Kategorie: Gunnar Wolters

Susanne Tädger | Das Schweigen des Wassers

Susanne Tädger | Das Schweigen des Wassers

Die DDR ist jetzt bereits schon 30 Jahre Geschichte und dennoch auch heute noch irgendwie präsent in allerlei soziologisch-politischen Kontexten. Frei nach Faulkners „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen.“ Das gilt auch für die Kriminalliteratur, die selbstverständlich gerne Unaufgearbeitetes aus der Vergangenheit aufgreift, natürlich auch aus der deutsch-deutschen. Zuletzt hatte mir etwa „Die Toten von Marnow“ von Holger Karsten Schmidt gut gefallen, in dem es um Medikamentenversuche in der damaligen DDR ging. Nun greift die Autorin Susanne Tägder in ihrem Krimidebüt einen alten Kriminalfall auf, der zu DDR-Zeiten nicht aufgeklärt wurde (zumindest wurde ein Verdächtiger freigesprochen) und der nun in der Zeit kurz nach der Wiedervereinigung wieder hochkommt. Es ist die Zeit der Umbrüche, viele werden in neue Lebenssituationen geworfen. Und einige stellen fest, dass sie auch im neuen System abgehängt werden, während die Opportunisten den Absprung glatt geschafft haben und dafür sorgen, dass alte Ungereimtheiten weiterhin unter dem Teppich bleiben.

Groths Leben hat 1960 mit einer Fahrkarte begonnen. Oder aufgehört, je nachdem, wie man die Sache betrachtet. Mit einer Fahrkarte nach Hamburg. Aus ihm unerfindlichen Gründen erinnert er sich sogar noch an den Preis: acht mark siebzig. Im Schaukasten, das Groths Leben ausstellt, wäre diese Fahrkarte ein zentrales Artefakt. (Auszug E-Book Pos.1640)

Herbst 1991 in Mecklenburg: Der Hamburger Kommissar Arno Groth ist als Aufbauhelfer Ost in seine alte Heimat Wächtershagen (steht wohl für Neubrandenburg) versetzt worden. Damals war er als junger Abiturient mangels Perspektive vor dem Mauerbau in den Westen gegangen. Nun kehrt er zurück, gibt Seminare für die Ost-Kollegen über nunmehr gesamtdeutsche Polizeiarbeit, aber es ist nicht ganz klar, wer hier wen aufbaut. In Hamburg ist der geschiedene Groth, der immer noch um seine verstorbene Tochter trauert, beruflich aufs Abstellgleis geraten, nachdem er einen Fall vermasselt hat, weil er zu stark einer Zeugin vertraut hatte. Groth bekommt schon nach kurzer Zeit Besuch auf der Dienststelle von einem merkwürdigen, heruntergekommenen Mann, der ihn vom Hof aus beobachtet. Dieser Mann heißt Siegmar Eck, ist Verleiher von Tretbooten und aktuell ohne festen Wohnsitz. Er fasst nach einem kurzen Gespräch offenbar Vertrauen zu Groth und verspricht, nach dem Wochenende wegen eines Diebstahls wiederzukommen. Doch dazu wird es nicht kommen.

Zwei Tage später wird Eck tot am See aufgefunden, ertrunken, die Umstände sind unklar. Der Dienststellenleiter will den Fall zügig als Unfall einstellen. Doch ausgerechnet ein Kollege, mit dem Groth bislang alles andere als warm wurde, offenbart ihm, dass Eck kein Unbekannter war: Vor etwa zehn Jahren war er Hauptverdächtiger in einem Mord an einer jungen Frau, wurde aber vor Gericht wegen Ermittlungsfehler überraschend freigesprochen. Und obwohl die damaligen Akten zum großen Teil verschwunden sind, hat Groth einen Anhaltspunkt für weitere Ermittlungen.

Außer aus Groths wird die Geschichte noch aus einer weiteren Perspektive erzählt. Regine Schadow ist Servicekraft in der Ausflugsgaststätte am See, kannte Eck, rauchte öfter mal mit ihm eine Zigarette in der Pause. Regine war Angestellte in einer Bar in Berlin und ist nun nach Wächtershagen zurückgekehrt, angeblich um die Wohnung ihrer Großmutter aufzulösen. Der Leser wird schnell darauf gestoßen, dass sie etwas von Eck wollte. Und dies hängt auch mit dem damaligen Fall, dem Mord an Jutta Timm zusammen, denn Jutta war Regines große Schwester.

Als sie ihm sagte, wer ihre Schwester ermordet hat, zuckte Ludi nicht mal mit der Wimper. Fragte nicht: „Bist du sicher?“ Oder: „Wieso glaubst du das?“
Alles, was Ludi dazu anmerkte, war: „Oha.“ Und dass sie gut auf sich aufpassen müsse. „Wer es so weit nach oben geschafft hat, der räumt nicht so mir nichts dir nichts den Sessel. Wenn du verstehst, was ich meine.“ (Auszug E-Book Pos. 4051).

Susanne Tädger war Richterin in Karlsruhe, lebt inzwischen im Ausland und hat dennoch eine Verbindung in die DDR, denn ihre Eltern stammten von dort. Eine Reportage über einen ungelösten DDR-Mordfall aus der Süddeutschen Zeitung war Auslöser dieses Romans. Die Autorin versteht sich dabei als Meisterin der leisen Töne. Sie dringt tief in die Biografien der zentralen Figuren vor, die alle Traumata erlitten haben. Bei Groth und Regine Schadow über die Erzählperspektive, bei Eck indirekt über diejenigen, die über ihn berichten. Damit erzählt der Roman oft weniger von einem Mordfall, sondern von Brüchen, Umwälzungen, Schicksalsschlägen im Leben der Figuren. Das Ganze wirkt organisch, authentisch und verweist auf andere Literatur. Groth wird als „Literat“ von den Kollegen verspottet, der „Hungerkünstler“ von Kafka spielt eine Rolle, zudem liest er in Texten von Eck, der eine Art Liedermacher war. Insgesamt dringen Groth und Regine von unterschiedlichen Seiten langsam zur Lösung der Geschichte vor, die, man ahnt es bereits, keine vollständige Erlösung bieten kann. „Das Schweigen des Wasser“ ist ein wirklich guter, sehr stimmiger, unaufgeregter und melancholischer Kriminalroman, der viele Leser verdient hat. Der Blurb auf dem Klappentext vom von uns auch sehr geschätzten Andreas Pflüger kommt nicht von ungefähr.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Das Schweigen des Wassers | Erschienen am 16.03.2024 im Tropen Verlag
ISBN 978-3-608-50194-0
336 Seiten | 17,- €
Als E-Book: EAN 978-3-608-12254-1 | 13,99 €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Rezensions-Doppel: Mathijs Deen | Der Taucher & Charles den Tex | Repair Club

Rezensions-Doppel: Mathijs Deen | Der Taucher & Charles den Tex | Repair Club

Die niederländische und flandrische Literatur ist dieses Jahr zu Gast bei der Leipziger Buchmesse. Das ist doch mal ein gelungener Anlass für ein Rezensions-Doppel mit zwei niederländischen Autoren. Trotz der geografischen Nähe und der sprachlichen Verwandtschaft sind Übersetzungen von Krimis und Spannungsliteratur aus der niederländischen Sprache momentan nicht so häufig, wie man vermuten könnte. Wenn man sich die Liste der Gewinner des wichtigsten niederländischen Krimipreises „Gouden Strop“ der letzten zehn Jahre ansieht, so wurden lediglich zwei Romane („Staub zu Staub“ von Felix Weber und „Mutter, ich habe getötet“ von Esther Verhoek) ins Deutsche übersetzt. Das war mal anders. In den 90er und 00er-Jahren waren niederländische Krimis regelmäßiger bei deutschen Verlagen vertreten, insbesondere beim Dortmunder Grafit Verlag, der einige niederländischen Autoren wie Jac.Toes, Felix Thijssen oder Charles den Tex im Programm hatte. Letzterer ist bis heute einer der erfolgreichsten Krimiautoren der Niederlande. Mit seinem Roman „Repair Club“ wurde seit langem wieder mal ein Buch von ihm ins Deutsche übersetzt. „Der Taucher“ hingegen ist der zweite Band von Mathijs Deens Serie um den deutsch-holländischen Kommissar Liewe Cupido und offensichtlich auch wesentlich auf die deutschen Leserinnen und Leser ausgerichtet, wurde die deutsche Übersetzung doch bereits wenige Wochen vor dem niederländischen Original veröffentlicht. Zeit für eine Doppelrezension.

Mathijs Deen | Der Taucher
Ein niederländisches Bergungsboot findet an der Küste vor Amrum auf dem Echolot ein Wrack. Als sie eine Kamera ins Wasser lassen, finden sie nicht allerdings nicht nur das seit langem vermisste Schiff „Hanne“ mit wertvollem Kupfer an Bord, sondern auch die Leiche eines Tauchers, mit Handschellen angekettet an das Wrack, dadurch offensichtlich ermordet. Weil das Boot des Tauchers abgedriftet in Dänemark aufgefunden wurde, kommt die Polizei bald auf die Identität des Toten. Jan Matz wohnte auf Föhr, lebte getrennt von seiner Frau und den beiden Kindern in Wilhelmshaven und war begeisterter Wracktaucher.

Liewe Cupido ermittelt als Experte der Bundespolizei See als Verstärkung der Kriminalpolizei. Die Ermittlungen gestalten sich durchaus schwierig, denn neben dem Anhaltspunkt der illegalen Plünderung eines Wracks gibt es noch ein familiäres Drama im Hintergrund. Johnny Matz, dem 17jährige Sohn des Toten, droht eine empfindliche Jugendstrafe, weil er seinen Mitschüler Hauke Mauer angegriffen und schwer verletzt hat, sodass dieser weiterhin schwere körperliche Probleme hat. Jan Matz hat seinem Sohn falsche Alibis gegeben, die teilweise widerlegt wurden, aber die Ermittlungen und Strafverfolgung erheblich verzögerten. Darunter leidet die Familie Mauer und die Wut vergrößerte sich noch, als eines Nachts zwei Jugendliche einen Brandsatz in der Carport der Familie warfen – eine Videoaufzeichnung legt nahe, dass Johnny einer der beiden Täter war.

Wie schon in Band 1 „Der Holländer“ ist auch der Fortsetzungsband „Der Taucher“ sehr regional und maritim geprägt. Diesmal liegt der sehr überwiegende Teil der Schauplätze in Deutschland, Wilhelmshaven, Cuxhaven und Föhr, mit kurzen Abstechern in die Niederlande und nach Dänemark. Auch diesmal ist der Plot nicht spektakulär oder sonderlich actionreich, stattdessen liegt der Augenmerk stark auf den Figuren und den zerrütteten Familienverhältnissen. Die getrennte Familie Matz mit dem unkontrollierten, aufbrausenden Johnny und seinem jüngeren, sehr stillen Bruder, der auf Außenstehende zurückgeblieben wirkt, sowie die Familie Mauer, bei der neben dem Angriff auf den Sohn Hauke auch die Insolvenz des Gastronomiebetriebs des Vaters für einen Riss zwischen den Eheleuten und in der Familie gesorgt hat.

Indem er ihn diese Passage übersetzen ließ, wollte Herr Koek ihm helfen, die Tragödie zu verarbeiten, dachte Liewe, und das denkt er immer noch. Er kann sich nicht mehr genau an den Text erinnern, nur an den einen Satz: Il a été poussé, it est tombe, c’est fini. Er ist gestoßen worden, er ist gefallen, es ist aus.
Der Satz ist zu einem Mantra geworden, das er endlos wiederholt, wenn er nicht einschlafen kann. Fast jede Nacht also. Obwohl es schon besser ist, seit Vos am Fußende liegt. (Auszug Seite 97)

Zentraler Anker der Geschichte bleibt aber der Ermittler Liewe Cupido. Auf Texel aufgewachsen, deutsche Mutter, niederländischer Vater, inzwischen in Deutschland lebend und deutscher Polizeibeamter. Cupido ist ein zurückhaltender Einzelgänger, schweigsam, beharrlich, unbequem als Kollege, weil er ungern im Team arbeitet. Auch privat eher einsam, seit Band 1 wird er von der Hündin Vos begleitet, die ihm damals bei einer Observation zugelaufen ist. Aber in diesem Buch tritt auch privat jemand in sein Leben. Horizontales Element in der Reihe bislang ist der bis heute nicht vollständig verarbeitete Verlust seines Vaters. Der Vater war Fischer auf Texel und kam von einem Auslaufen nicht mehr nach Hause, in rauer See von Bord gegangen, ein tragischer Unfall. Doch Cupido trägt dieses Kapitel noch immer mit sich.

Mit „Der Taucher“ hat der niederländischen Autor und Rundfunkproduzent Mathijs Deen einen wirklich gelungenen Fortsetzungsband geschrieben. Regional und maritim verwurzelt, mit einer melancholischen, entschleunigten Grundstimmung, stimmigen Figuren und deren Verhältnissen zueinander sowie einer interessanten Wendung und Auflösung, die an dieser Stelle nicht gespoilert werden sollte. Für Freunde des gepflegten literarischen Ermittlerkrimis ist diese Reihe unbedingt zu empfehlen, der dritte Teil erscheint dieser Tage.

Charles den Tex | Repair Club
John Antink ist ehemaliger Chef des niederländischen Geheimdienstes. Inzwischen 70 und im Ruhestand betreibt er mit drei Freunden ehrenamtlich einen „Repair Club“, in dem alte Haushaltsgeräte repariert werden. Bei einem dieser Termin steht plötzlich ein Mann, vermeintlich ein Russe, mit einer alten Robotron-Schreibmaschine aus DDR-Zeiten vor ihm und bedroht ihn mit einer Waffe. Er gibt John einen Hinweis auf eine alte Geheimdienst-Akte und nennt ihm einen neuen Termin für ein erneutes Treffen.

Währenddessen ist die neue Chefin des Geheimdienstes, Alisha Calder, unter starken Druck geraten. Durch ein Leak ist an die Öffentlichkeit geraten, dass mit Mitteln des Geheimdienstes offenbar eine syrische Terrorgruppe finanziert wurde. Calder braucht ihren Vorgänger John Antink, um dieses undurchsichtige Manöver zu durchschauen, denn die Mittel kommen offenbar tatsächlich vom Geheimdienst, nur wusste niemand etwas. John Antink kommt schnell der Verdacht, dass beide Ereignisse zusammenhängen. Er begibt sich tief in die alten Akten und durchleuchtet seine Vergangenheit als Spion, die ihn unter dem Deckmantel als schweizer Finanzdienstleister in die DDR der späten 1980er gebracht hat. Die Dinge spitzen sich zu, als Antinks Frau Vera fast von Russen entführt wird und der russische Mann aus dem Repair Club tot aufgefunden wird.

„Jemand will mich nach draußen locken. Mit dieser Akte. […] irgendwo in dieser Akte muss etwas stehen, ein Hinweis oder etwas anderes, irgendwas, was sie wissen oder haben wollen.“ Davon ist John überzeugt. Jemand will ihn aufscheuchen und in die Vergangenheit schicken, damit er dort etwas findet, was nur er finden kann. Etwas, was jemand verloren hat. (Auszug E-Book Pos. 2097)

Wer beim ersten Blick auf den Klappentext und den Titel des Romans gedacht hatte, hier geht es in die Richtung „Der Donnerstagsmordclub“ mit rüstigen und schrulligen Rentnern, den muss ich leider enttäuschen. John Antink ist zwar verrentet, aber die Probleme des Alterns kommen nur ab und an vor und seine Kollegen vom Repair Club spielen nur Nebenrollen. Aber ein Spionageroman aus den Niederlanden ist doch auch mal was Neues und die Story ist auch ziemlich modern. Es geht um den Clash zwischen der modernen, digitalen Geheimdienstarbeit von Calder und der altgedienten Methoden von Antink, der noch gerne im Außeneinsatz und mit Körpereinsatz die Dinge erledigt (aber nicht unterschätzt werden sollte). Übergeordnet geht es aber vor allem um russische Einflussnahme in Westeuropa und den Versuch, den Geheimdienst eines NATO-Landes zu desavouieren. Die Spur führt Antink schließlich in seine Vergangenheit und ins Jahr 1988 nach Dresden. Und dreimal dürft ihr raten: Welche junge, vielversprechende Mann war damals KGD-Statthalter vor Ort?

Durchaus gute Zutaten für einen guten Spionagethriller. Doch jetzt kommt leider das große Aber, was mich selbst sehr überrascht. Den Tex wählt aus meiner Sicht nicht die richtige Erzählperspektive aus. Ein allwissender Erzähler wacht über den Text und plaudert den Leser an vielen Stellen völlig zu. Alle Einblicke, alle Gedanken, alle Erklärungen werden mitgeteilt. Auch die Rückblenden werden nicht nacherlebt, sondern vorwiegend nacherzählt. Das macht die Spannungskurve ziemlich zunichte und hinterlässt eine Spur von Langeweile und Frustration bei mir. Umso mehr, weil ich weiß, dass den Tex es anders kann. Zwei Romane habe ich bislang von ihm gelesen („Die Zelle“ und „Die Macht des Mr. Miller“) und beide waren plotgetriebene Thriller mit hohem Spannungsfaktor, die im Großen und Ganzen gut bis prächtig unterhielten. Hier hingegen verplempert der Autor für meinen Geschmack seine guten Ploteinfälle, weil der Erzähler eine Quasselstrippe ist. „Show, don’t tell“ heißt doch eigentlich das Zauberwort für den guten Thrillerautor. Leider von den Tex hier nicht beherzigt. Zum Ende wird es besser, einen schönen Plottwist inklusive, aber trotzdem war hier deutlich mehr drin.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Der Taucher | Erschienen am 14.02.2023 im Mare Verlag
ISBN 978-3-86648-701-7
320 Seiten | 22,- €
Originaltitel: De duiker | Übersetzung aus dem Niederländischen von Andreas Ecke
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 4 von 5
Kriminalroman

 

Repair Club | Erscheinen am 20.02.2024 bei HarperCollins
ISBN: 978-3-36500-610-8;
496 Seiten | 14,- €
Originaltitel: De repair club | Übersetzung aus dem Niederländischen von Simone Schroth
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3 von 5
Spionageroman

Weiterlesen: Vier Rezensionen aus unserem Minispecial „Ein langes Wochenende mit Spannungsliteratur aus Flandern und den Niederlanden

Ron Corbett | Cape Diamond (Band 2)

Ron Corbett | Cape Diamond (Band 2)

Springfield, eine fiktive kanadische Großstadt im Landesinneren an der nördlichen Wasserscheide. An einem Zaun eines Sportplatzes am Rande einer Hochhaussiedlung wird übel zugerichtet Augustus Morissey, Boss des heimischen Gangsterclans der Shivers, ermordet aufgefunden. Besonderes Detail: In seinem Mund wird ein äußerst wertvoller ungeschliffener Diamant gefunden. Detective Frank Yakabuski stößt bei seinen Ermittlungen auf viel Schweigen und wenig Interesse. Der Verdacht fällt auf die rivalisierende, kriminelle Truppe der North Shore Travellers. Auch von diesen wird kurz darauf jemand an der gleichen Stelle aufmordet aufgefunden. Es kommt zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, die Stadt gleicht einem Pulverfass, man erwartet täglich einen blutigen Bandenkrieg.

Die Shivers sind eine ursprünglich irische Schmugglerbande, die seit der ersten Besiedlung der Region (nach den Indigenen) mit den Travellers, die als Nachfahren von Sinti und Roma nach Kanada kamen, einen blutigen Bandenkrieg liefert. Beide Gruppen haben mittlerweile ihre kriminellen Aktivitäten diversifiziert. Durch den Diamantenfund kommt aber noch eine ganz andere Wendung in den Fall: Nicht allzuweit entfernt von Springfield befindet sich Cape Diamond, eine äußerst lukrative Diamantenmine. Allerdings auch mit äußerst strengen Sicherheitsvorkehrungen, sodass die Leitung der Mine es ausschließt, dass der Diamant entwendet worden sein kann.

Zudem kommt ein weiterer Erzählstrang hinzu: Von den Akteuren in Springfield unbemerkt, begleitet der Leser die Fahrt eines Killers aus Mexiko Richtung Kanada. Der kühle, rationale Mann fährt mit einem Campervan Richtung Norden und ist für alle Eventualitäten gut ausgerüstet. Bald schon zieht er eine Blutspur hinter sich her, da er alle Personen, die ihn an die Behörden verraten könnten, ausschaltet. Was der Leser bald weiß: Er hat einen Auftrag in Springfield. Doch wie hängt das mit den sonstigen Ereignissen zusammen?

Yakabuski fühlte sich wie der unter Zeitdruck geratene Künstler. Weil er das Bild einfangen wollte, bevor es ganz verschwand. Inzwischen war er überzeugt, dass in diesem Fall nichts so war, wie es auf den ersten Blick schien. Die Ermittlungen erinnerten an einen Stummfilm auf Zelluloid, als genug fürs Museum, ein Streifen in Schwarz-Weiß, ohne Anfang und Ende, sondern lediglich einem mysteriösen Mittelteil und ätzenden chemischen Emulsionen anstelle des Vor- und Abspanns. (E-Book Pos. 1842-1851)

Der zweite Teil der Reihe um den einzelgängerischen Detective Yakabuski führt wieder in die rauen, kargen Gegenden Kanadas am Rande des borealen Nadelwalds, obwohl Autor Ron Corbett mit Springfield eine großstädtisches Setting ebenfalls erschafft. Yakabuski ist ähnlich wie im ersten Roman „Preisgegeben“ eher als einsamer Wolf unterwegs, ein Ermittler, der sich wenig um Hierarchien und Polizeitaktiken schert. Von seiner Vergangenheit als Soldat mit Auslandseinsatz im Bosnienkrieg und als Untercover-Cop, der eine berüchtigte Motorradgang erfolgreich infiltriert hat, ist Yakabuski geprägt und handelt eher spontan und intuitiv, um dem Bösen die Stirn zu bieten. Gleichzeitig ist er bereit, bei seinen Ermittlungen nicht nur die ausgetretene Pfade zu benutzen und das Offensichtliche anzunehmen, sondern in die tieferen Hintergründe vorzudringen.

Der Roman erzählt viel von der Vergangenheit der Region mit Siedlern, Holzfällern, fahrendem Volk und wie sich Konflikte aus der damaligen Zeit bis in die Gegenwart erhalten haben. Der Autor erschafft einen auf Gewalt basierenden Gründungsmythos seiner fiktiven Stadt Springfield, der allerdings an echte Geschichten und Konflikten anknüpft. Interessant dabei sind auch die Wetterverhältnisse während der Handlung: Am Ende des Herbstes und zu Winterbeginn erwartet man in Springfield eigentlich Frost und Schnee. Stattdessen herrschen warme, fast sommerliche Temperaturen, die die Geschehnisse vor Ort buchstäblich nochmal anheizen.

Insgesamt hat Ron Corbett einen harten Krimi mit brutalen Gestalten und groben Gewalttaten geschrieben, der mich an manchen Stellen an James Lee Burkes Robicheaux-Romane erinnert haben, z.B. Bei den Geschichten aus der Vergangenheit und diesem Killer, der aus dem Nichts kommend auf den Plan tritt. Ein Dave Robicheaux ist Frank Yakabuski trotz ein paar Ähnlichkeiten nicht ganz. Allerdings ist auch er ein Ermittler, der die ganze Zeit versucht, auf die Zwischentöne zu achten und herauszufinden, ob hinter der ganzen Gewalt nicht noch mehr dahintersteckt. Und so viel sei gesagt – er wird recht behalten in diesem hartgesottenen kanadischen Krimi. Insgesamt eine wirklich gelungene Fortsetzung der Reihe.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Cape Diamond | Erschienen am 12.02.2024 im Polar Verlag
ISBN 978-3-948392-92-5
320 Seiten | 17,- €
Originaltitel: Cape Diamond | Übersetzung aus dem kanadischen Englisch von Harriet Fricke
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Gunnars Rezension zu Band 1 „Preisgegeben“

Arne Dahl | Stummer Schrei

Arne Dahl | Stummer Schrei

Von einer Anhöhe wid durch ein Fernglas das zweite Überholmanöver verfolgt. Vor allem, was mit dem Wagen auf der linken Spur passiert. Er fängt Feuer, der Fahrer verliert die Kontrolle und schert in der Kurve in die falsche Richtung aus, rast von der Autobahn und pflügt wie ein Feuerball durch das goldgelbe Rapsfeld. […]
Das Fernglas senkt sich in der einen Hand, der Fernzünder in der anderen.
Das Universum hört einen tiefen Atemzug.
Es hat begonnen. (Auszug E-Book Pos.77-85)

Es beginnt mit zwei Sprengstoffanschlägen. Zum einen auf den Wagen eines hohen Managers eines Stahlkonzerns, zum anderen eine Paketbombe auf den Chef einer renommierten Werbeagentur, der gerade eine Kampagne für mehrere Konzerne mit dem Schwerpunkt auf fossile Energien vorbereitete. Dann erhält Eva Nyman, Leiterin der kleinen Spezialeinheit NOVA in der schwedischen Kriminalpolizei, eine Art Bekennerbrief. In diesem wird auf die Zerstörung der Umwelt und des Klimas hingewiesen, verklausuliert sich der beiden Anschläge bekannt und weitere angekündigt. Doch was Eva Nyman sofort stutzig macht, ist der Duktus des Schreibens und eine bestimmte Formulierung. „Die Ruinen des Verfalls“ war eine der Lieblingsformulierungen ihres ehemaligen Vorgesetzten Lukas Frisell.

Frisell war bis vor etwa 15 Jahren im Dienst der Kripo, doch im Zuge eines fehlgeschlagenen Einsatzes, bei dem eine Geisel aufgrund seiner falschen Entscheidungen verstarb, hatte er den Dienst quittiert. Frisell arbeitete später als Dozent für Umwelt- und Klimaforscher an einer Fachhochschule, bevor er dann als Prepper in die Wälder ging und seitdem von der Bildfläche verschwunden ist. Nyman und ihr vierköpfiges Team fragen sich, ob Frisell sich weiter radikalisiert hat und nun als Klimaterrorist aktiv wird. Sie nehmen seine Spur auf und müssen tief in die schwedischen Wälder, um seiner habhaft zu werden. Doch gerade als sie ihn zur Verhör haben und er alles von sich weist, geschieht ein dritter Anschlag auf eine Serverfarm eines globalen Versandhändlers.

Arne Dahl ist schon einer der Veteranen der schwedischen Krimiszene. 1999 begann er seine Karriere als Krimiautor mit dem ersten Band der Serie um die Sondereinheit „A-Gruppe“ mit insgesamt elf Romanen, an die er auch in seiner zweiten Reihe um eine Europol-Ermittlungsgruppe anknüpfte. Nun beginnt er mit „Stummer Schrei“ wieder eine Reihe mit einer kleinen, hochintelligenten Ermittlungseinheit. Im Zentrum steht neben Eva Nyman und ihrer Einheit vor allem der ehemalige Polizist, ehemalige Forscher und Dozent, Spezialist für Überlebenstraining und Prepper Lukas Frisell. Ein undurchsichtiger Typ, intelligent, ignorant, Einzelgänger, lebt einerseits als Eremit im Wald, hat schon immer gegen den Raubbau an der Natur doziert, aber entsagt keinesfalls aller Technologie oder sonstigen Bedürfnissen. Was hat er mit den Anschlägen zu tun? Für meinen Geschmack kann der erfahrene Leser zu schnell seine Rolle in dem Ganzen erraten.

Ansonsten bietet Dahl eine souveräne Vorstellung. Die Figuren sind interessant (auch wenn das NOVA-Team schon übertrieben gute Polizisten sind), der Spannungsaufbau stimmt, das Ganze liest sich gut weg. Auch die Schauplätze sind gut gewählt, neben Stockholm geht der Autor auch in die Provinz und in die Tiefe der schwedischen Wälder. Dieses „Zurück zur Natur“ als eines der zentralen Themen des Romans ist gut gemacht, führt aber auch zu meinem größten Kritikpunkt am Roman. Das eigentliche Motiv (Vorsicht Spoiler) der Anschläge führt wieder von diesem Thema weg und ist für meinen Geschmack viel zu übertrieben und aufgeblasen. So gibt es von mir doch noch am Ende ein paar Abzüge. Insgesamt erhält der Leser aber souveräne Krimikost aus dem hohen Norden.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Stummer Schrei | Erschienen am 01.02.2023 im Piper Verlag
ISBN 978-3-492-07241-0
464 Seiten | 17,- €
Als E-Book: EAN 978-3-492-60641-7 | 14,99 €
Originaltitel: I cirkelns mitt | Übersetzung aus dem Schwedischen von Kerstin Schöps
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Les Edgerton | Primat des Überlebens

Les Edgerton | Primat des Überlebens

Das Wörtchen „Noir“ wird manchmal dann doch im Genre etwas inflationär gebraucht, leider auch von mir. Doch nicht alle Romane mit permanentem Nieselregen in heruntergekommenen Großstadtkulissen, in denen für die Hauptfigur ein paar Dinge schiefgehen, sind gleich ein Noir. Man sollte doch etwas engere Maßstäbe anlegen, doch wie genau definiert man „noir“? Im (übrigens sehr zu empfehlenden) Podcast „Abweichendes Verhalten“ (von Sonja Hartl) zitiert Pulp Master-Verleger Frank Nowatzki seinen Autor Jim Nisbet wie folgt: „Noir ist, wenn man auf Seite 1 schon am Arsch ist und dann geht’s nur noch bergab“.

Sehr angenehm natürlich, wenn sich der Verleger dann auch an diese Maxime hält, denn selten passte eine Beschreibung so gut wie auf die aktuelle Neuerscheinung aus dem Hause Pulp Master. Wobei ganz zu Beginn ist Jake Bishop, Ich-Erzähler von „Primat des Überlebens“, noch nicht am Boden. Er ist vielmehr resozialisiert, nach einigen Jahren im Gefängnis wegen Raub und Diebstahls hat er geheiratet. Seine Frau Paris ist schwanger, er arbeitet erfolgreich als Friseur und plant bereits konkret den Aufbau eines eigenen Salons. Seine Knastvergangenheit kennen jedoch nur wenige. Bereits im ersten Kapitel erfolgt der erste Schlag in die Magengrube: Jake erhält einen Telefonanruf von Joy Walker, seinem ehemaligen Zellengenossen, der inzwischen auch draußen ist und ihn zu einem Drink treffen will. Jake schwant Übles und er soll so was von Recht behalten.

Er hielt inne, wandte den Blick von mir weg, starrte hinüber zu den Typen am Pooltisch. „Ich könnte einen Gefallen gebrauchen.“
Ein Gefallen… ich dachte an was Drolliges, was ich mal von jemandem gehört hatte. „Ein Gefallen“, hatte dieser Jemand gesagt, „ist im Französischen ein Ausdruck für ‚lass mich dich ficken‘.“ (S.14)

Aufgrund diverser Umstände im Gefängnis hat Walker noch was gut bei Jake, doch dieser wäre noch bereit, seinem Knastbruder dies auszuschlagen. Dummerweise hat Walker bei seinem neuen Boss, dem zwielichtigen Juwelier Sydney Spencer, einige Anekdoten über sich und Jake ausgeplaudert – Anekdoten, die Jake erneut ins Gefängnis bringen könnten. Das wäre dann zum dritten Male – und dann wäre es beim unbarmherzigen US-Justizsystem lebenslänglich. Zudem kennt Spencer eine weitere Schwachstelle von Jake – dessen kleinen, noch nicht volljährigen Bruder Bobby. So wird Jake in einen Einbruch im Haus eines anderen Juweliers gezwungen. Vermeintlich ein einfacher Job. Ein guter Witz, denn der Leser bekommt nun Murphy’s Law in Reinkultur zu lesen: Der Job geht natürlich nicht glatt und alles, was Jake nun tut, um den Schaden zu begrenzen, reitet ihn nur noch tiefer in den Abgrund.

Dieses verschissene Lebenslänglich beeinflusste alles, was ich tat. Oder nicht tat. (S.124)

Diese Bedrohung, die permanent über Jake schwebt, ist der Knackpunkt für den Lauf der Geschichte. Er wie tausende weitere Verurteilte in den USA stehen unter permanenter Anspannung, dass das kleinste, weitere Delikt sie für ewig hinter Gittern bringen kann. Diese Unfreiheit und Angst macht ihr Leben zu einem Tanz auf der Rasierklinge. Jake treibt dies in einen Zustand, in dem er am Ende Dinge tut, die er zu Beginn weit von sich gewiesen hätte.

Autor Les Edgerton war selbst einmal inhaftiert, ehe er später eine Karriere als Autor einschlug. Bei Pulp Master erschien bislang „Der Vergewaltiger“ von ihm, ein weiterer Roman ist in Vorbereitung. Edgerton starb im August letzten Jahres. In diesem Roman erweist er sich als Meister des Noirs. Durch die Perspektive als Ich-Erzähler bleibt der Leser eng bei Jake Bishop. Anfangs noch durch Rückblenden unterbrochen, wird die Story letztlich erbarmungslos, kompromisslos, zynisch bis zum bitteren Ende in kurzen Kapitel vorangetrieben. Vielleicht packt er die eine oder andere böse Wendung zu viel aus, aber geschenkt. Les Edgerton serviert dem Leser hier noir pur. Kein Kitsch, kein Geplauder, kein Happy End, reiner Noir bis zum wahrhaft-wahnhaft blutigen Ende. Das mag nicht jedem schmecken, ich goutiere das hingegen sehr. Pulp Master bleibt bei Noir das Maß der Dinge.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Primat des Überlebens | Erschienen am 06.12.2023 bei Pulp Master
ISBN 978-3-927734-93-7
342 Seiten | 16,- €
Originaltitel: The Bitch | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Ango Laina und Angelika Müller
Bibliografische Angaben & Leseprobe