Kategorie: Gunnar Wolters

John Brownlow | Seventeen

John Brownlow | Seventeen

Ich tue das Einzige, was mir einfällt. Als ich an der Küche vorbeikomme, schnappe ich mir die Kaffeekanne und werfe damit nach der Frau. Praktisch im selben Moment schleudert sie mir das Telefon entgegen. […]
Ich weiß nicht, woher die Frau die Kraft nimmt, aber Wut und Kummer haben ihr einen Arm verliehen, mit dem sie für jede Baseballmannschaft ein Gewinn wäre. Das Gerät fliegt mit wild herumwirbelnden Kabeln auf mich zu wie eine Art überdimensionierter Wurfstern. Und trifft mich mitten auf der Stirn. (Auszug S.28)

Der Mann, der da gerade ziemlich peinlich zu Boden geschickt wird, ist übrigens ein Auftragskiller. Und nicht irgendeiner, sondern der Beste der Branche. Sein Name ist eine Nummer – Seventeen. Er ist der 17. einer illustren Reihe absoluter Profis. Ein Freelancer, der Aufträge von überall her durch seinen Agenten Handler annimmt. Gerade hat er in einer Vorstandsetage eines Unternehmens in Berlin einen Job ausgeführt, als er auf unerwartete Probleme beim Abgang stößt. Doch er wird fliehen können und wenige Stunden später sogar noch einen zweiten Job annehmen. Einen sehr blutigen sogar, weil die Zielperson glaubt, mit dem Schlucken eines Datenträger noch irgendetwas verhindern zu können. Die Art und Weise des zweiten Auftrags machen Seventeen etwas skeptisch, was für eine Art Auftrag das gerade war, aber ihm bleibt nicht viel Zeit zum Nachdenken.

Handler vermittelt ihm seine nächste Aufgabe. Eine verdammt heikle und unangenehme. Vor ihm als No. 17 gab es entsprechend sechzehn andere Auftragskiller an der Spitze. Fünfzehn sind tot, die meisten nicht freiwillig aus dem Leben geschieden. Nur Sixteen lebt noch und ist ein Mysterium. Vor vielen Jahren hat er sich einfach aus dem Staub gemacht, ist spurlos von der Bildfläche verschwunden. Nun erhält Seventeen den Auftrag, ihn aufzuspüren und zu erledigen. Andernfalls könnten andere denken, dass die Zeit für No. Eighteen gekommen sei. Doch Seventeen weiß, dass Sixteen eine verdammt schwierige Aufgabe sein wird.

Als ich an meinem Versteck vorbeikomme, halte ich den Atem an. Fast rechne ich damit, dass er dort wartet und an meiner Stelle schießt.
Als das nicht geschieht, bin ich fast enttäuscht.
Vielleicht ist dieser Kerl trotz allem nur ein Mensch. (Auszug S.123)

Autor John Brownlow hat unter anderem das Drehbuch für die Fernsehserie „Fleming“ über Ian Fleming und die Entstehung von James Bond geschrieben. Für sein Romandebüt „Seventeen“ bewegt er sich in ähnlichen Gefilden. Im Gegensatz zu 007 ist Seventeen auf der dunklen Seite der Branche. Was allerdings nicht heißt, dass die meisten seiner Aufträge nicht von irgendeiner Regierung kommen, die sich aber nicht exponieren will. Seventeen ist ein absoluter Profi, seine Aufträge erledigt er kühl und zuverlässig, hinterfragt sie auch nicht groß, versucht allerdings, Kollateralschäden zu vermeiden. Seine Tarnung ist größstmögliche Auffälligkeit. Er hat es an der Spitze geschafft, aber seine Nachfolger sind stets auf der Lauer, Unachtsamkeit wird in der Branche grausam bestraft.

Das äußerst Unterhaltsame an diesem Roman ist die gewählte Perspektive und Erzählweise. Brownlow lässt Seventeen als Ich-Erzähler durch den Plot führen, der den Leser auch direkt anspricht und Einblicke ins Business und seinen Gemütszustand gibt. Das ist streckenweise zynisch, großspurig, aber auch ironisch und komisch. Rasante Action und brutale Szenen werden durch Slapstick und Komik gebrochen. Nach einer kurzen Einführung gibt Brownlow mit der Story direkt Vollgas und bleibt fast ununterbrochen auf dem Gaspedal.

„Seventeen“ ist nicht der ganz hintergrundfreie Actionroman. Es geht natürlich um Täuschung und Verrat und die ganzen Manöver haben irgendwie mit einem drohenden Krieg und dem noch fehlenden Anlass (man erinnere sich an Massenvernichtungswaffen) zwischen den USA und dem Iran zu tun. Doch das Politthrillerelement wird nicht überstrapaziert. Im Allgemeinen ist „Seventeen“ einfach ein famoser, äußerst unterhaltsamer Thriller, der einfach nur Spaß macht und unkonventionell über weite Strecken ein Feuerwerk abbrennt (das Ende hätte hingegen vielleicht noch unkonventioneller ablaufen können).

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

Seventeen | Erschienen am 18.04.2023 im Rowohlt Verlag
ISBN 978-3-499-00851-1
396 Seiten | 13,- €
Originaltitel: Seventeen | Übersetzung aus dem Englischen von Stefan Lux
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Carl Nixon | Kerbholz

Carl Nixon | Kerbholz

Am Anfang steht ein Verkehrsunfall. „Das Auto mit den drei schlafenden Kindern verließ die Erde“, so der beeindruckende erste Satz. Am 4.April 1978 kommt der Wagen der Chamberlains in einer einsamen Gegend auf Neuseelands Südinsel vom Weg ab und stürzt in eine Schlucht. Die Familie hatte erst vor Kurzem England verlassen, der Vater soll in zwei Wochen seinen neuen Job in Wellington antreten. Bis dahin wollen die Chamberlains die neue Heimat erkunden. Bis sie in einer regnerischen Nacht vom Weg abkommen und in eine Schlucht stürzen. Vater, Mutter und das jüngste Kind Emma, noch ein Baby kommen beim Absturz, den Nixon in seiner ganzen Ausführlichkeit beschreibt, ums Leben. Drei Kinder überleben: Der 14jährige Maurice, die 12jährige Katherine und der siebenjährige Tommy. Doch der Unfall bleibt unbemerkt und bis zum Dienstantritt des Vaters wird sie auch von niemandem vermisst.

32 Jahre später erhält Suzanne Taylor, die Tante der Kinder, einen Anruf aus der neuseeländischen Vertretung in London. Vor kurzem wurden an der Westküste Neuseelands die menschlichen Überreste ihres Neffen Maurice gefunden. Für Suzanne folgt die größte Überraschung aus dem Obduktionsbericht. Demnach war Maurice zum Zeitpunkt seines Todes 17 oder 18 Jahre alt.

Beim Sprung zurück ins Jahr 1978 erfährt der Leser das Schicksal der Kinder, die teilweise schwer verletzt, nach wenigen Tagen vom Jäger Peters gefunden werden. Er nimmt die Kinder mit in ein einsames Tal, wo er und eine weitere Einsiedlerin, Martha, leben. Die beiden versorgen die Kinder und Martha heilt den schwer verletzten Maurice. Doch als die Zeit vergeht, müssen die Kinder feststellen, dass Martha und Peters sie nicht gehen lassen wollen. Martha präsentiert Maurice und Katherine ein Kerbholz, auf dem ihre Schulden eingekerbt sind, die sie begleichen müssen, bevor sie gehen dürften.

Auf mehreren zeitlichen Ebenen begleitet der Autor nun in der Folgezeit die weitere Entwicklung der Kinder im Tal und Suzanne im Jahr 2010 sowie ihre mehrfachen Reisen 1978 und in den Folgejahren nach Neuseeland, um irgendeine Spur der Familie ihrer Schwester zu finden. Es entwickelt sich ein Drama, das eher effizient als ausschmückend erzählt wird, allerdings ein wenig mystisch-schaurig. Dieses Tal mitten im wilden, bergigen Waldland wird für die Kinder zu einem abgeschlossenen Raum. Das Verbot, diesen Raum zu verlassen, wird von der beflissenen, empathischen Katherine befolgt, die sich zunehmend mit der Situation arrangiert, während der wütende, zornige Maurice alles daran setzt, sein Gefängnis zu verlassen. Dabei verhalten sich Peters und Martha hart und unerbittlich, wenngleich sie die Kinder nicht vernachlässigen.

Doch eines Tages würde er den König fangen. Er würde lachen, während er ihn tötete, und er würde seinen Kopf herbringen und zu den anderen legen. Danach würde er keinen Grund mehr haben, weiterhin Rache zu nehmen. Von diesem Tag an würde er sich besser fühlen, davon war er überzeugt. (Auszug E-Book Pos. 2472)

Die Geschichte hat viele interessante Facetten, die Carl Nixon manchmal nur anreißt und nie überdehnt. Im Vordergrund steht sicherlich das Wesen von Familie und menschlichen Beziehungen. Die Frage, was man einem anderen schuldet oder nicht. Ebenso Überlebenswille, Widerstand, Anpassung und Transformation in Extremsituationen. Aber auch Dinge wie Identität und (Post-)Kolonialismus werden ebenso angerissen. Daneben gibt es wirklich großartige Beschreibungen der neuseeländischen, von menschlichem Einfluss noch wenig berührten Landschaft.

Im Vorwort weist der Autor selbst darauf hin, dass er die Story der drei Kinder, die plötzlich auf sich allein gestellt, unter widrigen Bedingungen zurechtkommen müssen, als „Spiegelbild der Geschichte Neuseelands“ begreift. „Kerbholz“ überzeugt als kleiner, feiner Roman, der auf nicht allzu vielen Seiten eine dramatische, berührende und dabei psychologisch-ausgefeilte Geschichte erzählt.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Kerbholz | Erschienen am 08.05.2023 im Culturbooks Verlag
ISBN 978-3-95988-156-2
304 Seiten | 24,- €
Originaltitel: The Tally Stick | Übersetzung aus dem Englischen von Jan Karsten
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Rezension zu „Rocking Horse Road“ von Carl Nixon

Hayley Scrivenor | Dinge, die wir brennen sahen

Hayley Scrivenor | Dinge, die wir brennen sahen

Wir Kinder hatten einen eigenen Namen für unseren Ort, der offiziell Durton hieß: Dirt Town – irgendjemand hatte ihn sich ausgedacht und wahrscheinlich auf dem Schulhof damit angegeben wie mit einer glänzenden Murmel -, aber er war schon lange erprobt, als wir in die erste Klasse kamen. (Auszug S.62)

Durton ist eine vermutlich typische Kleinstadt im australischen Hinterland mit den typischen Problemen von steigender Arbeitslosigkeit und Landflucht. Ansonsten aber nichts Aufregendes, bis eines Freitags im November die 12jährige Esther Bianchi nicht von der Schule nach Hause kommt. Ihre Mutter Constance ist irgendwann besorgt, ruft die Freunde an, bei denen sie aber auch nicht ist, und wendet sich gegen Abend an die Polizei. Die Polizei reagiert schnell und schickt sofort zwei spezialisierte Beamte nach Durton. Was der Leser aber schon seit der zweiten Seite weiß: Die darauffolgende Suche wird erfolglos bleiben. Esther ist tot.

Damit ist der Ton des Romans bereits gesetzt und die Richtung klar, auch wenn die Polizei dies erst am Montag sicher weiß, als Esthers Leiche gefunden wird. Es wird nach einem Täter gesucht und der ist vermutlich innerhalb der kleinstädtischen Gemeinschaft zu finden. Auch wenn die Ermittlungen der zuständigen Polizistin Sarah mit ihrem Partner Smithy ausführlich beschrieben werden, das Hauptaugenmerk legt die Autorin im folgenden auf den verschiedenen Personenkonstellationen innerhalb und zwischen den beteiligten Familien. Es entwickelt sich ein Drama, ein Psychogramm einer Kleinstadt, in der zunehmend die Fassade bröckelt und die Wahrheit hinter Lügen und Geheimnissen verschleiert wird.

„Ronnie“, setzte sie an, aber ihre Stimme brach schon nach dem ersten Wort. „Sie haben Esther gefunden“, sagte sie schließlich.
Ihr Ton verriet mir, dass sie nicht alles gefunden hatten. Nicht ihr Lachen, nicht ihr lässiges Schlendern, nichts vonn dem, was ich an ihr liebte. Nichts davon würde zurückkehren. (Auszug S.300)

Die australische Autorin Hayley Scrivenor bedient sich dazu in ihrem Romandebüt „Dinge, die wir brennen sahen“ einer ausgefeilten multiperspektiven Erzählweise. Neben der Ermittlerin Sarah erhalten auch Esthers gleichaltrige Freunde Lewis und Veronika („Ronnie“) sowie Esthers Mutter Constance eine Erzählperspektive, Ronnie dabei als einzige in der ersten Person Singular. Spannend ist dabei, wie die Autorin an manchen Stellen die Perspektive wechselt und Ereignisse nochmal aus anderem Blickwinkel wiederholt. Zuletzt bringt Scrivenor noch eine Wir-Erzählerebene ein, als Stimme der Kinder von Durton. Selten gewählt und daher sehr spannend, wenn es gut gemacht ist, wie etwa beim neuseeländischen Autor Carl Nixon in seinem Roman „Rocking Horse Road“. Hier hatte ich allerdings das Gefühl, dass die Autorin nur bedingt etwas mit dem „Wir-Erzähler“ anzufangen weiß und ihn teilweise stellvertretend als allgemeinen Erzähler benutzt, etwa bei der Auflösung am Ende.

Ansonsten weiß „Dinge, die wir brennen sahen“ aber durchaus zu gefallen. Das liegt nicht so sehr am Schauplatz, der insgesamt eine geringere Rolle spielt als sonst bei australischen Krimis. Sondern vielmehr in der akribischen Darstellung und Auflösung der Figurenkonstellationen, der gescheiterten Ehen, des gewalttätigen Vaters, der Probleme der Heranwachsenden mit sich selbst und untereinander. Eine tragische, sehr penibel und dennoch packend geschilderte Geschichte mit einem ziemlich banalem, aber dadurch nicht minder erschreckendem Ende.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Dinge, die wir brennen sahen | Erschienen am 31.03.2023 im Eichborn Verlag
ISBN 978-3-8479-0115-0
368 Seiten | 22,- €
Originaltitel: Dirt Town | Übersetzung aus dem Englischen von Andrea O’Brien
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Jochen Rausch | Im toten Winkel

Jochen Rausch | Im toten Winkel

Marta Milutinovic steht vor einem absoluten Neuanfang, beruflich und privat. Nach der Ermordung ihrer 17jährigen Tochter ist auch ihre Ehe zerbrochen. Als Polizistin ist ihr zuletzt bei einer Festnahme ein Fehler unterlaufen, ein junger Italiener ist seitdem schwer behindert. Weit weg von der Großstadt München übernimmt sie die Leitung der Polizeidienststelle im Provinzort Schwarzbach, nahe des ehemaligen Dreiländerecks BRD, DDR und Tschechoslowakei.

Dort geht es vermeintlich etwas beschaulicher zu. Doch um Martas Nervenkostüm ist es weiterhin nicht allzu gut bestellt, direkt am ersten Tag macht sie Bekanntschaft mit einem unverschämten Autofahrer, bei dem sie sogar ihre Waffe zückt. Danach muss sich mit einem Sexualstraftäter befassen, der sich unter neuem Namen in Schwarzbach niedergelassen hat. Über Social Media wird sie dann auf einen alten Fall aufmerksam gemacht. Im November 1998 verschwand der Abiturient Jens Fritsche spurlos, Monate später wurde seine Leiche gefunden. Der Fall wurde bis heute nicht aufgeklärt und irgendjemand füttert einen Account, der an dieses Verbrechen erinnert und sich an den Mörder richtet, dass dieser noch gefunden werden wird. Martas Interesse an dem Fall ist geweckt, doch viel Hoffnung macht ihr niemand in Schwarzbach. Im Gegenteil schient es einigen eher unangenehm, dass der alte Fall nochmal angefasst wird.

Eine Kleinstadt im Nirgendwo, ein unaufgeklärter Mordfall, eine traumatisierte Kommissarin und zahlreiche Personen in der Stadt, denen lieber wäre, wenn die Polizei eher eine ruhige Kugel schiebt und Vergangenes vergangen sein lässt. Das sind die klassischen Zutaten der aktuellen Kriminalliteratur und speziell Ingredenzien, die vorwiegend amerikanische Autor:innen im Subgenre Country Noir verwenden. Journalist, Musiker und Autor Jochen Rausch, literarisch bislang vor allem durch seinen Roman „Krieg“ bekannt, kennt all diese Zutaten und stellt daraus sehr routiniert einen spannenden Provinznoir zusammen. Allerdings war es für mich schon manchmal zu routiniert und gar ein wenig schematisch wie hier manche Themen abgehakt wurden. Sexualstraftäter, Crystal Meth, Deutsch-deutsche Grenze, Vetternwirtschaft, eine seltsame Religionsgemeinschaft, die italienische Mafia, Sexueller Missbrauch usw. Ein paar Themen hätte der Autor auch für kommende Bände der angekündigten Reihe aufsparen können.

Nein. Sie wird niemanden anrufen. Keine Hundertschaft, keine Hubschrauber, keine Spürhunde. Sie wird es akzeptieren. Es ist ihre Strafe. Ihr Schmerz gegen seinen Schmerz. Aber jetzt hat sie ihre Strafe verbüßt. Hat ihre Strafe bekommen. Es ist genug Strafe.
Genug, genug, genug. (E-Book, Position 1464)

Dass ich trotzdem an der Reihe interessiert bleibe, liegt vor allem an der starken Hauptfigur Marta Milutinovic ist zwar auch eine aus der Reihe der traumatisierten Ermittler:innen, ihre Ermittlerarbeit ist auch eher beharrlich als brillant, aber ihre Krise wird sehr eindrucksvoll beschrieben. Der Mord an ihrer Tochter ist der Schicksalsschlag, der alles überstrahlt. Hinzu kommen die Selbstverwürfe durch den fehlerhaften Waffengebrauch (Wie sich herausstellt, kommen Vorwürfe auch aus anderer, gefährlicher Richtung). Martas Schmerz wird sehr präzise herausgearbeitet. Abgerundet wird das Psychogramm durch ihre Sehnsüchte auf eine glücklichere Zukunft, auf die alten Heimat der Eltern, die slowenische Adriaküste, und ihre ehemalige Teenagerliebe.

Insgesamt also ein Reihenauftakt, der plottechnisch für mich noch Luft nach oben hat, aber schon jetzt mit sehr ausgefeilten Figuren, vor allem bei der Hauptfigur, punkten kann.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Im toten Winkel | Erschienen am 30.03.2023 im Piper Verlag
ISBN 978-3-492-07164-2
304 Seiten | 24,- €
Als E-Book: ISBN 978-3-492-60424-6 | 16,99 €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Vor 25 Jahren: 1998 in Crime Fiction (Teil 2)

Vor 25 Jahren: 1998 in Crime Fiction (Teil 2)

Im Jahr 1998 haben uns auch einige Autor:innen für immer verlassen. So im April Francis Durbridge im Alter von 85 Jahren. Durbridge war für mich wie auch Edgar Wallace immer mit dem Begriff „Straßenfeger“ verbunden. Meine Eltern erzählten mir, dass die Straßen wie leer gefegt waren, wenn eine Krimiverfilmung von Durbridge in den 1960ern im Fernsehen lief. Was mich mit hochgezogenen Augenbrauen in den 1980ern oder 1990ern zurückgelassen hat, war man doch inzwischen anderes von Tempo und Inszenierung gewohnt. Ich muss allerdings gestehen, dass ich noch nie einen Roman von Durbridge gelesen habe.

Das ist beim zweiten Todesfall ganz anders. Am 22.10.1998 verstarb Eric Ambler 89-jährig, einer meiner Lieblingsautoren unter den Klassikern. Ambler gilt bis heute als einer der versiertesten Autoren von Politthrillern und durch seine lange Schaffensphase von Mitte der 1930er bis in die Mitte der 1980er als Chronist des 20.Jahrhunderts. In seiner ersten Phase in den 1930ern war er noch stark links unterwegs mit unverkennbaren Sympathien für den Kommunismus, dies änderte sich mit der zweiten Phase ab 1951 als er in seinen Thrillern allen Seiten ihr Fett weg bekommen. Sein bekanntestes Werk ist sicherlich „Die Maske des Dimitrios“. Mein bisheriger Favorit von ihm ist „Doktor Frigo“, ein feiner, zynischer Roman, wie eine Großmacht einen Putsch in einer Banenenrepublik organisiert.

Was gibt es sonst noch für bemerkenswerte Kriminalromane des Jahres 1998, die bisher nicht genannt wurden? „Komm, süßer Tod“, der dritte Brenner-Krimi von Wolf Haas, in dem der Brenner sich unter die Rettungssanitäter mischt. Der Roman gewann später den Deutschen Krimi Preis 1999. In den USA erscheinen „Die Trying“ („Ausgeliefert“), der zweite Thriller von Lee Child über den Veteranen und Einzelgänger Jack Reacher sowie „Gone Baby Gone“ von Dennis Lehane aus der sensationellen Kenzie/Gennaro-Reihe, in Großbritannien „On Beulah Height“ („Das Dorf der verschwundenen Kinder“) von Reginald Hill, einer der erfolgreichsten Dalziel/Pascoe-Romanen.

Daneben gibt es auch eine Reihe Debüts, zum einen generell von neuen Autor:innen, zum anderen von Reihen, die teilweise bis heute laufen. So etwa Jörg Juretzkas Ruhrpott-Privatdetektiv Kristof Kryszinski, dessen erster Fall „Prickel“ 1998 erschien. Genau wie Friedrich Anis „Die Erfindung des Abschieds“, der erste Roman mit Tabor Süden. Ebenfalls neu war Alfred Komareks melancholischer Inspektor Simon Polt mit „Polt muss weinen“.

International trat zum einen der Detroiter Autor Steve Hamilton mit „Ein kalter Tag im Paradies“ zum ersten Mal in Erscheinung, der ersten Roman einer Serie um den Privatdetektiv und Ex-Cop Alex McKnight. Der Roman gewann mehrere Preise als bestes Debüt. Ebenso ausgezeichnet wurde 1998 das Debüt einer schottischen Autorin. Denise Mina ist heute eine der renommiersten Krimiautor:innen ihrer Heimat, gewann in den letzten fünf Jahren dreimal den Deutschen Krimipreis. Im Jahr 1998 erschien ihr Erstling „Garnethill“.

Denise Mina | Garnethill (Deutscher Titel: Schrei lauter, Maureen)

Das Jahr 1998 war auch der Beginn der Karriere einer jungen schottischen Schriftstellerin. Denise Mina, Juristin mit einem Lehrauftrag für Kriminologie veröffentlichte mit Garnethill ihren ersten Kriminalroman und erhielt dafür direkt den „Dagger“ für den besten Debütroman. Mit ihrem ersten Roman der Garnethill-Trilogie knüpft sie auch an einen persönlichen Interessenschwerpunkt an: Der Umgang mit Frauen im Strafvollzug, Forensik und Psychiatrie.

Maureen O’Donnell lebt im Stadtteil Garnethill in Glasgow. Die junge Frau hat aufgrund eines sexuellen Missbrauchs durch ihren Vater psychische Probleme und ist in Behandlung. Sie lebt in einer undefinierten Beziehung mit Douglas, ein Therapeut (nicht ihr Therapeut) aus einer Klinik, in der sie war. Allerdings zweifelt Maureen an der Sinnhaftigkeit der Beziehung und erhält schließich Gewissheit, dass Douglas ihr verschwiegen hat, dass er verheiratet ist. Am selben Abend nach dieser Information lässt sich Maureen mit ihrer Freindin Leslie vollaufen, kommt irgendwann spät nach Hause und stürzt nur noch betrunken ins Bett. Am nächsten Morgen findet sie Douglas in ihrem Wohnzimmer – an einen Stuhl gefesselt und brutal ermordet. Relativ klar, wen die Polizei und die Presse als Hauptverdächtige einstuft.

Der Roman erhält seinen besonderen Reiz dadurch, dass über lange Zeit Maureen selbst bzw. ihr Bruder Liam als Verdächtige gelten. Maureen stellt daraufhin eigene Nachforschungen an und stösst auf einen Abgrund von sexuellem Missbrauch in einer psychiatrischen Einrichtung. Traumatisierte Frauen, voller Ängste, die in einer vermeintlich sicheren Umgebung erneut Gewalt und Missbrauch ausgesetzt sind. Schon in ihrem ersten Roman spielt Denise Mina ihre Fähigkeiten aus, die auch in der Folgezeit in ihren Romanen beeindrucken: Ausgefeilte Psychogramme, das Analysen von Beziehungen und Familienkonstellationen und lebensnahe, auch durchaus unbequeme Figuren. Ein empfehlenswertes Debüt.

 

Im internationalen Film gab es 1998 ein paar Krimis, Thriller oder Gangsterfilme, die im Gedächtnis geblieben sind. Allen voran sicherlich der nächste Coup der Coen-Brüder: „The Big Lebowski“, ein wunderbar skurilles Werk mit deutlichen Anleihen an Raymond Chandler mit Jeff Bridges in der Rolle seines Lebens als der Dude. Bei mir ebenfalls sehr hoch im Rennen ist „American History X“, ein verstörendes Drama über die amerikanische Neonaziszene mit Edward Norton in oscarreifer Form (er verlor allerdings gegen Roberto Benigni). Bis heute verstört mich diese Brutalität mit dem „Bordsteinbashing“.

1998 war ich noch sehr häufig im Kino und kann mich noch an einige Filme gut erinnern. „Cop Land“ etwa war für mich die beste schauspielerische Leistung von Sylvester Stallone bis heute, „Ronin“ mit Jean Reno, Natasha McElhone und Robert de Niro zeigte großartige Autoverfolgungsjagden durch Paris und „Out of Sight“, die Verfilmung eines Elmore Leonard-Romans mit George Clooney und Jennifer Lopez, war eine äußerst lässig-charmante Gangsterkomödie. Deutlich brutaler und schwarzhumoriger war hingegen das Kinodebüt des britischen Regisseurs Guy Ritchie: Im August kam in Großbritannien „Lock, Stock & Two Smoking Barrels“ in die Kinos.

Bube, Dame, König, grAS (Originaltitel: Lock, Stock & Two Smoking Barrels)

Die vier Kumpels Eddy, Tom, Soap und Bacon fristen ein überschaubares Dasein als Kleinganoven, hoffen jedoch auf einen großen Gewinn, in dem sie 100.000 Pfund zusammenbringen und der talentierter Pokerspieler Eddy sich damit bei einer illegalen Pokerrunde des lokalen Gangsterbosses und Pornokönig „Hackebeil“ Harry einkaufen kann. Doch es kommt natürlich anders, Eddy wird beim Spiel gelinkt und steht plötzlich mit einer halben Million bei Harry in der Kreide, der das Geld innerhalb einer Woche wiedersehen will. Durch einen Zufall hört Eddy durch die dünnen Wände ihrer Wohnung, wie ihr Nachbar, der Gangster Dog einen Raubüberfall auf ein paar Marihuana-Züchter mit einer Menge Gras und eine Menge Geld planen. Das könnte eine Chance sein, die Schulden zu begleichen. Währenddessen gibt „Hackebeil“ Harry den Raub von zwei antiken Flinten in Auftrag, die im Verlauf der Geschichte noch eine Rolle spielen werden.

Guy Ritchies Kinofilmdebüt ist eine rabenschwarze Gangsterkomödie, die den Regisseur und Drehbuchautor direkt zu einem der Hoffnungsträger des britischen und europäischen Films machte. Eine Rolle, die Ritchie bis heute nur teilweise erfüllen konnte. „Bube, Dame, König, grAS“ war allerdings als Independentfilm ein großer Erfolg, brachte Ritchie außerdem einen Edgar Award für das beste Drehbuch ein.

Der Film steht in der Tradition britischer Gangsterfilme und natürlich umweht auch so ein wenig Tarantino die Szenerie. Viele skurrile Figuren, parallele Handlungsstränge, (w)irre Wendungen, lässige Sprüche und schwarzer Humor machen den Film trotz der enormen Gewaltausbrüche äußerst sehenswert. Der katholische Filmdienst beschwerte sich zwar über das vermittelte „fatalistische Weltbild“ – aber so what? Vor allem hat der Film einen durchgängigen Style, der überzeugt. Sepiatöne, Slomo, Einfrieren des Bildes und so weiter sowie einen lässigen Erzähler (in der deutschen Synchronisation von Martin Semmelrogge gesprochen – eine exzellente Wahl): Guy Ritchie macht in Visualisierung und Gesamtkomposition sehr vieles richtig. Dazu ein abwechslungsreicher Soundtrack zwischen Soul, Funk und Britpop (Besonders begeistert war ich vom Sirtaki zur Szene, als beide Gangsterclans aufeinandertreffen). Außerdem ein hervorragender Cast (u.a. mit Sting!) mit dem Highlight Fußballer Vinnie „The Axe“ Jones als Geldeintreiber Big Chris. Auch nach 25 Jahren ist „Bube, Dame, König, grAS“ ist immer noch eine gute Wahl für einen kurzweiligen Gangsterfilm.

 

Fotos, Rezensionen und Begleittext von Andy Ruhr und Gunnar Wolters.

Schrei lauter, Maureen | Im Original erschienen 1998 bei Bantam Press
Die gelesene Ausgabe erschien 2001 im Knaur Verlag
ISBN 978-3-426-61926-1
427 Seiten | 8,90 €
Originaltitel: Garnethill | Übersetzung aus dem Englischen von Doris Styron

Bube, Dame, König, grAS | Kinostart (UK) am 28. August 1998
Die Blue-Ray erschien am 19. März 2011 | 10,99 €
Laufzeit 1 Std. 47 Min. | FSK 16