Yves Ravey | Taormina
Er ist kein übler Ganove, kein skrupelloser Schuft. Und dennoch ist Melvil Hammett, der Ich-Erzähler, die vermutlich unsympathistischste Figur dieses Krimisommers. Das beginnt schon am Anfang der Erzählung: Melvil und Luisa Hammett haben ihren ersten Urlaubstag in Sizilien, mieten sich einen Wagen und sind unterwegs zu ihrem Hotel in Taormina. Doch der Unterton ist nicht so fröhlich und unbeschwert, sondern mit der Ehe steht es offenbar nicht zum besten. Wie man nach und nach erfährt, gab es wohl gegenseitige Affären und Melvil ist aktuell arbeitslos und lässt sich von seiner Frau aushalten, offenbar zum Widerwillen seines Schwiegervaters.
Jedenfalls will es Melvil seiner Frau in diesem Urlaub wohl besonders recht machen. Schon nach kurzer Zeit verlässt er die Hauptstraße, weil er die erstbeste Gelegenheit nutzen will, Luisa das Meer zu zeigen. Doch der Weg zum Strand entpuppt sich als Baustelle und Schotterpiste. Auf dem Weg zurück geraten sie in ein heftiges Gewitter, die Sicht ist sehr eingeschränkt und dann rammt Melvin ein Hindernis auf der Fahrbahn mit dem rechten Kotflügel. Er redet sich und seiner Frau ein, dass es wohl nichts Schlimmes gewesen sein wird – ein Tier vielleicht – und keiner steigt aus. Nichts darf das Gelingen des Urlaubs verhindern – doch meldet die Lokalzeitung am nächsten Tag, dass ein Flüchtlingskind aus einem Lager am Strand angefahren wurde und an den Verletzungen gestorben ist.
Lasse man jeden falschen Verdacht mal außer Acht, erklärte ich, sei es objektiv betrachtetet, weniger schlimm, als es aussehe. Um es klipp und klar zu sagen, Luisa, verstehe mich nicht falsch. Ich sage nicht, dass es weniger schlimm ist, weil es das Kind von Migranten ist, ich möchte nur zu bedenken geben, dass das wahrscheinlich häufiger vorkommt. Ich glaube also, dass die Behörden in der Region Catania nicht gleich alles auf den Kopf stellen werden, um den Verantwortlichen zu finden. Wobei es zunächst keinen Verantwortlichen gibt! (Auszug E-Book Pos. 580)
Melvil Hammett tut in der Folgezeit alles, um den Verdacht von sich abzulenken. Der Wagen muss unauffällig repariert, der Urlaub so fortgesetzt werden wie geplant. Eine Verantwortung weist er weit von sich. Dummerweise hat er schon genug Hinweise auf sich gelenkt, dass die Polizei nicht untätig bleibt. Seine Frau zeigt zwar ein paar mehr Gewissensbisse, tut aber auch nichts, um Melvil aufzuhalten. Und so verfolgt der Leser zunehmend angewidert, wie dieser Typ sich herauslavieren und freikaufen will.
Nur etwas mehr als hundert Seiten umfasst diese schlanke Erzählung. Dabei fand ich die Lektüre hin und wieder etwas anstregend, da der Autor auf direkte Rede verzichtet und Melvil als Ich-Erzähler wirklich nervt. Aber vielleicht schärft dies gerade den Blick in die Psyche der Hauptfigur. Insgesamt überzeugt „Taormina“ als Parabel auf die allgemeine Tendenz in der Gesellschaft zu fehlendem Schuldbewusstsein und zunehmender Verantwortungslosigkeit.
Foto & Rezension von Gunnar Wolters.
Taormina | Erschienen am 19.06.2023 im Liebeskind Verlag
ISBN 978-3-8479-0115-0
368 Seiten | 22,- €
Originaltitel: Taormine | Übersetzung aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
Bibliografische Angaben & Leseprobe