett tut in der Folgezeit alles, um den Verdacht von sich abzulenken. Der Wagen muss unauffällig repariert, der Urlaub so fortgesetzt werden wie geplant. Eine Verantwortung weist er weit von sich. Dummerweise hat er schon genug Hinweise auf sich gelenkt, dass die Polizei nicht untätig bleibt. Seine Frau zeigt zwar ein paar mehr Gewissensbisse, tut aber auch nichts, um Melvil aufzuhalten. Und so verfolgt der Leser zunehmend angewidert, wie dieser Typ sich herauslavieren und freikaufen will.

Nur etwas mehr als hundert Seiten umfasst diese schlanke Erzählung. Dabei fand ich die Lektüre hin und wieder etwas anstregend, da der Autor auf direkte Rede verzichtet und Melvil als Ich-Erzähler wirklich nervt. Aber vielleicht schärft dies gerade den Blick in die Psyche der Hauptfigur. Insgesamt überzeugt „Taormina“ als Parabel auf die allgemeine Tendenz in der Gesellschaft zu fehlendem Schuldbewusstsein und zunehmender Verantwortungslosigkeit.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Taormina | Erschienen am 19.06.2023 im Liebeskind Verlag
ISBN 978-3-8479-0115-0
368 Seiten | 22,- €
Originaltitel: Taormine | Übersetzung aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
Bibliografische Angaben & Leseprobe