Autor: Nora

Kate Atkinson | Nacht über Soho

Kate Atkinson | Nacht über Soho

Nellie war müde. Vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben erschöpfte sie der unbarmherzige Tatendrang, der notwendig war, um ihre Leben voranzutreiben. Der anker des Amethyst, das Gewicht ihres gesamten Imperiums, zog sie nach unten. (Auszug E-Book Pos. 650).

Frühjahr 1926: Nach einer kurzen Haftstrafe wegen Verstöße gegen Schankbestimmungen wird Nachtclubkönigin Nellie Coker aus der Haft entlassen. Unter einem großen Menschenauflauf kehrt sie standesgemäß in ihr Reich aus mehreren Clubs zurück. In den Jahren des ersten Weltkriegs fiel ihr Hehlerware bestehend aus kostbarem Schmuck in die Hände, welche sie geschickt eingesetzt hat und nach und nach zur Besitzerin erfolgreicher Nachtlokale wurde. Sie bewegt sich allerdings natürlich immer noch im Dunstkreis der kriminellen Gangs von London. Ihre fünf Clubs namens Pixie, Foxhole, Sphinx, Crystal Cup und Amethyst zählen zu den angesagtesten Locations des Londoner Nachtlebens. Mitglieder der Königsfamilie, Stars und solche, die werden wollen und die sonstige High Society tummeln sich dort. Doch die Clubs sind auch im Visier von anderen: Von Rivalen, die sich das Imperium gerne unter den Nagel reißen würden oder alte Rechnungen beglichen haben wollen. Und von der Polizei, konkret von John Frobisher. Ihm missfällt das halblegale Reich, dass sich Nellie Coker aufgebaut hat. Vor allem aber glaubt er, dass die Königin von Soho irgendetwas mit den zahlreichen Mädchen zu tun hat, die in der Londoner Nacht verschwinden und von denen einige ertrunken aus der Themse gezogen werden.

Frobisher möchte hierzu undercover die ehemalige Krankenschwester und Bibliothekarin Gwendolen Kelling bei den Cokers einschleusen. Gwendolen hat sich dazu bereit erklärt, weil sie tatsächlich nach zwei Mädchen aus ihrer Heimat York sucht. Freda und Florence sind ausgerissen und nach London gefahren, um hier – wie so viele minderjährige Mädchen – im Glück als als Tänzerinnen zu versuchen. Doch von den beiden fehlt jede Spur (der Leser begleitet die beiden allerdings durch den Moloch London) und so will Gwendolen Frobisher helfen. Das Vorhaben scheint zu funktionieren, denn als es in einem Club zu einem Schusswechsel kommt, kann sich Gwendolen als Ersthelferin profilieren und erhält ein Jobangebot von Nellie Coker. Doch wie entwickelt sich ihr Verhältnis zu Nellies ältestem Sohn Niven, der Gwendolen einige Tage zuvor zufällig behilflich war, als sie von Diebinnen ausgeraubt wurde?

„Sagen Sie, Miss Kelling, was bedeuten sie Ihnen? Diese Mädchen.“
„Es sind Mädchen, die vermisst werden, Miss Shelbourne, das bedeuten sie mir.“
„Ich würde es in den Nachtclubs versuchen, wenn ich Sie wäre. Mädchen wie Freda sind Frischfleisch für die Nellie Cokers dieser Welt. Sie verschlingen sie. […]“ (Auszug E-Book Pos. 2069).

Und so spannt Kate Atkinson ein faszinierendes Panoptikum über London in den Goldenen Zwanzigern. Dabei schöpft sie aus einem üppigen Figurenpersonal. Neben Nellie Coker, Inspektor Frobisher, Gwendolen Kelling und Freda sind dies vor allem Nellies fünf erwachsene Kinder Niven, Ellen, Betty, Shirley und Ramsey. Sie sind alle in den Familienbetrieb involviert, allerdings in unterschiedlicher Tiefe und mit unterschiedlichem Engagement. Über einen allwissenden Erzähler, mit multiperspektiver Erzählweise und teilweise zeitlichen Rückblicken wird ein enger Einblick auch in das Private der Figuren gewährt.

Die Britin Kate Atkinson ist seit nunmehr dreißig Jahren erfolgreiche Autorin, die ihre Romane, wenn nicht direkt dem Krimigenre zugerechnet (etwa ihre Jackson Brodie-Reihe), oft am Rande des Genres ansiedelt. So ist auch „Nacht über Soho“ kein klassischer Krimi oder Thriller, sondern ein historischer Roman mit klaren Genrebezügen. Als deutscher Leser fällt als Bezugspunkt natürlich die Gereon Rath-Reihe von Volker Kutscher ein oder eher noch die Serienadaption „Babylon Berlin“. Anders als dort legt Atkinson allerdings keinen Schwerpunkt auf die politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen. Stattdessen konzentriert sie sich beim Setting auf den konkreten historischen Moment. Inspiriert wurde sie, wie sie im Nachwort erwähnt, vom Leben von Kate Meyrick, die damals für viele Jahre Königin der Clubs von Soho war und der die Figur Nellie Coker nachempfunden ist.

„Nacht über Soho“ ist ein schillernder historischer Roman, der tief ins Nachtleben Londons der 1920er Jahre führt und eine vergnügenssüchtige Gesellschaft porträtiert, die der traumatischen Vergangenheit nur allzu gerne entfliehen will. Pulsierende Nachtclubs, Künstlerbohéme, das harte Leben auf Londons Straßen, rivalisierende Gangs, korrupte wie integre Polizisten. Dabei beeindruckt vor allem das üppige Personal, das Kate Atkinson gekonnt durch den Roman leitet, und bei dem eindeutig die Frauenfiguren die Handlung dominieren. Insgesamt ein spannender, mitreißender Roman, der die Roaring Twenties nochmal stilecht auferstehen lässt.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Nacht über Soho | Erschienen am 13.05.2025 im Dumont Verlag
ISBN 987-3-9505744-0-1
560 Seiten | 22,- €
Originaltitel: Shrines of Gaiety | Übersetzung aus dem Englischen von Anette Grube
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Angie Kim | Happiness Falls

Angie Kim | Happiness Falls

„Also ist Dad nie nach Hause gekommen. Eugene ist allein heimgekommen, unser Vater war den ganzen Tag weg und dir ist es nicht mal aufgefallen“, sagte John. (Auszug E-Book Position 354 von 7427)

Im Mittelpunkt dieses tragischen Familiendramas stehen die Parksons, eine 5-köpfige Akademikerfamilie mit südkoreanischen Wurzeln, die in einem Vorort von Washington lebt. Mutter Hannah ist koreanischer Abstammung und Professorin für Linguistik. Vater Adam hat seinen Beruf aufgegeben und kümmert sich seit einigen Jahren um Haushalt und Kinder. Das sind die 20-jährigen Zwillinge Mia und John, beide studierend, zurzeit wegen der Corona-Pandemie zu Hause. Intensive Betreuung benötigt der 14-Jährige Eugene. Er befindet sich im Autismus Spektrum und leidet zusätzlich an dem Angelmann Syndrom, das sich in einem ungewöhnlich fröhlichen Verhalten mit häufigen Lächeln und Lachen äußert. Seine Motorik ist dadurch eingeschränkt und er kann nicht sprechen.

Eines Tages kehrt Eugene allein und ungewöhnlich aufgewühlt und mit Blut unter den Fingernägeln von seinem täglichen Spaziergang im naheliegendem River Falls Park mit seinem Vater zurück. Vorher war er verstört auf die Straße gestolpert und hatte einen Autounfall verursacht. Während Adam selbst spurlos verschwunden bleibt, kann Eugene aufgrund der speziellen Art seiner Behinderung nicht erklären, was passiert ist.

Heute, wo ich weiß, was sie gerade entdeckt hatte und vor uns verheimlichte, habe ich den Verdacht, dass sie genau das bezweckt hatte – den guten Cop zu spielen, sich unser Vertrauen zu sichern -, aber damals dachte ich, dass sie einfach nur nett sein wollte. (Auszug E-Book Pos. 611 von 7427)

Vom Verschwinden ihres Vaters berichtet die blitzgescheite Mia rückblickend aus der Ichperspektive. Ihr Erzählstil ist analytisch und sehr ausschweifend. Davor warnt sie die Lesenden auch gleich zu Anfang. Das wird vielleicht nicht jedem Lesetyp zusagen, ich mochte diese ausführlichen Erläuterungen, denn Mias mäandernde Gedankengänge und Fußnoten sind intelligent, reflektiert und oft sehr witzig. Dabei bleibt der Spannungsbogen stets straff gespannt, denn wir erleben durch Mia nicht nur die folgenden Stunden und Tage auf der Suche nach Antworten, sondern kommen einer Reihe von schockierenden Geheimnissen auf die Spur, die Adam anscheinend vor seiner Familie verborgen hatte. Adams Tagebuch gibt Rätsel auf und ein im Park aufgenommenes Handyvideo lässt Schreckliches vermuten. Jede neu gewonnene Enthüllung überrascht und erhöht die Spannung. Je mehr ans Licht kommt, desto mehr gerät jedoch Eugene ins Zentrum der Ermittlungen. Zusätzlich zur Sorge um den vermissten Vater, versuchen die Parksons nun, Eugene vor den sich verschärfenden Verdächtigungen der Polizei zu beschützen, auch weil sie Angst haben, das Sorgerecht zu verlieren.

Mir ging auf, dass die Vorstellung tatsächlich auf eine zutiefst tragische Art irgendwie amüsant war, dass unser Vater ein geheimes Zweitleben hatte und damit durchkam, weil er sich darauf verlassen konnte, dass Eugene nicht sprach. (Auszug E-Book Pos. 2461 von 7427)

Neben dem Vermisstenfall geht es auch um Kommunikation, Sprache und unsere voreingenommene Wahrnehmung von Menschen mit einer Sprachbehinderung, bei denen oft einfach eine kognitive Beeinträchtigung vermutet wird. Da Eugene seine Gedanken nicht in Worte fassen kann, wird er als geistig zurückgeblieben wahrgenommen, sogar seine ihn liebende Familie behandelt ihn wie ein Kleinkind. Um ihn zu beruhigen, verbringt er viel Zeit damit, sich Zeichentrickfilme auf dem IPad anzusehen.

Doch Mia gelingt es, ihre Sicht zu überdenken, als sie sich an die Zeit erinnert, als die Familie mehrere Jahre in Süd-Korea gelebt hatte. John, der optisch nach seinem weißen Vater kommt, wurde auch schon für die bescheidensten Koreanisch-Kenntnisse überschwänglich gelobt, während seine Zwillingsschwester, die mehr ihrer koreanischen Mutter ähnelt, als dumm angesehen wurde, wenn sie Fehler im Koreanischen machte. Auch ihre Mutter Hannah wurde in ihrer Anfangszeit in den USA aufgrund ihrer sprachlichen Schwierigkeiten als geistig minderbemittelt angesehen.

Angie Kim behandelt in „Happiness Falls“ mit den Herausforderungen einer Mischlingsfamilie, elterlichen Geschlechterrollen, Rassismus-Erfahrungen in zwei Ländern, Eugenes Handicap und den Kontaktverbot während des Lockdowns 2020 sehr viele Themen. Auch die Glücksforschung nimmt Raum ein, da Adam sich von seiner Familie unbemerkt damit beschäftigt hatte. Die schriftlich in seinem Tagebuch dokumentierten Experimente an seiner eigenen Familie werden durch Studienergebnisse untermauert. Mias Zynismus steht dabei im Kontrast zum Optimismus ihres Zwillingsbruders John. Die Relativität von Glück zieht sich wie ein roter Faden durch die Handlung.

Für mich ein mit interessanten psychologischen Beobachtungen gespickter, vielschichtiger und tiefgründiger Pageturner mit gut entwickelten Charakteren, den ich kaum aus der Hand legen konnte.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Happiness Falls | erschienen am 15 April 2025 bei hanserblau
ISBN 978-3-4462-7965-0
Printausgabe: 544 Seiten | 24,00 Euro
Originaltitel: Happiness Falls | Übersetzung aus dem Englischen von Wibke Kuhn
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Rezension zu Angie Kims Roman „Miracle Creek“

Dirk Schmidt | Die Kurve

Dirk Schmidt | Die Kurve

„Carl, nennen Sie mich Carl. Carl aus Herne.“
„Aus was?“
„Herne. Vergessen Sie es wieder. Herne ist nämlich ein Ort zum Vergessen oder Nie-davon-gehört-Haben. In Herne will man nicht leben und nicht sterben. Zum da Rauskommen ist Herne allerdings so gut wie jeder andere Ort. Warum haben Sie mich angerufen?“ (Auszug S. 11).

In Herne hat allerdings damals alles angefangen. Im Jugend- und Freizeitzentrum „Die Kurve“ war Carl der Betreuer und hatte die wilde Mischung der Jugendlichen ganz gut in Griff. Seine Klientel war nicht einfach zu händeln, meist aus armem trostlosem Zuhause, Kleinkriminalität, Drogen, Gewalttätigkeit. Carl konnte gut mit den Jugendlichen, ein paar wuchsen ihm besonders ans Herz. Und dann stellte Carl fest, dass man mit ihnen ein Geschäft ganz anderer Art aufbauen konnte.

„Was ich anbiete? Alles. Alles, was Sie sich vorstellen können. […] Die meisten meiner Kunden bevorzugen allerdings Dienstleistungen, die sich ihren unmittelbaren Möglichkeiten entziehen. Zur Frage, ob sie mir vertrauen können, kann ich nur sagen, dass ich absolut und einhundertprozentig vertrauenswürdig bin.“ (Auszug S. 11-12).

Heute betreibt Carl ein exklusives, aber auch riskantes Unternehmen für kriminelle Dienstleistungen aller Art, auch tödlicher Art. Carl lebt inzwischen in Monaco (großartiger Running Gag, dass er mit beiläufigen Äußerungen seinen Aufenthaltsort verschleiern will, etwa: „Ich schnapp‘ mir das Boot und fahre rüber nach Acapulco, da ist heute Abend All-you-can-eat-Burrito-Buffet.“) und zieht die Fäden. Er erhält Anrufe, seine Nummer wird im Vertrauen weitergegeben. Dann setzt er seine Leute ein: Betty etwa, Ridley oder Schneider. Per Telefonat gibt er Anweisungen, will regelmäßig unterrichtet werden. Er hält ein strenges Regiment, alles, was man ihm sagt, kann auch gegen einen verwendet werden. Er kümmert sich aber auch um seine Leute, verlangt dafür aber absolute Loyalität. Seine Telefonate und Dialoge, die sich um geschäftliche Dinge, aber auch um das Seelenleben seiner Mitarbeiter drehen, gehören zu den Höhepunkten dieses Romans.

Die Aufträge, die Carls Crew bearbeiten muss, sind durchaus speziell. Ridley darf einen alten Mafiaboss aus Neapel und seine Tochter auf einer Tour durch Deutschland begleiten, bei der es offenbar um dessen Nachfolge geht. Betty hingegen soll den Tod einer jungen Amerikanerin aufklären, die sich aus der Enge ihrer kriminellen Familie in Detroit nach Berlin befreit hatte und dort nach einer Partynacht tot im Kanal aufgefunden wurde. Währenddessen gibt Schneider den Ausputzer im Hintergrund.

„Ich soll Ihnen Grüße bestellen. Von Mustapha.“ […]
„Ich kenn keinen Mustapha“, entgegnet der Dönerbudenbesitzer.
„Oh“, sagt Schneider. „Dann muss ich Sie wohl verwechselt haben. Das tut mir jetzt aber leid.“
„Was…?“
Schneider trifft ihn ziemlich genau in den Mund. Nicht ganz einfach bei den Lichtverhältnissen. (Auszug S.153)

Autor Dirk Schmidt ist als Drehbuchautor bekannt, insbesondere für den Radio Tatort um die „Task Force Hamm“. „Die Kurve“ ist sein erster Genreroman seit zehn Jahren. Für mich überzeugen vor allem die Attitüde, der Ton und die ungewöhnlichen Orte des Romans. Carl und sein Geschäft kommen hier ziemlich lässig rüber – vor allem die Dialoge habe ich gerne gelesen. Der Plot hingegen wurde hingegen für meinen Geschmack manchmal etwas zu sehr nebenbei behandelt, so richtig packend wurde es selten. Aber das war sicherlich auch so gewollt in diesem komplexen Roman, der insgesamt auf jeden Fall eine interessante und kluge Abwechslung im Genre bietet.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Die Kurve | Erschienen am 17.03.2025 im Suhrkamp Verlag
ISBN 987-3-518-47480-8
276 Seiten | 17,- €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Dolores Redondo | Wenn das Wasser steigt

Dolores Redondo | Wenn das Wasser steigt

Sie würde darauf eingehen, weil er ganz zauberhaft war, weil sie mit dem Bus gekommen war und weil alle einen Freund mit einem Auto haben wollen. Sie würde darauf eingehen, obwohl in den Zeitungen ständig von den vielen Frauen zu lesen war, die spurlos verschwanden, obwohl man ihnen mit Sicherheit tausendmal gesagt hatte, dass sie nicht zu Unbekannten ins Auto steigen sollte. (Auszug S. 15).

Der Serienmörder Bible John ist vielleicht der bekannteste Cold Case der schottischen Kriminalgeschichte. Von Februar 1968 bis Oktober 1969 erdrosselte der Täter drei junge Frauen, die er zuvor im Glasgower Tanzclub „Barrowland Ballroom“ kennengelernt hatte. Der Schwester eines Opfers, die ebenfalls im Tanzclub gewesen war und anschließend sogar noch mit ihm und ihrer Schwester ein Taxi teilte, hatte er sich als John vorgestellt und der Taxifahrer sagte aus, dass er sich im Gespräch mehrfach auf die Bibel bezogen habe. Somit wurde er als „Bible John“ bezeichnet. Zu ersten Mal in ihrer Geschichte veröffentlichte damals die schottische Polizei ein Fahndungsfoto. Doch obwohl es einige Zeugenschilderungen und das Phantombild gab, wurde trotz großer Anstrengungen und mehreren tausend Vernehmungen kein Täter ermittelt. Mehrfach wurde in den Jahrzehnten danach nochmal mit moderneren Methoden Anstrengungen unternommen, doch ohne Erfolg. Der Fall des Bible John hat mehrere Autoren zu einer fiktiven Auseinandersetzung inspiriert, etwa Ian Rankin in „Das Souvenir des Mörders“ oder zuletzt Liam McIlvanney in „Ein frommer Mörder“. Nun nimmt sich auch die spanische Autorin Dolores Redondo dieses ungeklärten Kriminalfalles an.

Im Glasgow des Jahres 1983 ist der Fall des Bible John natürlich immer noch präsent und der aufstrebende Inspector Noah Scott Sherrington versucht auf eigene Faust einige Verdächtige näher zu beleuchten. Noah ermittelt außerhalb der Dienstzeit und hört auchh nicht auf Warnungen seines Körpers. Er treibt sich in den Diskotheken rum und beschattet einige seltsame Gestalten. Unter anderem auch einen gewissen John Clyde, den er im Verdacht hat, auch mit weiteren Fällen verschwundener Frauen zu tun zu haben. Eines Abends kommt Noah das Auto von John Clyde zufällig mit hoher Geschwindigkeit an einem Bahnübergang entgegen. Instinktiv folgt Noah dem Wagen bis zum Haus des Verdächtigen an einem See. Im Kofferraum des Wagens findet er tatsächlich ein frische Frauenleiche. Als er im tosenden Gewitter den Verdächtigen festnehmen will, bricht Noah plötzlich zusammen. Er wacht im Krankenhaus wieder auf und erhält die Diagnose, dass er ein todkranker Mann ist, seine Form der Herzschwäche ist nicht wirklich heilbar, kann nur durch Medikamente etwas verzögert werden. Bible John ist allerdings über alle Berge.

Doch Noah will nicht aufgeben. Die Zeit, die ihm noch bleibt, will er nutzen, um Bible John aufzuspüren. Eine Spur führt ihn auf ein Schiff nach Bilbao, dass Bible John wohl zwei Wochen zuvor ebenfalls genutzt hat und sich möglicherweise die Identität des Reedereimitarbeiters John Murray verschafft hat. In Bilbao versucht John trotz seines schlechter werdenden Gesundheitszustands, diesen John Murray im Blick zu behalten. Ist er tatsächlich der Gesuchte? Noah will ganz sicher gehen und gerät doch immer mehr in Zweifel. Währenddessen verschwinden auch in Bilbao junge Frauen und tagelange Regenfälle sorgen für weiteres Unheil.

Das drückende Gefühl der verlorenen Zeit und die geistige Verwirrung sorgten dafür, dass die Theorien, die er mit so viel Mühe erarbeitet hatte, zerfielen wie Chimären. Irrwege, die dazu dienten, seinem Leben, das ihm zwischen den Fingern zerrann und von dem er nun wusste, dass es nutzlos war, einen Sinn zu geben. Vielleicht gab es keinen Mörder, vielleicht war Murray gar nicht Bible John, vielleicht war das alles das Hirngespinst eines todkranken, depressiven Mannes, der unter starken Medikamenten stand. (Auszug S. 358-359).

Ich hoffe, ich habe hier nicht schon zu viel verraten, aber vielleicht merkt man daran auch meine Begeisterung für diese äußerst spannenden und klug geplotteten Roman, in der die Autorin Dolores Redondo mehrere historische Ereignisse (die sich aber nicht immer genau so oder zeitgleich abgespielt haben) zu einem fulminanten historischen Thriller zusammengefügt hat. Mit einem allwissenden Erzähler werden mehrere Personen abwechselnd begleitet. Zudem wird auch mit regelmäßigen Zeitsprüngen ein Blick in Bible John Vergangenheit gegeben. Er wird nicht als gesichtsloser Serienmörder eingeführt, sondern erhält Raum und die Figur macht eine Entwicklung durch. Klarer Fokus liegt aber natürlich auf Noah Scott Sherrington, der als Ermittler ohne Privatleben eingeführt wird, was aber in Bilbao nicht so bleibt. Bei ihm sind es vor allem seine Ängste und Zweifel, was ihm noch vom Leben bleibt und was er damit noch Sinnvolles anstellen soll, die überzeugend herausgearbeitet werden.

Letztlich kommt auch der Schauplatz Bilbao immer mehr zur Geltung. Die stolze Stadt im Baskenland, die schwierige politische Lage Anfang der 1980er mit der ETA, die Stimmung und die Traditionen werden im Roman hervorragend eingefangen. Das Buch und auch die Jagd nach Bible John endet in einer schwarzen Stunde Bilbaos: Die große Überschwemmungskatastrophe vom 26. auf den 27. August 1983, als in der Region nach starkem Regenfall zahlreiche Flüsse über die Ufer traten und mehr als dreißig Menschen zu Tode kamen.

Autorin Dolores Redondo ist im Baskenland geboren und seit knapp 15 Jahren Schriftstellerin. Große Bekanntheit erlangte sie mit der äußerst erfolgreichen Baztan-Trilogie. Der Roman „Alles, was ich dir geben will“ erhielt 2016 mit dem Premio Planeta den derzeit wohl höchstdotierten Literaturpreis der Welt. Die Region des Baskenlands spielt in allen ihren Romanen eine besondere Rolle.

Final kann ich für „Wenn das Wasser steigt“ eine unbedingte Leseempfehlung aussprechen. Ein Katz-und Maus-Spiel, zwei sich gegenüberstehende Figuren, die tief bis ins Innerste ausgeleuchtet werden, geschichtlicher Background und ein eindringlich beschriebener Schauplatz Bilbao sorgen für gepflegte und spannende Unterhaltung auf sehr hohem Niveau.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Wenn das Wasser steigt | Erschienen am 12.03.2025 im btb Verlag
ISBN 987-3-442-77400-5
556 Seiten | 17,- €
Originaltitel: Esperando al diluvio | Übersetzung aus dem Spanischen von Anja Rüdiger
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Tom Hillenbrand | Thanatopia

Tom Hillenbrand | Thanatopia

Im Dezember 2095 taucht in der Donau eine weibliche Wasserleiche auf. Nichts Ungewöhnliches für den erfahrenen und mit seinen fast 75 Jahren dienstältesten Kommissar Wenzel Landauer von der Wiener Polizei. Doch in der Pathologie dann die Überraschung in Form einer zweiten Frauenleiche, die nicht nur identisch aussieht, sondern auch dieselbe DNA aufweist. Beide Tote waren sogenannte Quants, bei denen das organische Gehirn durch einen Computer ersetzt wurde. Dadurch ist es möglich, seinen Verstand in Gefäße hochzuladen und für einige Wochen ein anderes Leben zu führen. Doch Gefäße müssten eigentlich gekennzeichnet sein, was hier nicht der Fall ist.

Landauer kommt mit seiner Assistentin Tish Turquois einer Gruppe von Deathern auf die Spur, die sich illegal in Avatarkörper transferieren, um den Tod zu erforschen. Ich muss dabei immer an „Flatliners“ denken, den Film aus den 1990ern, in dem fünf befreundete Medizinstudenten herausfinden wollen, wie sich ein Hirntod anfühlt. Mit modernster Technik lassen sie sich in den klinischen Tod versetzen und nach einiger Zeit wieder zurückholen.

In einem weiteren Handlungsstrang versucht der internationale Ermittler Carpentras Skyes derweil, den wiederaufgetauchten Galahad Singh zu verhören, der als erster und einziger die sogenannte Knossos-Anomalie betreten hat. Und die indische Astrophysikerin Sahana Chandra Kapoor fliegt nach London, um an einem mysteriösen Kongress teilzunehmen. Anschließend wird sie in einen Autounfall mit einem sogenannten Crasher verwickelt.

Wie der Titel dieses Bandes schon verrät, liegt der Fokus auf den Thanatonauten. Diese erforschen illegal die Grenze zwischen Leben und Tod. Stasja Tschernow ist so eine Thanatonautin, die mehr über ein mögliches Leben nach dem Tod erfahren möchte. Dabei durchläuft sie immer wieder ein Procedere, um sich selbst zu töten. Für das Verfahren nutzt sie Klonkörper, aus denen sie ihr Bewusstsein anschließend immer wieder neu herunterlädt, um mögliche Erkenntnisse für weitere Trips zu gewinnen.

So oft schon war sie hier gewesen, an der Schwelle zwischen Leben und Tod, im Land der Kimmerer, in den Nebligen Gestaden. Was der seiner weltlichen Sinne beraubte, sterbende Verstand dort erblickte, war eine Halluzination, behaupteten einige. Andere verglichen es mit einem Traum. Beides waren metaphorische Krücken und keine besonders guten. (Auszug E-Book Pos. 1363 von 5495)

Das Worldbuilding wurde bereits in den vorherigen Bänden „Hologrammatica“ und „Qube“ vorgestellt und wird nicht weiter erläutert. Immer noch werden Landstriche mit Hologrammen verschönert, die Grenzen zwischen Leben und Tod verschwimmen, gesteuert durch KI-basierte Programme. Zugleich ist die Menschheit durch ein Virus um die Hälfte reduziert, der Klimawandel konnte nicht aufgehalten werden und der überlebende Rest ächzt unter Hitze und Dürren. Viele Zonen sind unbewohnbar geworden, da die Temperaturen regelmäßig über 50 Grad klettern. Die Klima-KI „Aether“ hat sich selbstständig gemacht und das hat wenige Jahre zuvor zum digitalen Zusammenbruch der Gesellschaft geführt.

Im Prolog erleben wir, wie der zwölfjährige Percival Singh (der Bruder von Galahad Singh, dem Protagonisten aus Band 1) mit seinem Vater eine kleine griechische Insel in der Nähe des Lichtdoms besucht. Geheimnisvoll geht es dort vor und Percy beobachtet seinen Vater und versteht nicht recht, was der dort treibt.

Sein Vater, das hat er inzwischen verstanden, unterhält sich per Holocall mit irgendjemand – auf Chittagonisch, auf einer einsamen Insel, nachdem er zuvor das Vaterunser gebetet hat. Und irgendwie geht es um Weihnachtsbäume. Selbst für Dad ist das arg verrückt. (Auszug E-Book Position 287 von 5495)

Der komplexe Thriller wird aus vier bzw. fünf verschiedenen Perspektiven erzählt, die sich zunächst kaum überschneiden. Das macht es für den Leser nicht leicht, im Lesefluss zu bleiben und die Lektüre gestaltet sich recht anspruchsvoll. Ohne die Kenntnisse der beiden vorherigen Bände würde ich es nicht empfehlen. Durch die vielen Sprünge und Personen erreichen die Figuren nicht genug Tiefe. Man wird in eine Szene hineingeschmissen und ist gleich wieder raus und fühlt sich als Leser außen vor.

Auf der Habenseite stehen ein vielversprechender Prolog, ein Wiedersehen mit Galahad Singh und das, was den Autor für mich auszeichnet. Die Fähigkeit, einen brillant konstruierten Science-Fiction-Thriller mit immensen Einfallsreichtum derart rasant zu erzählen und dann noch lässig und wie selbstverständlich die großen philosophischen Themen der Menschheit zu thematisieren. Und ich genieße immer wieder die filmreifen Action-Szenen und den trockenen Humor in den Dialogen.

Es tauchen viele Fragen auf, die Tom Hillenbrand allerdings unbeantwortet lässt. So bleibt es dem Leser überlassen, welcher Ethik er folgt. Und auch das Ende, in dem die verschiedenen Handlungsstränge miteinander verwoben werden und auf ein spannendes Finale zulaufen, bietet noch viel Potential für weitere Geschichten aus dem Hologrammatica-Kosmos.

 

Fotos und Rezension von Andy Ruhr.

Thanatopia | Erschienen am 13. März 2025 bei Kiepenheuer & Witsch
ISBN 978-3-462-00872-2
384 Seiten | 18.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Andys Rezensionen zu Hillenbrands Romanen „Hologrammatica“ und „Qube