Kategorie: Gunnar Wolters

In Erinnerung: Peter Zeindler (1934-2023) | Die Ringe des Saturns

In Erinnerung: Peter Zeindler (1934-2023) | Die Ringe des Saturns

Am 07.05.2023 verstarb Peter Zeindler in seiner Heimat Zürich. Es war in letzter Zeit still geworden um den Autor, dessen Name vielen Krimifans, die erst in den letzten 20 Jahren zum Genre gestoßen sind, vermutlich nicht mehr viel sagte. Dabei ist Zeindler bis heute Rekordsieger beim Deutschen Krimipreis „National“. Gleich viermal war er auf Platz 1 des prestigeträchtigen Preises: 1986, 1988, 1990 und 1992 für seine Romane „Der Zirkel“, „Widerspiel“, „Der Schattenagent“ und „Feuerprobe“, zudem erhielt er 1996 den Ehrenglauser für sein Lebenswerk.

Peter Zeindler wurde 1934 in Zürich geboren, wuchs in Schaffhausen auf, studierte später Germanistik und Kunstgeschichte. Er arbeitete als Dozent und Deutschlehrer, ehe er schließlich eine journalistische Laufbahn einschlug, unter anderem als Redaktuer und Moderator beim Schweizer Radio und Fernsehen. Zeindler schrieb ab Ende der 1960er fürs Theater und Hörspiele, 1992 schließlich seinen ersten Roman „Tarock“.

Große Bekanntheit erlangte Zeindler dann mit seiner Romanreihe um Konrad Sembritzki. In insgesamt zwölf Romanen ist Sembritzki Hauptfigur, der letzte Roman „Die weiße Madonna“ erschien 2014. Zeindler verstand sich dabei ausdrücklich nicht als Krimiautor, sondern als „Autor von Spionageromanen“ und betonte die literarische Seite seines Schreibens. Dem Deutschlandfunk sagte er mal: „Ich bin nicht bereit, alle Zugeständnisse an das Genre zu machen, nur damit es mehr Thrill hat. Ich weiß, dass ich manchmal zwischen Stuhl und Bank sitze mit meinen Büchern, weil ich nicht das spezifische Publikum so bediene, wie es erwartet wird.“

Das erste Mal taucht Konrad Sembritzki in Zeindlers zweitem Roman „Die Ringe des Saturns“ auf. Er ist Antiquar in Bern und war ehemals Agent des deutschen Bundesnachrichtendienstes und wird aber, obwohl offiziell außer Dienst, immer wieder in Geheimdienstaktivitäten involviert. Sembritzki ist ein Netzwerker, ein Strippenzieher, kein Mann fürs Grobe. Dabei erweist er sich als Melancholiker und einsamer Mann, der sich zwar mit nur begrenzter Unterstützung in einer komplizierten Welt von Täuschung, Tarnung und sich ändernden Machtbereichen zurechtfindet, aber den inneren Hafen, ein vertrautes Alltagsleben, nicht herzustellen vermag.

Die Ringe des Saturns

Konrad Sembritzki wird von seinem ehemaligen Führungsoffizier im BND, Stachow, kontaktiert. Er soll die Teilnahme an einer Fachkonferenz in Prag als Tarnung nutzen, um sein altes Spionagenetzwerk in der CSSR wiederzubeleben. Stachow steht wegen angeblicher Truppenbewegungen des Ostblocks intern unter Druck. Schon auf dem Weg zum Geheimtreffen am Bodensee bemerkt Sembritzki, dass er beschattet wird. Kurz nach dem Treffen wird Stachow tot aufgefunden. Sembritzki wird nach Pullach zitiert und erhält von seinem neuen Chef Römmel den gleichen Auftakt, allerdings mit anderer Ausrichtung: Der BND erwartet Beweise für die Truppenbewegungen und Stationierung neuer Mittelstreckenraketen der Sowjets.

Sembritzki sucht Kontakt zu alten Verbündeten im BND und ihm wird klar, dass der Regierungswechsel in Bonn nun die Falken in den BND gebracht hat. Statt Abrüstung wird nun über neue Waffen diskutiert, um der Bedrohung aus dem Osten zu begegnen. Sembritzki wird vom BND und mächtigen Lobbyisten unter Druck gesetzt. Doch so leicht will sich Sembritzki nicht instrumentalisieren lassen. Er reist nach Prag in die Höhle des Löwen. Dort wartet auch seine alte Liebe Eva, mit deren Hilfe er sich echte Informationen erhofft.

Er war kein Partisan der Friedensbewegung. Er war nur ein Gegner der Gewalt. Und das war für ihn nicht dasselbe. Er war ein Partisan des kalten Krieges, dieses Zwischenspiels, das Kriege voneinander trennte. Er war ein Traumtänzer zwischen den Fronten, der sich immer wieder einredete, daß er mit seiner Tätigkeit zwar den Krieg verhinderte, daß sie aber allein, in unmittelbarer Nachbarschaft der Zerstörung, jene kreativen Kräfte in ihm zu mobilisieren vermochte, die ihm das Alltagsleben nie entlocken konnte. (Auszug S.98)

Ein komplexer Spionageroman, der vor dem inzwischen historischen, damals aber hochaktuellen Szenario des NATO-Doppelbeschlusses, der atomaren Aufrüstung und eines wieder heiß werdenden kalten Kriegs spielt. Die Hauptfigur Sembritzki muss sich durch ein Feld sehr unterschiedlicher Interessensgruppen hindurchlavieren. So gibt es die neue Führung des BND, die wie weitere Akteure des militärisch-industriellen Komplexes auf die atomare Aufrüstung setzt. Auf der anderen Seite Oppositionelle im BND und eine Friedensbewegung, auch in der CSSR, die auf Abrüstung hoffen. Zuletzt auch der tschechoslowakische Geheimdient, der Sembritzki Netz enttarnen will.

„Die Ringe des Saturns“ ist zwar vom Thema her oberflächlich etwas in die Jahre gekommen, durch den neuen Konflikt zwischen Russland und der NATO aber dennoch wieder interessant zu lesen, auch vor dem Hintergrund, wie defensiv die NATO tatsächlich agiert. Ansonsten ist es ein klassischer Spionagethriller, der sich im Genre deutlich eher im Spielfeld eines Le Carrés als eines Flemings bewegt. Das bedeutet, dass Peter Zeindler deutlich mehr Augenmerk auf die Figuren und ihre Rolle im Spiel der Kräfte legt, als auf Action und Spannung (die jedoch durchaus auch vorhanden ist). Die Welt der Spionage ist und bleibt komplex und so auch die melancholische Hauptfigur Konrad Sembritzki.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Die Ringe des Saturns | Erstmals erschienen 1984
Die gelesene Ausgabe erschien 1992 im Goldmann Verlag
ISBN 978-3-442-05200-9
304 Seiten | 12,80 DM
Bibliografische Angaben & Leseprobe (aktuell nur antiquarisch erhältlich)

Quellen:

H.P. Karr: „Zeindler, Peter“ im „Lexikon der deutschen Krimi-Autoren“ unter www.krimilexikon.de;
Katja Schönherr & Felix Münger: „Nachruf auf Peter Zeindler – Der Schweizer Meister des Spionageromans ist tot“ auf srf.ch

Deepti Kapoor | Zeit der Schuld

Deepti Kapoor | Zeit der Schuld

Was sie erkennen, ist Folgendes: Er ist kein reicher Mann, beileibe kein reicher Mann, eher ein Faksimile, er erinnert nur an den Wohlstand, dient ihm. […]
Ja, er ist ein Dienstbote, ein Chauffeur, ein Fahrer, ein „Boy“.
Eine wohlgenährte, stubenreine Version dessen, was da tot auf der Straße liegt.
Und der Mercedes gehört ihm nicht.
Man kann also mit ihm machen, was man will. (Auszug S.11)

Der Roman beginnt mit einer Situation nach einem verheerenden Verkehrsunfall. Fünf tote Obdachlose liegen neben einer Straße in Delhi und die Polizei greift einen jungen Mann am Steuer des Tatwagens auf. Es ist Ajay. Im Anschluss erfahren wir seine Lebensgeschichte. Unter ärmsten Bedingungen in einem Dorf in Uttar Pradesh geboren, wird er mit acht Jahren an ein kinderloses Ehepaar verkauft. Dort wird er nicht schlecht behandelt, aber wächst in seine spätere Rolle als Lakai und Bediensteter hinein. Später als Kellner in einem Lokal erlangt er die Aufmerksamkeit von Sunny Wadia. Sunny ist Sohn von Bunty Wadia, einflussreicher Geschäftsmann in verschiedenen Geschäftsfelder, eng verwoben mit der Politik und dem organisierten Verbrechen. Ajay wird loyaler Handlanger von Sunny, der sich am liebsten weitestgehend aus den schmutzigen Geschäften des Vaters heraushalten will. Sunny tritt als Mäzen auf, umgibt sich mit den schönen Dingen, interessiert sich für Stadtplanungsprojekte. Er lernt die Journalistin Neda kennen und lieben, die kritisch über Machtmissbrauch und Korruption berichtet. Doch der dunkle Einfluss von Bunty Wadia zieht Sunny und Neda in einen Abgrund aus Macht, Gier, Gewalt und Tod – und Ajay schließlich an das Steuer dieses Mercedes.

Indien ist seit letztem Jahr das Land mit den meisten Einwohnern auf der Erde. Überhaupt gilt das Land aufgrund der günstigen Demographie als das Land der Zukunft, auch geopolitisch. Allerdings ist dieses riesige, so heterogene Land voller Gegensätze für viele im Westen noch ein Mysterium. Die Autorin Deepti Kapoor ist 1980 im Bundesstaat Utter Pradesh geboren worden, hat zehn Jahre in der Hauptstadt als Journalistin gearbeitet. Sie ist mit einem Briten verheiratet und lebt mittlerweile in Portugal. „Age of Vice“ ist ihr zweiter Roman und nichts weniger als ein Epos, das offensichtlich auf mehrere Teile angelegt ist.

Der Roman beginnt mit der Geschichte von Ajay, einem Jungen aus den unteren Kasten, seine Jugend gekennzeichnet von Armut, Gewalt, Unterdrückung und harter Arbeit. Sunny entdeckt sein Potenzial als treuer Diener, das Ajay ergeben erfüllt. Sunny hingegen ist ein reicher Sprößling, dem alles zufliegt und dem alle Türen offenstehen, durchaus weltoffen und modern, der sich aber insgeheim vor allem eines wünscht: Die Zuneigung seines skrupellosen Vaters. Doch er als er diese erreicht, führt es zu Selbsthass und Depression. Schließlich Neda, eine junge, moderne Frau aus fortschrittlichem Haus, die das Potenzial in Sunny erkennt, die aber seiner Selbstzerstörung letztlich nichts entgegen setzen kann.

„[…] Ich dachte, dieser Mensch könnte ich für immer bleiben. Aber sieh mich an. Ich kann es nicht. Ich schaffe es nicht mehr. Es geht nicht. Es war alles gelogen… ich liebe Schönheit. Ich möchte schöne Dinge schaffen. Aber das ist das Letzte, was die kapieren. Sie wollen, dass ich an der Oberfläche schön und innen völlig verdorben bin, so wie sie.“ (Auszug S.424)

Die Story ist breit angelegt, mit Orts- und Zeitwechseln. Das Buch ist in drei Teile geteilt, die einen Wechsel der Perspektive zwischen den drei Hauptfiguren beinhaltet. Manche Szenen werden doppelt aus zwei Perspektiven erzählt. Die Autorin hat den Roman überwiegend im Präsens und meist in kurzen, knappen Sätzen verfasst. Dadurch wird der Leser unmittelbar in die Geschichte hereingezogen. Die Struktur des Romans, aber auch sein Thema von Macht, Gewalt, Korruption, Liebe und Verrat – das alles erinnerte mich ungemein an eines meines Lieblingsbücher: „Tage der Toten“. Wie Winslow zeichnet Kapoor ein brutales Bild einer gnadenlosen, brutalen Welt und mehrerer Personen, die vergeblich versuchen, aus diesem Teufelskreis auszubrechen. Bei „Zeit der Schuld“ ist es der Schauplatz Indien, auf dem Papier die größte Demokratie der Welt und die Nation mit dem größten Potenzial, die sich allerdings durch Korruption, Vetternwirtschaft und Kasten- und Klassendenken immer wieder selbst behindert. Das alles ist spannend und zielstrebig erzählt, lediglich im dritten Abschnitt lässt die Autorin für meinen Geschmack etwas die Stringenz vermissen. Nichtsdestotrotz gelingt Deepti Kapoor mit diesem Roman ein schillerndes, aufregendes und mitreißendes Epos. Unbedingt lesenswert.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Zeit der Schuld | Erschienen am 01.03.2023 im Blessing Verlag
ISBN 978-3-89667-707-5
688 Seiten | 28,- €
Originaltitel: Age of Vice | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Astrid Finke
Bibliografische Angaben & Leseprobe

John Brownlow | Seventeen

John Brownlow | Seventeen

Ich tue das Einzige, was mir einfällt. Als ich an der Küche vorbeikomme, schnappe ich mir die Kaffeekanne und werfe damit nach der Frau. Praktisch im selben Moment schleudert sie mir das Telefon entgegen. […]
Ich weiß nicht, woher die Frau die Kraft nimmt, aber Wut und Kummer haben ihr einen Arm verliehen, mit dem sie für jede Baseballmannschaft ein Gewinn wäre. Das Gerät fliegt mit wild herumwirbelnden Kabeln auf mich zu wie eine Art überdimensionierter Wurfstern. Und trifft mich mitten auf der Stirn. (Auszug S.28)

Der Mann, der da gerade ziemlich peinlich zu Boden geschickt wird, ist übrigens ein Auftragskiller. Und nicht irgendeiner, sondern der Beste der Branche. Sein Name ist eine Nummer – Seventeen. Er ist der 17. einer illustren Reihe absoluter Profis. Ein Freelancer, der Aufträge von überall her durch seinen Agenten Handler annimmt. Gerade hat er in einer Vorstandsetage eines Unternehmens in Berlin einen Job ausgeführt, als er auf unerwartete Probleme beim Abgang stößt. Doch er wird fliehen können und wenige Stunden später sogar noch einen zweiten Job annehmen. Einen sehr blutigen sogar, weil die Zielperson glaubt, mit dem Schlucken eines Datenträger noch irgendetwas verhindern zu können. Die Art und Weise des zweiten Auftrags machen Seventeen etwas skeptisch, was für eine Art Auftrag das gerade war, aber ihm bleibt nicht viel Zeit zum Nachdenken.

Handler vermittelt ihm seine nächste Aufgabe. Eine verdammt heikle und unangenehme. Vor ihm als No. 17 gab es entsprechend sechzehn andere Auftragskiller an der Spitze. Fünfzehn sind tot, die meisten nicht freiwillig aus dem Leben geschieden. Nur Sixteen lebt noch und ist ein Mysterium. Vor vielen Jahren hat er sich einfach aus dem Staub gemacht, ist spurlos von der Bildfläche verschwunden. Nun erhält Seventeen den Auftrag, ihn aufzuspüren und zu erledigen. Andernfalls könnten andere denken, dass die Zeit für No. Eighteen gekommen sei. Doch Seventeen weiß, dass Sixteen eine verdammt schwierige Aufgabe sein wird.

Als ich an meinem Versteck vorbeikomme, halte ich den Atem an. Fast rechne ich damit, dass er dort wartet und an meiner Stelle schießt.
Als das nicht geschieht, bin ich fast enttäuscht.
Vielleicht ist dieser Kerl trotz allem nur ein Mensch. (Auszug S.123)

Autor John Brownlow hat unter anderem das Drehbuch für die Fernsehserie „Fleming“ über Ian Fleming und die Entstehung von James Bond geschrieben. Für sein Romandebüt „Seventeen“ bewegt er sich in ähnlichen Gefilden. Im Gegensatz zu 007 ist Seventeen auf der dunklen Seite der Branche. Was allerdings nicht heißt, dass die meisten seiner Aufträge nicht von irgendeiner Regierung kommen, die sich aber nicht exponieren will. Seventeen ist ein absoluter Profi, seine Aufträge erledigt er kühl und zuverlässig, hinterfragt sie auch nicht groß, versucht allerdings, Kollateralschäden zu vermeiden. Seine Tarnung ist größstmögliche Auffälligkeit. Er hat es an der Spitze geschafft, aber seine Nachfolger sind stets auf der Lauer, Unachtsamkeit wird in der Branche grausam bestraft.

Das äußerst Unterhaltsame an diesem Roman ist die gewählte Perspektive und Erzählweise. Brownlow lässt Seventeen als Ich-Erzähler durch den Plot führen, der den Leser auch direkt anspricht und Einblicke ins Business und seinen Gemütszustand gibt. Das ist streckenweise zynisch, großspurig, aber auch ironisch und komisch. Rasante Action und brutale Szenen werden durch Slapstick und Komik gebrochen. Nach einer kurzen Einführung gibt Brownlow mit der Story direkt Vollgas und bleibt fast ununterbrochen auf dem Gaspedal.

„Seventeen“ ist nicht der ganz hintergrundfreie Actionroman. Es geht natürlich um Täuschung und Verrat und die ganzen Manöver haben irgendwie mit einem drohenden Krieg und dem noch fehlenden Anlass (man erinnere sich an Massenvernichtungswaffen) zwischen den USA und dem Iran zu tun. Doch das Politthrillerelement wird nicht überstrapaziert. Im Allgemeinen ist „Seventeen“ einfach ein famoser, äußerst unterhaltsamer Thriller, der einfach nur Spaß macht und unkonventionell über weite Strecken ein Feuerwerk abbrennt (das Ende hätte hingegen vielleicht noch unkonventioneller ablaufen können).

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

Seventeen | Erschienen am 18.04.2023 im Rowohlt Verlag
ISBN 978-3-499-00851-1
396 Seiten | 13,- €
Originaltitel: Seventeen | Übersetzung aus dem Englischen von Stefan Lux
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Carl Nixon | Kerbholz

Carl Nixon | Kerbholz

Am Anfang steht ein Verkehrsunfall. „Das Auto mit den drei schlafenden Kindern verließ die Erde“, so der beeindruckende erste Satz. Am 4.April 1978 kommt der Wagen der Chamberlains in einer einsamen Gegend auf Neuseelands Südinsel vom Weg ab und stürzt in eine Schlucht. Die Familie hatte erst vor Kurzem England verlassen, der Vater soll in zwei Wochen seinen neuen Job in Wellington antreten. Bis dahin wollen die Chamberlains die neue Heimat erkunden. Bis sie in einer regnerischen Nacht vom Weg abkommen und in eine Schlucht stürzen. Vater, Mutter und das jüngste Kind Emma, noch ein Baby kommen beim Absturz, den Nixon in seiner ganzen Ausführlichkeit beschreibt, ums Leben. Drei Kinder überleben: Der 14jährige Maurice, die 12jährige Katherine und der siebenjährige Tommy. Doch der Unfall bleibt unbemerkt und bis zum Dienstantritt des Vaters wird sie auch von niemandem vermisst.

32 Jahre später erhält Suzanne Taylor, die Tante der Kinder, einen Anruf aus der neuseeländischen Vertretung in London. Vor kurzem wurden an der Westküste Neuseelands die menschlichen Überreste ihres Neffen Maurice gefunden. Für Suzanne folgt die größte Überraschung aus dem Obduktionsbericht. Demnach war Maurice zum Zeitpunkt seines Todes 17 oder 18 Jahre alt.

Beim Sprung zurück ins Jahr 1978 erfährt der Leser das Schicksal der Kinder, die teilweise schwer verletzt, nach wenigen Tagen vom Jäger Peters gefunden werden. Er nimmt die Kinder mit in ein einsames Tal, wo er und eine weitere Einsiedlerin, Martha, leben. Die beiden versorgen die Kinder und Martha heilt den schwer verletzten Maurice. Doch als die Zeit vergeht, müssen die Kinder feststellen, dass Martha und Peters sie nicht gehen lassen wollen. Martha präsentiert Maurice und Katherine ein Kerbholz, auf dem ihre Schulden eingekerbt sind, die sie begleichen müssen, bevor sie gehen dürften.

Auf mehreren zeitlichen Ebenen begleitet der Autor nun in der Folgezeit die weitere Entwicklung der Kinder im Tal und Suzanne im Jahr 2010 sowie ihre mehrfachen Reisen 1978 und in den Folgejahren nach Neuseeland, um irgendeine Spur der Familie ihrer Schwester zu finden. Es entwickelt sich ein Drama, das eher effizient als ausschmückend erzählt wird, allerdings ein wenig mystisch-schaurig. Dieses Tal mitten im wilden, bergigen Waldland wird für die Kinder zu einem abgeschlossenen Raum. Das Verbot, diesen Raum zu verlassen, wird von der beflissenen, empathischen Katherine befolgt, die sich zunehmend mit der Situation arrangiert, während der wütende, zornige Maurice alles daran setzt, sein Gefängnis zu verlassen. Dabei verhalten sich Peters und Martha hart und unerbittlich, wenngleich sie die Kinder nicht vernachlässigen.

Doch eines Tages würde er den König fangen. Er würde lachen, während er ihn tötete, und er würde seinen Kopf herbringen und zu den anderen legen. Danach würde er keinen Grund mehr haben, weiterhin Rache zu nehmen. Von diesem Tag an würde er sich besser fühlen, davon war er überzeugt. (Auszug E-Book Pos. 2472)

Die Geschichte hat viele interessante Facetten, die Carl Nixon manchmal nur anreißt und nie überdehnt. Im Vordergrund steht sicherlich das Wesen von Familie und menschlichen Beziehungen. Die Frage, was man einem anderen schuldet oder nicht. Ebenso Überlebenswille, Widerstand, Anpassung und Transformation in Extremsituationen. Aber auch Dinge wie Identität und (Post-)Kolonialismus werden ebenso angerissen. Daneben gibt es wirklich großartige Beschreibungen der neuseeländischen, von menschlichem Einfluss noch wenig berührten Landschaft.

Im Vorwort weist der Autor selbst darauf hin, dass er die Story der drei Kinder, die plötzlich auf sich allein gestellt, unter widrigen Bedingungen zurechtkommen müssen, als „Spiegelbild der Geschichte Neuseelands“ begreift. „Kerbholz“ überzeugt als kleiner, feiner Roman, der auf nicht allzu vielen Seiten eine dramatische, berührende und dabei psychologisch-ausgefeilte Geschichte erzählt.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Kerbholz | Erschienen am 08.05.2023 im Culturbooks Verlag
ISBN 978-3-95988-156-2
304 Seiten | 24,- €
Originaltitel: The Tally Stick | Übersetzung aus dem Englischen von Jan Karsten
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Rezension zu „Rocking Horse Road“ von Carl Nixon

Hayley Scrivenor | Dinge, die wir brennen sahen

Hayley Scrivenor | Dinge, die wir brennen sahen

Wir Kinder hatten einen eigenen Namen für unseren Ort, der offiziell Durton hieß: Dirt Town – irgendjemand hatte ihn sich ausgedacht und wahrscheinlich auf dem Schulhof damit angegeben wie mit einer glänzenden Murmel -, aber er war schon lange erprobt, als wir in die erste Klasse kamen. (Auszug S.62)

Durton ist eine vermutlich typische Kleinstadt im australischen Hinterland mit den typischen Problemen von steigender Arbeitslosigkeit und Landflucht. Ansonsten aber nichts Aufregendes, bis eines Freitags im November die 12jährige Esther Bianchi nicht von der Schule nach Hause kommt. Ihre Mutter Constance ist irgendwann besorgt, ruft die Freunde an, bei denen sie aber auch nicht ist, und wendet sich gegen Abend an die Polizei. Die Polizei reagiert schnell und schickt sofort zwei spezialisierte Beamte nach Durton. Was der Leser aber schon seit der zweiten Seite weiß: Die darauffolgende Suche wird erfolglos bleiben. Esther ist tot.

Damit ist der Ton des Romans bereits gesetzt und die Richtung klar, auch wenn die Polizei dies erst am Montag sicher weiß, als Esthers Leiche gefunden wird. Es wird nach einem Täter gesucht und der ist vermutlich innerhalb der kleinstädtischen Gemeinschaft zu finden. Auch wenn die Ermittlungen der zuständigen Polizistin Sarah mit ihrem Partner Smithy ausführlich beschrieben werden, das Hauptaugenmerk legt die Autorin im folgenden auf den verschiedenen Personenkonstellationen innerhalb und zwischen den beteiligten Familien. Es entwickelt sich ein Drama, ein Psychogramm einer Kleinstadt, in der zunehmend die Fassade bröckelt und die Wahrheit hinter Lügen und Geheimnissen verschleiert wird.

„Ronnie“, setzte sie an, aber ihre Stimme brach schon nach dem ersten Wort. „Sie haben Esther gefunden“, sagte sie schließlich.
Ihr Ton verriet mir, dass sie nicht alles gefunden hatten. Nicht ihr Lachen, nicht ihr lässiges Schlendern, nichts vonn dem, was ich an ihr liebte. Nichts davon würde zurückkehren. (Auszug S.300)

Die australische Autorin Hayley Scrivenor bedient sich dazu in ihrem Romandebüt „Dinge, die wir brennen sahen“ einer ausgefeilten multiperspektiven Erzählweise. Neben der Ermittlerin Sarah erhalten auch Esthers gleichaltrige Freunde Lewis und Veronika („Ronnie“) sowie Esthers Mutter Constance eine Erzählperspektive, Ronnie dabei als einzige in der ersten Person Singular. Spannend ist dabei, wie die Autorin an manchen Stellen die Perspektive wechselt und Ereignisse nochmal aus anderem Blickwinkel wiederholt. Zuletzt bringt Scrivenor noch eine Wir-Erzählerebene ein, als Stimme der Kinder von Durton. Selten gewählt und daher sehr spannend, wenn es gut gemacht ist, wie etwa beim neuseeländischen Autor Carl Nixon in seinem Roman „Rocking Horse Road“. Hier hatte ich allerdings das Gefühl, dass die Autorin nur bedingt etwas mit dem „Wir-Erzähler“ anzufangen weiß und ihn teilweise stellvertretend als allgemeinen Erzähler benutzt, etwa bei der Auflösung am Ende.

Ansonsten weiß „Dinge, die wir brennen sahen“ aber durchaus zu gefallen. Das liegt nicht so sehr am Schauplatz, der insgesamt eine geringere Rolle spielt als sonst bei australischen Krimis. Sondern vielmehr in der akribischen Darstellung und Auflösung der Figurenkonstellationen, der gescheiterten Ehen, des gewalttätigen Vaters, der Probleme der Heranwachsenden mit sich selbst und untereinander. Eine tragische, sehr penibel und dennoch packend geschilderte Geschichte mit einem ziemlich banalem, aber dadurch nicht minder erschreckendem Ende.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Dinge, die wir brennen sahen | Erschienen am 31.03.2023 im Eichborn Verlag
ISBN 978-3-8479-0115-0
368 Seiten | 22,- €
Originaltitel: Dirt Town | Übersetzung aus dem Englischen von Andrea O’Brien
Bibliografische Angaben & Leseprobe