Autor: Nora

Frank Goyke | Saat der Wut

Frank Goyke | Saat der Wut

Auf dem Parkfriedhof in Berlin-Marzahn wird die Leiche von Marija Subotić aufgefunden. Die junge Frau war Romni und betätigte sich politisch und aktivitisch. Sowohl die Gedenksteine auf dem Friedhof als auch die Gedenkstätte in Andenken an ein ehemaliges „Zigeunerlager“ als KZ-Außenstätte vor dem Friedhof sind mit Hakenkreuzen verschmiert. Für das Kripo-Team um Jasper Ackermann ein ernst zu nehmender Ermittlungsansatz, doch nicht der einzige, denn als Aktivistin hat die Tote sich einige Personen zum Gegner gemacht.

„Ich habe mich näher mit der Geschädigten befasst und festgestellt, dass von ihr 23 Anzeigen gegen unbekannt bei der Berliner Polizei vorliegen“, sagte Täschner […] „23 Anzeigen wegen Volksverhetzung, Beleidigung, übler Nachrede oder Verleumdung und auch Straftaten nach §241 StGB.“
„Bedrohungen also auch.“ Ackermann beugte sich vor. „Was für Drohungen?“
„Morddrohungen, aber auch Drohungen mit Taten, die gegen die sexuelle Selbstbestimmung gerichtet sind. Eine Kostprobe gefällig?“ (Auszug S. 67)

Marija Subotić war sehr aktiv als Antifaschistin und als Aktivistin für die Rechte von Sinti und Roma, hat auch zur Geschichte des Porajmos, des Genozids an den Sinti und Roma während der NS-Zeit, recherchiert und Material dokumentiert. Dafür wurde sie an vielen Stellen angefeindet. Zudem hat sie sich auch mit der eigenen Familiengeschichte beschäftigt, ist dafür nach Serbien gereist und hat dort Unerwartetes recherchiert. Letztlich war sie auch Teil von parteiinternen Auseinandersetzung bei der Partei „Die Linke“. Somit gibt es einen extrem breiten Ermittlungsansatz für die ermittenden Beamten.

Frank Goyke, seit über dreißig Jahren als Krimiautor aktiv, aktuell betreibt er übrigens gemeinsam mit Buchhändlerin Cornelia Hüppe auch einen Krimi-Podcast („Mit Knarre, Koks und kalter Platte“), setzt in diesem Roman großen Wert auf eine akkurate Beschreibung der Ermittlungsarbeit. Jasper Ackermann und seine Kollegen müssen eine Vielzahl von Indizien durchforsten, so einige Zeugen befragen und intensive Recherchen machen. Dennoch gelingt es dem Autor, einen gewissen Spannungsbogen in diesem klassischen Whodunnit zu erhalten.

Die gesellschaftspolitische Komponente ist sicherlich das Interessanteste an diesem Krimi. Das zentrale Thema, der Genozid an den Sinti und Roma und die heutige Situation dieser Minderheiten, ist ansprechend wiedergegeben. Noch Luft nach oben hat für mich das Ermittlerteam, die Unterschiedlichkeit der Figuren wirkten etwas gewollt und auch die Dialoge fühlten sich manchmal etwas verkrampft an. Und die Auflösung am Ende war für mich zu risikolos, ohne hier zu spoilern, da hatte ich auf eine brisantere Lösung gehofft. Alles in allem aber ein solider, gesellschaftlich-politisch relevanter Krimi.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Saat der Wut | Erschienen am 31.08.2023 im Jaron Verlag
ISBN 978-3-89773-892-8
224 Seiten | 15,- €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Calla Henkel | Ein letztes Geschenk

Calla Henkel | Ein letztes Geschenk

Rückblickend könnte man meinen, ich hätte mich mit meiner Leidenschaft für True Crime auf Naomis Ermordung vorbereitet, hätte im übertragenen Sinne Gewichte gestemmt und meine Muskeln gestählt. (Auszug Pos. 28 von 4891)

In New York lernt die Künstlerin Esther Ray auf der Vernissage einer Freundin die Multimillionärin und Wohltäterin Naomi Duncan kennen. Eigentlich verabscheut Esther die Welt der Superreichen genauso wie die Kunstszene. Sie versteht sich eher als geerdete Kunsthandwerkerin, die Bücher von Hand bindet und mit ihrer Partnerin zurückgezogen in den Bergen lebt. Aus diesem Grund lehnt sie, trotz fürstlichem Honorar, erstmal Naomis Angebot ab, für deren Ehemann zu seinem 60. Geburtstag sogenannte Scrapbooks zu erstellen. Das sind aufwendig gestaltete Fotoalben, die durch künstlerische Verzierungen mit Texten und vielen Aufklebern eine Geschichte erzählen.

Abgründe einer Vorzeigefamilie
Erst als sie in ihren Bungalow in den Blue Ridge Mountains zurückkehrt und feststellen muss, dass ihre Verlobte Jessica sie verlassen hat und sie die Hypothek für das gemeinsame Häuschen nicht alleine auftreiben kann, überlegt sie es sich anders. Daraufhin erhält sie von ihrer Auftraggeberin eine ganze LKW-Ladung voller Kisten mit Material für die Alben, eine Kiste pro Jahr. Darin hat Naomi alles Mögliche gesammelt: Nicht nur Urlaubsfotos, Quittungen und Zeitungsausschnitte sondern auch Klassenarbeiten und Zeugnisse ihrer Tochter, Elternbriefe, Einladungen und sogar Kontoauszüge aus der Firma ihres Mannes. Wichtigste Regel für den Auftrag: Absolute Verschwiegenheit; es soll ja eine Überraschung zum Sechzigsten werden. Esther muss eine Verschwiegenheitserklärung unterzeichnen und der gesamte Kontakt zu Naomi erfolgt über ein extra angeschafftes Prepaid-Handy.

Esther sichtet das Material und je tiefer sie in die Unterlagen eintaucht, desto mehr gerät sie in den Bann von Naomis Familie. Sie erhält Einblicke in deren Geheimnisse und einige Ungereimtheiten lassen sie stutzig werden. Die Abgründe der reichen Vorzeigefamilie haben es in sich. Für Esther eine willkommene Ablenkung von ihrem Liebeskummer und aufgrund ihrer Einsamkeit wird das fremde Leben immer mehr zu ihrem eigenen, sie verliert die professionelle Distanz zu den Duncans. Als Naomi plötzlich bei einem Skiunfall ums Leben kommt, glaubt Esther nicht daran. Die Liebhaberin von True-Crime-Podcasts beginnt fast besessen, selbst Nachforschungen anzustellen um die Hintergründe herauszufinden. Dabei muss sie sich in die Welt von Naomis Familie und Freunden begeben, geht dabei nicht immer legal vor und gerät auch schon mal in lebensgefährliche Situationen. Unerwartet findet sie dabei Hilfe und Unterstützung bei ihrem Nachbarn Patrick, einem verschlossenen alten Mann, der selbst immer noch unter den Folgen eines tragischen Ereignisses aus seiner Vergangenheit leidet.

Schillernde Protagonistin
Mit Esther Ray hat die Autorin einen faszinierenden Charakter geschaffen. Nach und nach erfahren wir Details aus ihrer geheimnisvollen Vergangenheit, zum Beispiel über den frühen Unfalltod ihrer Mutter, der ihr Leben bis heute überschattet und für den nötigen Tiefgang sorgt. Sie hat eine Obsession für True-Crime-Podcasts, ist sehr verbissen, eigensinnig und extrem neugierig. Mit einem hohen Sinn für Gerechtigkeit versucht sie immer, das Richtige zu tun, trifft dabei aber häufig impulsive und moralische fragwürdige Entscheidungen. Als Leser leidet und fiebert man mit.

Ich malte mir aus, wie ich jedes Kleidungsstück von Naomi ausbreiten, mit den Fingern über die Siegel der Vakuumverpackungen streichen und sie dann aufreißen würde. Diesmal würde ich das Rätsel lösen, diesmal würde mir nichts entgehen. (Auszug Pos. 3931 von 4891)

„Ein letztes Geschenk“ ist ein raffiniert komponierter Psychothriller voller nicht vorhersehbarer Kapriolen und innovativer Wendungen, der erstaunlich leichtfüßig und lebendig daher kommt. Dabei wirft die Autorin einen herrlich bissigen Blick in die ineinander verflochtenen Welten der Kunstszene und der Superreichen. Geschickt und fast unbemerkt fließt eine unterschwellige Gesellschaftskritik in die Handlung ein. Der Roman ist höchst amüsant, erfrischend mit einem atemlosen Plot.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Ein letztes Geschenk | Erschienen am 12. Juli 2024 bei Kein & Aber
ISBN 978-3-0369-5043-3
464 Seiten | 25,00 Euro
Originaltitel: Scrap | Übersetzung aus dem Englischen von Verena Kilchling
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Vor 65 Jahren: Ross Macdonald | Der Fall Galton

Vor 65 Jahren: Ross Macdonald | Der Fall Galton

Er trat gewissermaßen in die Fußstapfen der großen zwei (Chandler und Hammett) der klassischen amerikanischen Hardboiled Novel und wurde zu einem der erfolgreichsten Autoren des Genres: Ross Macdonald, geboren 1915 als Kenneth Millar in Kalifornien (lebte aber ab Kindheit und Jugend bis Anfang der 1940er in Kanada). Seinen Künstlernamen wählte er, um sich von seiner ebenfalls im Krimigenre sehr erfolgreichen Ehefrau Margaret Millar abzugrenzen. Während er als Lehrer arbeitete und seinen Militärdienst ableistete, war sie schon früher als Autorin aktiv (und erfolgreich) als ihr Mann. Zwischen den Eheleuten kam es in den Jahren zu großer schriftstellerischer Konkurrenz bis hin zu häuslicher Gewalt. Leidtragende war ihre gemeinsame Tochter Linda (geboren 1939), die nicht nur die häuslichen Streitigkeiten ihrer Eltern erdulden musste, sondern auch mal mehr, mal weniger offensichtlich in den Figuren der Romane ihrer Eltern auftauchte (hier der sehr interessante Essay von Frank Göhre im Crimemag zu diesem Thema). Linda Millar starb 1970 an einer Medikamentenüberdosis, vermutlich ein Suizid, wenngleich nie vollständig geklärt. Kenneth Millar starb 1983, seine Frau elf Jahre später.

1949 erscheint mit „Moving Targets“ (dt.: Das wandernde Ziel / Reiche sterben auch nicht anders) der erste Roman mit Ross Macdonalds Privatermittler Lew Archer. Bis 1976 („The Blue Hammer“) erscheinen 18 Romane. Archer gehört zwar zur klassischen Schule der amerikanischen „hardboiled detectives“ mit den bekannten Größen Sam Spade und Philip Marlowe, doch ihm Gegensatz zu seinen eher zynischen Kollegen ist er empathischer und reflektierter. Oft angesiedelt im wohlhabenden bürgerlichen Milieu Kaliforniens der 1950er und 1960er drehen sich die Fälle regelmäßig um problematische familiäre Verhältnisse, um verdrängte, tief vergrabene Geheimnisse, die aber zwangsläufig irgendwann wieder ans Tageslicht treten. Archer dringt tief in diese Lebenslügen ein und ist aber stets daran interessiert, die Verwerfungen, die sich ergeben haben, zu kitten.

„Erzählen Sie mir etwas über sich selbst. Warum verbringt ein Mann ihrer Art sein Leben mit einer Arbeit, wie Sie sie tun? Verdienen Sie damit viel Geld?“
„Genug, um davon zu leben. Ich tue sie aber nicht des Geldes wegen, ich tue sie, weil sie mir gefällt.“
„Ist es nicht eine schmutzige Arbeit, Mr. Archer?“
„Das hängt davon ab, wer sie tut, wie bei Ärzten und allen anderen. Ich versuche sie sauberzuhalten. (S. 86-87)

„Der Fall Galton“ ist von 1959 und der achte Band der Reihe. Lew Archer wird vom Anwalt Gordon Sable im Namen von Maria Galton, Witwe eines Ölmillionärs, eingestellt. Er soll ihren Sohn Anthony zu finden, der vor zwanzig Jahren im Streit das Haus verlassen hatte und mit seiner schwangeren Frau verschwand. Es geht ums Erbe, Maria Galton möchte sich vor ihrem Tode mit ihrem Sohn versöhnen.
Archer verfolgt einen Hinweis in die Nähe von San Francisco und findet heraus, dass bei Bauarbeiten unter dem ehemaligen Wohnhaus von Anthony Galton eine Leiche ohne Schädel gefunden wurde – der ehemalige Hausherr? Als dann noch der Diener von Anwalt Sable ermordet wird und ein junger Mann auftaucht, der sich als Sohn von Anthony Galton ausgibt, wird es zunehmend komplex.

Ich fragte mich, ob wir ihm einen Gefallen taten. Im Haushalt der Galtons konnte man das Geld aus einem unerschöpflichen Reservoir wie Wasser aus der Leitung zapfen. Aber Geld bekam man nie umsonst. Wie für jede andere Ware mußte man dafür bezahlen. (S. 150)

Die Komplexität der Geschichte ist nicht untypisch für Ross Macdonald und erinnert an klassische griechische Tragödien. Dabei besticht der Autor durch die psychologische Tiefe der Figuren, die sprachliche Eleganz des Textes und der Dialoge sowie die lässig-hartnäckige, aber nie zynische Hauptfigur. Für Fans des Genres ist Ross Macdonald auf jeden Fall immer zu empfehlen. „Der Fall Galton“ hat inzwischen 65 Jahre auf dem Buckel, doch man kann ihn immer noch gut lesen (obwohl sich in heutigen Zeiten Verwandtschaftsverhältnisse natürlich leichter klären lassen).

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Der Fall Galton | Erstmals erschienen 1959
Die gelesene Ausgabe erschien 1976 im Diogenes Verlag
Originaltitel: The Galton Case | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Egon Lothar Wensk
Die aktuelle Ausgabe erschien 2016 als E-Book im Diogenes Verlag
ISBN 978-3-257-60768-0
288 Seiten | 7,99 €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

George P. Pelecanos | Das dunkle Herz der Stadt

George P. Pelecanos | Das dunkle Herz der Stadt

Wie der meiste Ärger in meinem Leben, der mir widerfahren ist oder den ich mir eingebrockt habe, fing auch der in jener Nacht mit einem Drink an. (Auszug Seite 7)

Nick Stefanos war früher Cop und auch Privatdetektiv. Jetzt steht er mehrmals die Woche im Spot, einer Bar in Washington D.C. hinter der Theke und ist hier oft sein bester Kunde. Nicht ideal für den Alkoholiker, der immer nur so lange funktioniert, bis ein weiterer Alkoholexzess ihn wieder aus der Bahn wirft. So beginnt auch diese Geschichte. Nach einer durchzechten Nacht mit einigen Blackouts wacht Nick desorientiert im Hafengebiet des Anacostia River auf. Dunkel erinnert er sich, den gedämpften Knall eines Schalldämpfers gehört zu haben. Und tatsächlich liegt die Leiche eines schwarzen Jugendlichen erschossen am Flussufer. Anonym verständigt er die Polizei und verschwindet.

Der tote Junge lässt Stefanos jedoch keine Ruhe, und da die Polizei den Mordfall schnell unter Bandenkriminalität zu den Akten legt, macht er sich selbst auf die Suche nach den Mördern von Calvin Jeter. Das Spot ist auch die Stammkneipe vieler Detectives der Metropolitan Police und so erfährt Nick einige Einzelheiten zu dem Fall, zum Beispiel dass Calvins bester Freund Roland Lewis seit einiger Zeit verschwunden ist. Bei seinen Ermittlungen trifft er auf den Privatdetektiv Jack LaDuke, der von Rolands Mutter beauftragt wurde, den vermissten Teenager zu finden. Der schlaksige, jungenhafte LaDuke wirkt wie der nette Junge von nebenan, verbirgt aber eine äußerst dunkle Seite. Er ist neu in der Stadt und mit dem Auftrag, den verschwundenen Freund des Mordopfers ausfindig zu machen, ziemlich überfordert. Gemeinsam stößt das ungleiche Duo auf einen Sumpf aus Drogen, Prostitution und Pornografie und begeben sich in große Gefahr. Als eine Spur ins Pornomilieu führt, verdichtet sich der Verdacht, dass sich die beiden Jungen leichtsinnig auf ein gefährliches Spiel eingelassen haben.

Die Geschichte wird aus der Ich-Perspektive ganz in der Tradition des Hardboiled-Krimis erzählt und wir begleiten den Gelegenheitsdetektiv bei seinen Recherchen durch die Kneipen, Bars und dunklen Winkeln diese Stadt. Der musikverrückte, griechisch-stämmige Nick Stefanos ist der typische Antiheld, der sein Leben nicht wirklich im Griff hat und von einem Alkoholexzess zum nächsten schlingert. Trotzdem verfügt er über ein gutes Gespür sowie Menschenkenntnis und es gelingt ihm den Fall bei halbwegs klarem Verstand voranzutreiben. Er ist vielleicht desillusioniert, aber gar nicht so abgebrüht und zynisch. Halt findet er in der leidenschaftlichen Beziehung zu seiner Freundin Lyla, bis er begreift, dass er die Journalistin aufgrund ihres Lebenswandels unweigerlich mit ins Elend treiben wird.

Ich hätte Boyle noch mal anrufen und alles abblasen können. Dann wäre es vielleicht zwischen Lyla und mir nicht so gekommen, wie es kam, und ich wäre nie Jack LaDuke begegnet. Aber Neugier ist wie ein knackiger Arsch, von dem man besser die Finger lassen sollte. Am Ende packt man doch zu. (Auszug Seite 27)

Die detaillierten Einblicke in Nicks unbeständiges Privatleben und seine persönlichen Probleme nehmen einen großen Raum in der Geschichte ein, vermitteln aber auch zugleich ein authentisches Bild des Milieus. Während die Ermittlungen zum Mordfall anfangs nur zäh voranschreiten, nimmt der Krimiplot ab der zweiten Hälfte an Fahrt auf. Nach einigen unvorhersehbaren Wendungen gipfelt der Krimi in einem packenden, actiongeladenen Finale und konfrontiert uns zudem mit moralisch recht bedenklichen Entscheidungen.

George Pelecanos portraitiert in seinem Roman die wahren Verlierer der Stadt. Er erzählt von den einfachen Menschen, die sich unter schwierigsten Bedingungen, wie die soziale Schieflage, den alltäglichen Rassismus und Homophobie durchs Leben kämpfen. Es ist ein Leben am Rande der Gesellschaft voller Gewalt, Drogen und Hoffnungslosigkeit. Präzise beobachtet wartet er mit fein ausgearbeiteten Charakteren auf, einschließlich vieler suspekter Figuren, die vom Elend der anderen profitieren und vor nichts zurückschrecken. Der amerikanische Autor mit griechischen Wurzeln ist in Washington D.C. aufgewachsen. Die milieugetreuen Beschreibungen der Schauplätze stehen im Vordergrund und erzeugen ein stimmiges Sittenbild der Metropole Anfang der 90er Jahre und machen sie fast körperlich greifbar. Die Sprache ist prägnant und trockener Humor blitzt immer wieder in den Dialogen durch.

Als ich beim Stöbern auf den Roman stieß, war mir nicht klar, dass es sich um den dritten Teil der Nick-Stefanos-Trilogie handelt. Der im Original bereits 1995 erschienene Roman ist bisher der einzige ins Deutsche übersetzte und kann für sich alleine gelesen werden.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Das dunkle Herz der Stadt | Erschienen am 21. August 2018 im Ars Vivendi Verlag
ISBN 978-3-8691-3917-3
248 Seiten | 20,00 Euro
Originaltitel: Down by the River Where the Dead Men Go | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Karen Witthuhn
Bibliografische Angaben und Leseprobe

Megan Abbott | Wage es nur!

Megan Abbott | Wage es nur!

Es gibt kaum etwas Amerikanischeres als Cheerleader. Athletische, gutaussehende Mädchen und junge Frauen, die in knappen Kostümen das jeweilige Sportteam supporten, die Zuschauer animieren und akrobatische Kunststücke vollführen. Dass so manches breite Lächeln dabei eher aufgesetzt ist und dieses Hobby aus harter Arbeit und vielen Entbehrungen besteht – das konnte selbst der absolute Laie vermuten. Zu welcher Dynamik aber ein Cheerleader-Team fähig ist, das lotet Megan Abbott in ihrem neuesten Noir „Wage es nur“ hinlänglich aus.

Die Geschichte wird als Ich-Erzählerin von Addy Hanlon erzählt, 16 Jahre alt. Sie ist Teil ihres High School Cheerleader Teams. Anfangs war es nur ein Zeitvertreib, wie sie selbst erklärt, um die Zeit totzuschlagen, bis endlich etwas passiert. Doch inzwischen lebt sie fürs Cheerleaden, lässt sich völlig davon vereinahmen. Ihre beste Freundin ist Beth Cassidy, das Top Girl, die Anführerin des Teams und diejenige, die sagt, wo es in ihrer Freundschaft lang geht. Zu Beginn der neuen Saison kommt nun eine neue Trainerin zum Team: Colette French. Zunächst etwas unnahbar und hart, lässt sie das Team aber auch an sich heran und verbringt auch außerhalb der Sporthalle Zeit mit ihnen. Coach Colette merkt aber bald, dass sie die Mädels nur dann vollständig hinter sich bringen und auf ein neues Level bringen kann, wenn sie die bestehenden Hierarchien aufbricht.

Weil Coach Beth als das erkennt, was sie ist, und weiß, dass sie sie stürzen muss.
Und Tacy?
Eine Schachfigur. (S.56)

Das Amt der Kapitänin wird abgeschafft, ein neues Top Girl (das bei den Figuren ganz oben steht) aufgebaut. Zudem bemüht sich Colette sehr um Addy, die sich allzu gerne darauf einlässt und die Lebenserfahrung ihrer Coachin förmlich aufsaugen will. Das lässt das Alphatier Beth natürlich nicht auf sich sitzen. Beth ist die geborene Intrigantin, sie sät Zwietracht und spinnt im Hintergrund die Fäden. Und sie weiß genau, welche Knöpfe sie drücken muss. Als Addy und sie Colette bei einem Seitensprung überraschen, ist der Angriffspunkt gefunden.
Der Roman beginnt damit, dass Colette Addy eines Nachts um Hilfe bittet. Offensichtlich ist jemand zu Tode gekommen. Die Szene wird dann in der Mitte des Romans wieder aufgegriffen. Bis zuletzt wird im Folgenden um die Umstände gerungen und wer welche Verantwortung dafür trägt, dass es so weit gekommen ist.

„Wenn man von außen schaut“, sagt sie, und ihr Mund steht erschrocken offen, „sieht es aus, als wolltet ihr euch gegenseitig umbringen, und auch euch selbst umbringen.“ (S.273)

Megan Abbott schreibt aus der Sicht von Abby und findet einen überzeugenden Ton einer Heranwachsenden, die die Schwelle zum Erwachsenwerden so langsam überschreitet und dementsprechend noch von Unsicherheit geprägt ist. Die Geschehnisse zwischen den Cheerleader-Mädchen sind geprägt von Zickenkrieg, Dominanzgehabe, Eifersucht und Manipulation. Das Cheerleadern und die Auftritte katapultieren die Mädchen auf eine andere Ebene, dafür hungern sie und ertragen Schmerzen. Sie bereiten sich akribisch vor, ihre Schminke, ihr Glitzer, ihre Kostüme sind eine Art Rüstung für ihren eigenen Gladiatorenkampf. Abbott schildert diese Atmosphäre im Locker Room eindringlich und prägnant (auch die Übersetzung durch Karen Gerwig sei an dieser Stelle gewürdigt) und dringt tief in die Psyche der Mädchen ein – ohne dass man als Leser diese Hormondurchflutung vollständig nachvollziehen könnte. Doch das diese Atmosphäre toxisch ist und auf eine Katastrophe hinausläuft, ist sofort klar. Insgesamt ein etwas anderer Noir, anregend und bedrohlich, der beweist, dass das Dunkle auch in Pompons daherkommen kann.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Wage es nur | Erschienen am 30.04.2024 bei Pulp Master
ISBN 978-3-946-58218-2
342 Seiten | 16,- €
Originaltitel: Dare me | Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Karen Gerwig
Bibliografische Angaben & Leseprobe