Autor: Nora

James Kestrel | Bis in alle Endlichkeit

James Kestrel | Bis in alle Endlichkeit

Um eine Millionenerbin zu ermorden, war ich zu sehr damit beschäftigt gewesen, einen Zeugen der Bundesanwaltschaft einzuschüchtern. Was die mögliche Gefängnisstrafe anging, würde ich wahrscheinlich besser dastehen, wenn ich zugab, sie im Vollrausch vom Dach gestürzt zu haben. (Auszug Seite 188)

Leland Crowe, der Protagonist in James Kestrels aktuellem Thriller arbeitet als Privatdetektiv in San Francisco, seit er seine Anwaltslizenz verloren hat. In dem heruntergekommenen Viertel Tenderloin hat er sich in einem schäbigen Hotel einquartiert, um für den Strafverteidiger Jim Gardner in einem spektakulären Fall eines Drogenkartellchefs zu recherchieren. Als er in den frühen Morgenstunden seine Runde um den Block dreht, stolpert er über einen Rolls Royce, der definitiv nicht in diese Gegend gehört. Auf dem eingedrückten Dach entdeckt er die Leiche einer schönen, jungen Frau in einem Cocktail-Kleid, die offenbar aus großer Höhe herabgestürzt ist.

Anstatt die Polizei zu verständigen, das wäre aufgrund seiner illegalen Tätigkeit suboptimal, macht er sich aus dem Staub. Aber nicht, ohne vorher einige Fotos zu schießen, die er meistbietend an Zeitungen verhökert. Geld ist immer knapp, deshalb nimmt er auch den nächsten Auftrag an, den ihm Gardner vermittelt. Die Klientin ist ausgerechnet Olivia Gravesend, einflussreiche Millionärin und Mutter des Opfers. Geld spielt keine Rolle, er soll nur herausfinden, was mit ihrer geliebten Tochter Claire passiert ist. Die Polizei hat den Fall bereits als Suizid zu den Akten gelegt. Das kann sich die verzweifelte Olivia nicht vorstellen, auch wenn sie seit einem halben Jahr nichts mehr von ihrer Tochter gehört hatte.

Die Welt der Reichen und Schönen
Eine erste Spur führt Crowe nach Boston, wo Claire studierte. Hier findet er im Tresor ihres Hauses einen Schlüssel zu einem anderen Haus in San Francisco. Bevor er sich auf den Weg machen kann, wird er von einem maskierten Mann angegriffen, es kommt zu einem brutalen Kampf auf Leben und Tod. Unser Protagonist fragt sich, in was für Machenschaften Claire verwickelt war und was hat es mit den zahlreichen Narben an ihrer Wirbelsäule auf sich? Am neuen Ziel angekommen, findet der Ermittler eine junge und äußerst lebendige Frau vor, die genauso aussieht wie die verstorbene Claire Gravesend einschließlich der seltsamen Narben auf dem Rücken. Nachdem in Crowes Wohnung eingebrochen und sein Büro verwanzt wurde, hat er das Gefühl, in ein Wespennest gestochen zu haben und einer viel größeren Sache auf der Spur zu sein.

Lee Crowe arbeitet als privater Ermittler, seit er seine Zulassung als Anwalt und auch seine Ehefrau verloren hat. Nur am Rande erfährt man, dass er handgreiflich gegenüber dem Obersten Richter wurde, mit dem seine Exfrau Juliette nun zusammen ist. Es spielt für die Geschichte auch keine große Rolle. Typisch für eine Detektivstory wird aus der Ich-Perspektive des Privatschnüfflers erzählt. Dieser hat kein Problem damit, sich auch mal die Hände schmutzig zu machen, geht der Polizei gerne, einer Schlägerei dagegen nie aus dem Weg. Crowe ist ein cleverer Typ, der sich meistens zu helfen weiß, wenn auch oft am Rande der Legalität. Kestrel zeigt uns hier die klassische Figur eines coolen Einzelgängers, immer einen lässigen Spruch auf den Lippen, mitunter zynisch, illusionslos aber auch total einsam.

„Er hat mir gesagt, dass Sie einen flexiblen Umgang mit Regeln pflegen“, sagte Olivia. „Dass Sie einen verbissener Dreckskerl sind. Jetzt weiß ich, was er gemeint hat.“ „Von wem reden Sie?“ „Von Jim Gardner.“ „Das hat Jim gesagt? So nett redet er sonst nie über mich.“ (Auszug Seite 328)

Das düstere Cover mit der Golden Gate Bridge fällt sofort ins Auge und erinnert in seiner Gestaltung an den Vorgänger, ein wahres Krimi-Juwel des letzten Jahres. Dabei ist „Bis in alle Endlichkeit“ im Original unter dem Titel „Blood Relations“ bereits 2019 erschienen und gar nicht mit dem epischen und mehrfach ausgezeichneten Werk „Fünf Winter“ zu vergleichen sowie auch einem ganz anderen Genre zugehörig. Wir haben es hier mit einem klassischen Hardboiled zu tun. Dabei hat der Autor die traditionelle Detektivfigur in die Gegenwart und damit in ein modernes Setting transferiert.

Meine Meinung
Obwohl man früh ahnt, wohin die Reise geht, hatte mich James Kestrel durch seinen flüssigen und bildhaften Schreibstil von der ersten Seite an am Haken. Besonders gut gefallen hat mir der Witz in den rotzig-geschliffenen Dialogen. Als Leserin verfolgte ich atemlos die nachvollziehbaren Ermittlungsarbeiten, staunte über falsche Fährten und überraschende Twists, genoss die Verfolgungsjagden per Auto und Hubschrauber, fieberte mit bei den Kampfszenen und Explosionen. Ein düsterer Pageturner, knapp und mit viel Tempo erzählt, der mich bestens unterhalten hat.
Das Ende und auch das Nachwort deuten weitere Fälle um Leland Crowe an. Ich würde mich freuen, denn das Zeug zum Serienermittler hat er auf jeden Fall.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Bis in alle Endlichkeit | Erschienen am 09. September 2024 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-51847-435-8
430 Seiten | 20,- Euro
Originaltitel: Blood Relations | Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Stefan Lux
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Andys Rezension zu „Fünf Winter“ von James Kestrel

Best of 2024

Best of 2024

Bevor wir ins frische Krimijahr starten, werfen wir natürlich traditionell einen Blick zurück auf das vergangene Jahr und präsentieren euch unsere Lieblingskrimis aus 2024. Wir haben unser Pensum aus dem Vorjahr nicht ganz halten können, aber dennoch genug Auswahl, um euch jeweils eine Top 3 zu präsentieren. Beginnen wir mit Andys Empfehlungen.

Andys Top 3 in 2024

Da sind wir wieder am Jahresende und werfen einen Blick zurück auf das Lesejahr 2024. Quantitativ gar nicht so schlecht, noch nie habe ich so viele Bücher gelesen und gehört wie dieses Jahr. Es hätten noch mehr sein können, aber einige Sportereignisse wollten auch konsumiert werden. Qualitativ leider viel Durchschnittliches, besonders im Hörbuch-Segment habe ich noch nie so viel abgebrochen. Aber es gab auch verlässlich Gutes wie Don Winslows letzten Roman und Abschlussband seiner Mafia-Trilogie „City in Ruins“, in dem er seinen Helden auf eine Reise über Las Vegas bis zum Ursprung Rhode Island schickt. Oder neu Entdecktes wie „Das Haus am Gordon Place“, ein spannender Spionage-Thriller auf zwei Zeitebenen, der uns in die Abwasserkanäle des Wiener Untergrunds führt von Karina Urbach. Eine Autorin, die ich definitiv im Auge behalten werde. Die Höchstwertung mit voller Punktzahl gab es tatsächlich nur einmal und zwar für …

Hervé Le Corre – Durch die dunkelste Nacht
Der in Frankreich bereits mehrfach preisgekrönte Autor hat einen realistischen Polizeiroman vorgelegt, in dem wir drei Menschen durch die Nacht begleiten, deren Schicksale sich im Laufe der Seiten kreuzen. Selten passte ein Titel besser. Es wird immer düsterer und bitterer mit nur wenigen Hoffnungsschimmern. Trotzdem hat mich der Thriller in den Bann gezogen, klebte ich aufgrund der Sprachkraft an den Seiten. Das lag an den präzisen Dialogen, einfühlsamen Beobachtungen, kein Wort wollte ich missen. Ein außergewöhnlicher Roman von hoher literarischer Substanz. Gnadenlos und desillusioniert.

Rebecca F. Kuang – Yellowface
Ganz anders dagegen hat mich der rasante Verlagswelt-Thriller des aktuellen Shooting-Stars der amerikanischen Buchwelt überrascht, in dem eine erfolglose Autorin das Werk einer verstorbenen Autorin als ihres ausgibt und wie nach Riesenerfolg plötzlich die Stimmung kippt. Wie lässig Kuang Themen wie Aneignung fremder Werke, Alltagsrassismus und kulturelle Aneignung zur Sprache bringt, dazu die Einblicke in die Verlagswelt und für mich besonders interessant in die Rezensionskultur der Sozialen Medien hat mich begeistert, auch wenn die Geschichte zum Ende hin etwas schwächelt. Pointiert und scharfzüngig.

James Kestrel – Bis in alle Endlichkeit
Zum Jahresende noch ein Highlight, dessen ausführliche Buchbesprechung im neuen Jahr nachgeliefert wird. Ganz anders als „Fünf Winter“ hat mich der Autor trotzdem wieder mit seinem bildhaften Erzählstil begeistert und scheint sich zu einem neuen Lieblingsautor zu mausern. Wir haben es hier mit einem klassischen Hardboiled zu tun, in dem der Autor die traditionelle Detektivfigur in die Gegenwart und damit in ein modernes Setting transferiert. Atemlos habe ich die Ermittlungsarbeiten des coolen Einzelgängers in San Francisco verfolgt und bei den Verfolgungsjagden mitgefiebert. Lässig und temporeich.

Gunnars Top 3 in 2024

Rein intuitiv würde ich sagen, dass ich schon bessere Lesejahre hatte als 2024. Viele Highlights hatte ich ausnahmsweise bei Sachbüchern (außerhalb des Krimibereiches), die ich in diesem Jahr immer mal gelesen habe. Hinzu kommen zwei starke Romane, die ich im Januar und Februar gelesen habe, die aber schon 2023 erschienen sind und daher im meiner Wertung nicht mehr auftauchen. Doch „Der letzte Wolf“ von S.A. Cosby und „Primat des Überlebens“ von Les Edgerton seien an dieser Stelle trotzdem nochmal empfohlen. Ebenfalls nochmal ans Herz legen möchte ich die Reihe um die Skelfs, Bestattungsunternehmerinnen und Privatdetektivinnen aus Edinburgh, von Doug Johnstone, von der im November Band 3 erschienen ist. Ebenso wie bei Andy habe auch ich nur einmal die volle Punktzahl vergeben, sodass dies hier eindeutig mein Krimi des Jahres ist:

Lavie Tidhar – Maror
Ein epischer Roman voller Wucht und Härte, in der mehrere Jahrzehnte der israelischen Staatsgeschichte neu erzählt werden, nämlich als Geschichte von Korruption, Realpolitik und Verwebungen zwischen staatlichen Akteuren und organisiertem Verbrechen. Wie eine Spinne im Netz sitzt der Kriminalbeamte Cohen. Eine bittere Reise durch die israelische Geschichte mit bemerkenswerter Akribie in Sachen Schauplätze, historische Ereigisse und Popkultur. Der israelische Autor Lavie Tidhar hat diesen Roman in englischer Sprache verfasst. Eine Übersetzung ins Hebräische gibt es bislang nicht, der Autor selbst hält sein Land dafür noch nicht reif.

Alan Parks – Die April-Toten
Eine Reihenfortsetzung, auf die ich mich in diesem Jahr sehr gefreut habe und die meine Erwartungen nicht enttäuscht hat, war dieser vierte Band um den Glasgower Cop Harry McCoy in den 1970er Jahren. Zunächst erschienen die ersten drei Bände bei Heyne Hardcore, nach der Schließung des Verlags war unklar, was mit den weiteren Büchern der Reihe passiert. Nun hat die Reihe eine Heimat im Polar Verlag gefunden. Band 4 führt den Reiz der bisherigen Bände nahtlos weiter: Ein hartgesottener Bulle, die düsteren Seiten Glasgows, staubtrockene Dialoge, temporeich, schwarzer Humor und viele historische und popkulturelle Anleihen. Harry McCoy is back und das ist gut so.

Holger Karsten Schmidt – Finsteres Herz
Zuletzt bringe ich noch einen deutschsprachigen Autor in die Top 3. Holger Karsten Schmidt hat nach die Toten von Marnow erneut seine Ermittler Mendt und Elling zum Einsatz gebracht und einen sehr klugen und packenden Krimi über Menschenhandel geschrieben. Besonderer Kniff sind die Actionszene mit dem Schusswechsel in einem Safe House direkt zu Beginn des Buches und die zahlreichen Rückblenden und Zeitsprünge, denn die Protagonisten sind aufgrund derAnfangsszene schnell außer Gefecht gesetzt. Diese Roman wurde auch vom Autor selbst fürs Fernsehen adaptiert und lieferte die vielleicht beste öffentlich-rechtliche Krimiserie des Jahres ab.

 

Weiterlesen I: Die Preisträger des Deutschen Krimipreises 2024

Weiterlesen II: Die Krimijahresbestenliste 2024

Bernhard Aichner | Yoko

Bernhard Aichner | Yoko

Yokos Leben wird auseinanderbrechen wie ein Glas voller Erinnerungen, das zu Boden fällt. Sie wird es nicht verhindern können, egal, wie laut sie schreien und wie sehr sie sich wehren wird. Von einem Moment zum anderen wird alles, was schön war, verschwinden. (Auszug Seite 9)

Nachdem Yokos Mutter bei ihrer Geburt verstarb, hat ihr Vater Franz, ein Metzger, sie alleine großgezogen. Sie verzichtete auf ein Studium, machte eine Metzgerlehre und pflegte ihn, als er schwer krank wurde, fast sechs Jahre lang. Schon als Kind ging sie in der Fleischerei ein und aus, wobei das Töten und Schlachten der Tierkörper zu ihrem Alltag gehörte. Doch als ihr Vater stirbt, beschließt Yoko, ihr Leben anders auszurichten. Die Endzwanzigerin findet Gefallen daran, knusprige Teigtaschen zu backen, in denen sie selbst kreierte Spruchweisheiten schreibt. Zwei Jahre später hat sie in den ehemaligen Räumen der Metzgerei eine gutgehende Manufaktur für Glückskekse aufgezogen und in Maren ihre große Liebe gefunden.

Zur falschen Zeit am falschen Ort
Eines Tages liefert Yoko in ihrem Wagen eine Ladung Glückskekse an ein chinesisches Restaurant. In dessen Hinterhof wird sie zufällig Zeugin der Misshandlung eines kleinen Straßenhundes durch zwei düstere chinesische Männer, die aus reinem Spaß am Quälen auf das Tier eintreten. Yokos Unrechtsbewusstsein und ihr Mitgefühl treiben sie dazu, sich mutig in die Situation einzumischen. Dadurch gerät sie in eine gefährliche Lage, in der sie selbst in die Fänge der Peiniger gerät. Diese fackeln nicht lange, packen die wehrlose Frau in ihren eigenen Lieferwagen, entführen sie in den Wald und missbrauchen sie.

Yokos Leben wird danach zum Albtraum und nichts ist mehr so wie zuvor. Nicht nur, dass sie einem Exzess aus Gewalt ausgesetzt war, das erlittene Leid durch die Vergewaltigung hat ein Trauma wiederbelebt, dass Yoko schon seit langem verdrängt hatte. Sie beschließt nicht zur Polizei zu gehen, sondern greift zur Selbstjustiz. Nicht ahnend, dass sie dadurch ein Räderwerk in Gang setzt, das sich rasch ihrer Kontrolle entzieht und sie überrollen wird. Denn ihre Gegner sind eigentlich eine Nummer zu groß für sie. Es handelt sich um eine chinesische Triade, eine professionelle kriminelle Organisation, die vor nichts zurückschreckt.

Die chinesische Mafia
Der Thriller ist durchweg rasant erzählt, bietet eine Vielzahl an unerwarteten Wendungen und Überraschungsmomenten und, das sollte nicht unerwähnt bleiben, explizite Gewaltdarstellungen. Der Schreibstil des Autors ist speziell, er arbeitet mit kurzen prägnanten Sätzen. Erwähnenswert und gewöhnungsbedürftig sind die Dialoge. Diese werden nur durch Anstriche gekennzeichnet, wer spricht, ergibt sich aus dem Kontext. Für mich war diese Art des Dialoges, welches wohl ein Erkennungsmerkmal des Autors ist, sehr anstrengend und es fehlte mir an Tiefe. An einigen Stellen konnte ich nur mit dem Kopf schütteln, da Yoko als Figur übertrieben agiert und viele Situationen unrealistisch wirken. Die chinesischen Kriminellen werden einfach oft als tumbe Idioten dargestellt. Beispielsweise beobachtet Yoko zwei von ihnen, die offensichtlich Schutzgelder einkassieren. Als sie das China-Restaurant verlassen, fuchteln sie erstmal feixend mit einem Bündel Geld in der Hand herum. An einer anderen Stelle will Yoko in einem Club mehr über ihre Peiniger rausfinden. Verwandelt als Femme Fatale macht sie sich an den Barmann heran, mit dem sie spielt und den sie so lange an der Nase herumführen will, bis er tut was sie will. Der mäßig selbstbewusste Barmann mit der Hasenscharte ist scheinbar dankbar für die Aufmerksamkeit einer Frau.

Meine Meinung
Yoko ist der erste Roman des Tiroler Autors Aichner, den ich gelesen habe. Im Fokus steht eine starke Frauenfigur, die sich nicht mit der Opferrolle begnügen will. Das hat mir erst mal zugesagt. Allerdings erscheint die Art und Weise wie Yoko ihre Rache an den Tätern vollzieht, angesichts der Tatsache, dass sie es mit der chinesischen Mafia zu tun hat, also professionelle Kriminelle, etwas unrealistisch. Irgendwann wurden mir ihre Entscheidungen und Taten zunehmend unverständlich sowie die Handlung an vielen Stellen zu konstruiert und unglaubwürdig. Ein Zufall reiht sich an den nächsten und die Heldin kann sich durch teilweise unglaubwürdige Geschehnisse immer irgendwie aus der Affäre ziehen. Die Geschichte eines Rachefeldzuges hat mich in Teilen an „Kill Bill“ erinnert, aber in schlecht gemacht. Dabei hat die Idee eines Rache-Thrillers, in dem die Protagonistin keinerlei Skrupel kennt, durchaus ihren Reiz. Das auch noch mit einem in der Kindheit entstandenen Trauma zu verbinden, fand ich zu überfrachtet.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Yoko | erschien am 13. August 2024 bei Wunderlich im Rowohlt Verlag
ISBN 978-3-805-20109-4
336 Seiten | 26,00 Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Weitere Rezensionen zu Romanen von Bernhard Aichner auf Kaliber.17

Holger Karsten Schmidt | Finsteres Herz (Band 2)

Holger Karsten Schmidt | Finsteres Herz (Band 2)

Seit langem ist Holger Karsten Schmidt einer der erfolgreichsten Drehbuchautoren in Deutschland. Der mehrfache Grimme-Preisträger und Fernsehkrimi-Preisträger (u.a. Für „Mord in Eberswalde“) hielt sich lange Zeit mit Romanveröffentlichungen zurück. Der große Erfolg auch auf diesem Segment stellt sich mit der Reihe „Lost in Fuseta“ ein, die er unter dem Pseudonym Gil Ribeiro verfasst. Mitten in diese erfolgreiche Reihe fiel 2020 der Roman „Die Toten von Marnow“ samt dazugehörigem Drehbuch und erfolgreichem TV-Mehrteiler (ebenfalls Gewinner des Deutschen Fernsehkrimipreises). In diesem Roman, angesiedelt in Mecklenburg-Vorpommern, ermitteln die Kommissare Lona Mendt und Frank Elling in mehreren Morden, die offenbar in Zusammenhang mit Medikamententests westdeutscher Pharmafirmen in der ehemaligen DDR stehen. Schmidt hat sich eine Fortsetzung offengelassen und veröffentlichte nun einen zweiten Band – „Finsteres Herz“. Die TV-Ausstrahlung erfolgt ab dem 07.12.2024.

Lona erspürte das Erstarren Sarahs direkt neben sich. Als wäre das Mädchen binnen eines Wimpernschlags erfroren. Selbst seine Gesichtsmuskeln wirkten versteinert.
Lona sah, wie sich ein dunkler Fleck im Schritt der kleinen Zeugin bildete, der sich ausbreitete. Genau der Moment, in dem Bennat von Elling zu Sarah schaute und es ebenfalls bemerkte. (Auszug E-Book Pos. 189)

Mit einem Paukenschlag führt der Autor in diesen Roman ein: Silvester 2006. Ein Ferienhaus im Schnee an einem Mecklenburger See. Ein Zeugenschutzhaus. Lona Mendt, Frank Elling und ihr Chef Mertens betreuen drei Zeugen im Zusammenhang mit Menschenhandel und mehreren Morden, darunter die 12jährige Sarah aus Bulgarien. An diesem Tag sollen die Zeugen eine Aussage bei einer Richterin in Rostock machen. Dazu werden sie von einem Fahrdienst der Bereitschaftspolizei abgeholt. Doch mitten in der Abholung merkt die junge Zeugin, dass dies keine echten Polizisten sind. Es kommt zu einem mehrminütigem Schusswechsel, bei dem am Ende zwei Zeugen und Mertens sowie mehrere Angreifer tot sind, Mendt und Elling schweben am Rande des Todes. Doch es ist ihnen dennoch geglückt, dass Sarah fliehen konnte. Nun sucht nicht nur die Polizei nach der jungen Zeugin.

Staatsanwalt Rost beauftragt Hagen Dudek vom LKA und Maja Kaminski von der Bundespolizei mit den weiteren Ermittlungen. Es gibt offensichtlich ein undichte Stelle bei der Rostocker Polizei und Mendt und Elling hatten in weiser Voraussicht offizielle dienstliche Unterlagen über die Zeugen vernichtet. Zudem befinden sich beide im künstlichen Koma. Dudek und Kaminski müssen die Ereignisse ganz von vorne aufrollen, aber gleichzeitig stehen sie unter engem Zeitdruck, Sarah als erste zu finden.

Das Besondere an diesem Kriminalroman ist die Konstruktion der zeitlichen Ebenen. Der Leser verfolgt nicht nur die Ermittlungen von Dudek und Kaminski in weiterer chronologischer Reihenfolge (wobei bald klar wird, dass einer der beiden seine eigende Agenda verfolgt), sondern der Autor springt auch einige Wochen vor die Silvesternacht zurück und schildert die Ermittlungen von Mendt und Elling, die zu dieser Situation geführt hat. Da sich Dudek und Kaminski auf Mendts und Ellings Spuren bewegen, kommt es dazu, dass innerhalb weniger Buchseiten dieselben Zeugen befragt werden. Diese zeitlichen Sprüngen sind ungewöhnlich, machen aber einigen Reiz an diesem Roman aus.

Schmidt gelingt ein wirklich starker Kriminalroman, der nicht nur mit einem aktuellen Thema wie dem Kampf gegen organisierten Menschenhandel und der schwierigen Rolle der Ermittlungsbehörden punktet, sondern insgesamt einen sehr durchdachten Spannungsaufbau abliefert. Traditionell als Drehbuchschreiber sind die Dialoge sehr überzeugend und nicht zuletzt beeindruckt auch nebenbei die akribische Zeichnung der wichtigsten Figuren, deren private Dinge sich harmonisch in die Story einfügen. Was den deutschsprachigen Kriminalroman betrifft, ist „Finsteres Herz“ mit Sicherheit einer der Highlights diesen Jahres.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Finsteres Herz | Erschienen am 10.10.2024 im Verlag Kiepenheuer & Witsch
ISBN 978-3-462-00616-2
464 Seiten | 17,- €
E-Book: ISBN: 987-3-462-31245-4 | 14,99 €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Gunnars Rezension zu „Die Toten von Marnow“

Morgan Audic | Das kalte Schweigen der See

Morgan Audic | Das kalte Schweigen der See

Fangen wir mal ausnahmsweise mit einem kleinen Rant an. Der betrifft den deutschen Titel des Buches und das Cover. Als Nicht-Autor stelle ich es mir schwierig vor, einem Buch seinen Titel zu geben. Wenn es allerdings aus einer fremden Sprache übersetzt wird, hat der Autor natürlich schon eine Vorgabe gegeben, an die man sich allerdings nicht halten muss. Wenn man in der deutschen Übersetzung vom Originaltitel abweicht, sollte man allerdings gute Gründe dafür haben. Ich kann es vorwegnehmen, die gab es hier aus meiner Sicht nicht. Autor Morgan Audic gab seinem Thriller den wie ich finde wunderbaren Titel „Personne ne meurt à Longyearbyen“, „Niemand stirbt in Longyearbyen“. Ein Titel, der zum einen mit dem Inhalt verknüpft ist, denn es wird erläutert, dass man auf Spitzbergen Todesfälle tunlichst vermeidet. Die Einwohner bleiben meist nur temporär auf diesem kargen Stück Land im Nordpolarmeer, es gibt nur wenige wirklich alte Menschen, ernste Krankheitsfälle werden ans Festland nach Norwegen gebracht. Und dennoch zeigt der Plot, dass sehr wohl jemand stirbt, in diesem Fall gewaltsam – und führt den Titel charmant ad absurdum. Der deutsche Titel „Das kalte Schweigen der See“ kann zwar behaupten, dass es im Buch um Meeresforschung geht, ist aber letztlich ein langweiliges Marketingkalkül. Dass noch durch den furchteinflössenden Eisbären auf dem Cover ergänzt wird (die französische Ausgabe macht es leider auch). Ja, ein Eisbär kommt am Anfang prominent vor, aber das wirkt auf mich etwas plump. Echt schade, dass der Verlag hier Cover, Titel und Inhalt nicht angemessen zusammenhalten kann

Nun aber zum Inhalt. Longyearbyen auf Spitzbergen, eine der nördlichsten Siedlungen der Erde. Früher wurde vor allem Kohle gefördert, heute lebt die Stadt hauptsächlich von Tourismus und Forschung. Die Besonderheit von Spitzbergen: Durch einen alten Vertrag besitzen auch die Russen Schürfrechte und haben ihre Präsenz aus geostrategischen Grund nie aufgegeben. Auf Spitzbergen ist der Eisbär das größte Raubtier, daher müssen alle Bewohner außerhalb der Siedlungen eine Waffe mit sich führen. Dies scheint auch der jungen Forscherin Agneta Sørensen zum Verhängnis geworden sein, die den Kadaver einer Pottwals untersuchen wollte. Offenbar wurde sie von einem Eisbär überrascht, hatte kein Gewehr dabei und wurde getötet. Doch die ermittelnde Kommissarin Lotte Sandvik hat von Beginn an ein komisches Gefühl. Die Forscherin galt als gewissenhaft, hatte sonst immer ihr Gewehr dabei. Die beiden russischen Sicherheitsleute, die die Leiche gefunden haben, scheinen ihre Aussagen abgestimmt zu haben. Bald wird es Gewissheit: Die junge Frau wurde ermordet und später einem Eisbären zum Fraß vorgelegt.

Sie wurde von einem vagen Unbehagen ergriffen. Irgendetwas stimmte nicht mit diesem menschlichen Körper. Natürlich waren da die offenkundlichen Spuren der Bestialität des Bären. Bisse, Kratzspuren, zerfetzte Haut. Aber sie hatte das gefühl, noch etwas anderes wahrzunehmen. Etwas wie eine menschliche Absicht. (Auszug E-Book Pos. 149)

Währenddessen fliegt der Reporter Nils Madsen nach Tromsø. Auf den Lofoten hat seine langjährige Kollegin und ehemalige Lebenspartnerin Åsa Hagen Selbstmord begangen, ist einfach von einer Brücke ins kalte Meer gesprungen. Madsen – voller Trauer – kann sich nicht so einfach mit dem Selbstmord abfinden und beginnt zu recherchieren. Dabei kommt schnell heraus, dass Åsa bedroht wurde. Sie betrieb ein Unternehmen für Whalewatching und setzte sich auch sonst sehr für die Meeressäuger der Region ein. Ein Engagement, für das sie von den lokalen Fischern angefeindet wurde. Madsen sammelt immer mehr Indizien, die für einen Mord sprechen – und bringt sich selbst in die Schusslinie.

Autor Morgan Audic ist im Hauptberuf Gymnasiallehrer für Geographie und Geschichte. „Das kalte Schweigen der See“ ist sein dritter Roman, der erste in deutscher Übersetzung. Die Grundidee zu diesem Plot kam ihm nach eigenen Angaben bei einer Fahrt auf einem Schiff einer Umweltorganisation in der Normandie. Der Background des Autors wirkt sich auch auf das Geschehen im Buch aus. Der Mord an zwei Personen, die Meeresforschung betreiben oder sich für den Schutz des Meeres einsetzen, lässt auf einen Ökothriller schließen. Tatsächlich dreht sich einiges um das Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Doch Audic fächert es breiter auf, bringt viel Landeskunde, Historie und vor allem auch Geopolitik mit in die Handlung ein.

Nicht ganz neu ist die Wahl der Protagonisten und vor allem ihr angeknackstes Seelenleben. Während Lotte Sandvik aufgrund eines traumatischen Einsatzes in ihrer vorherige Dienststelle in Oslo unter einer Angststörung leidet, die sie versucht, vor den Kollegen zu verheimlichen, ist Nils Madsen als Kriegsberichterstatter ein Getriebener, der es im ruhigen, beschaulichen Norwegen kaum aushält. Die Spannungskurve und der Aufbau des Romans sind gut gewählt, nach ein paar Kapiteln wechselt der Schauplatz und die Perspektive. Interessant ist zudem, dass dem Leser natürlich klar ist, dass beide Fälle miteinander zu tun haben müssen, Audic die beiden Handlungsstränge aber erst sehr spät zusammenführt.

Zusammenfassend kann ich sagen, dass mir der Roman ganz gut gefallen hat. Morgan Audic schafft es, ein interessantes polares Setting mit einem nicht alltäglichen Plot zu verknüpfen. Da kann man einen nicht ganz so gelungenen deutschen Titel (und Cover) ganz gut verschmerzen.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Das kalte Schweigen der See | Erschienen am 17.04.2024 im Hoffmann & Campe Verlag
ISBN 978-3-455-01821-9
416 Seiten | 24,- €
Originaltitel: Personne ne meurt à Longyearbyen | Übersetzung aus dem Französischen von Tobias Scheffel und Claudia Steinitz
Bibliografische Angaben & Leseprobe