Kategorie: Gunnar Wolters

Ellen Dunne | Unfollow Stella (Band 4)

Ellen Dunne | Unfollow Stella (Band 4)

Die Münchner Kommissarin Patsy Logan scheint endgültig in ihrer zweiten Heimat Dublin gestrandet. Nach diversen Problemen sowohl auf ihrer Dienststelle bei der Kripo als auch mit ihrem Mann war Patsy zu ihrer Cousine nach Dublin gefahren, um dort den Kopf frei zu bekommen. Und um dort gleich mal in Ermittlungen verwickelt zu werden (siehe Band 3 „Boomtown Blues“). Nun hat sich die Pandemie auch in Irland breit gemacht und die Probleme scheinen sich nicht aufzulösen, vielmehr ist die Ehe am Ende und eine Rückkehr zur Münchner Kripo scheint von ihrem ehemaligen kollegialen Freund Stani, der nun die Dienststelle leitet, nicht mehr gewünscht.

Somit spricht für Patsy nichts dagegen, erneut vom österreichischen Attaché Sam Feurstein bei einer unangehnehmen Angelegenheit hineingezoge zu werden. Die junge Österreicherin Stella Schatz lebt seit einiger Zeit in Dublin und wird von ihrer Familie seit kurzem vermisst. Stella war vor allem mit ihrem Bruder, der in Singapur lebt, in regelmäßigem Austausch und auch sonst in Social Media relativ aktiv. Doch seit einiger Zeit herrscht totale Funkstille. Feurstein möchte das Verschwinden gerne lösen, ohne offiziell die irische Polizei um Mithilfe bitten zu müssen.

Stellas Spur führt zu ihrem letzten Arbeitgeber, einer Firma, die für einige großen Social Media-Player den Content nach anstößigem Material durchforstet und solches dann entfernt. Ein Knochenjob, den Stella jedoch offenbar zur Zufriedenheit aller erledigt hat. Der Arbeitgeber tut auch relativ harmlos, behauptet, Stella hätte Urlaub genommen und würde schon wieder auftauchen. Doch Patsy spürt, das da etwas nicht stimmt, verbeißt sich in den Fall und ist sich sicher, dass Stellas Verschwinden irgendetwas mit ihrer Arbeit in den dunklen Sümpfen des Netzes zu tun hat.

Sie quietschte wehleidig beim Öffnen. Elektrische Zahnbürste, Stückseifen, ein Kulturbeutel voll veganer Schminksachen, Gesichtscreme für die Haut ab 30. Ausnahmslos Marken aus deutschen Drogeriemarktketten. Ich ertappte mich bei einem Lächeln. Ja, die vermisste ich auch.
Apropos. Nirgendwo in diesem Zimmer schien etwas zu fehlen. Alle Schubladen quollen über mit Sachen. Unter dem Bett sammelte ein großer Koffer Staub, daneben noch ein kleiner.
Als hätte sich Stella Schatz in Luft aufgelöst. (Auszug S.60)

Mit dem dritten Band „Bowntown Blues“ hatte die österreichische Autorin Ellen Dunne, die seit langem in Irland lebt, der Reihe um Patsy Logan nochmal einen richtigen Schub verpasst, der auch prompt mit den „Glauser“ 2023 für den besten Roman belohnt wurde. Und Ellen Dunne kann durchaus daran anknüpfen, stellt ihre von einer Art Midlife-Crisis gebeutelte Kommissarin als Ich-Erzählerin in den Mittelpunkt, die allerdings lakonisch-ironisch-schlagfertig ihren und den Zustand ihrer Umgebung kommentiert. Außerdem traut die Autorin sich, der ungeschriebenen Krimiregel zu trotzen, dem Leser möglichst schnell eine Leiche zu präsentieren. Allzu lange bleibt der Leser im Ungewissen, ob Stella Schatz wirklich verschwunden ist und ob überhaupt hier irgendwo ein Verbrechen vorliegt.

Doch dass hier etwas im Argen liegt, wird durchaus klar gemacht. Zentrales Thema ist der ungebremste Content-Overkill in diversen sozialen Netzwerken und der rettungslos verzweifelte Versuch, pornografisches, gewalttätiges, volksverhetzendes oder allgemein für die Werbekunden anstößiges Material von den Seiten zu entfernen. Hierzu hat sich ein gar nicht mehr so kleines und lukratives Gewerbe etabliert, dass allerdings relativ präkere Arbeitsbedingungen geschaffen hat und die Mitarbeiter permanent mehr als verstörendem Content aussetzt. Was das mit den Personen macht, die natürlich keine oder nur unzureichende psychologische Betreuung erfahren, das ist eine Erkenntnis aus diesem Krimi. Somit bleibt auch „Unfollow Stella“ dem guten Weg der Reihe treu und sei allen Lesern empfohlen, die neben einer interessanten Hauptfigur mit allerlei Blessuren im Gepäck auch von gesellschaftlich relevanten Themen in ihrem Krimi lesen wollen.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Unfollow Stella | Erschienen am 30.09.2023 im Haymon Verlag
ISBN 978-3-7009-7965-5
312 Seiten | 13,95 €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Weitere Rezensionen zu den Romanen von Ellen Dunne

Monika Geier | Antoniusfeuer (Band 8)

Monika Geier | Antoniusfeuer (Band 8)

Am Anfang führt Monika Geier den Leser ganz charmant in die Irre, denn der Fall, der sich auf den ersten Seiten ausbreitet, der Fall, weswegen Kommissarin Bettina Boll aus dem freien Tag gerufen und ein Kollege mit falschem Glaubensbekenntnis abzogen wird, spielt bald keine echte Rolle mehr. Ein afghanischer Flüchtling, Mörder eines jungen Mädchens, wird tot in seiner Gefängniszelle aufgefunden. Ein Fall von großer Brisanz, denn schnell bilden sich Gerüchte, dass der Selbstmord doch nicht so eindeutig war. Ein sehr denkbares Sujet für so manch anderen Kriminalroman. Doch Monika Geier benutzt die Konstellation nur als Vehikel, um ins pfälzische Dorf Frohnwiller zu gelangen.

Denn im Koran des toten Afghanen wird ein Totenzettel gefunden, eine Einladung zu einer längst vergangenen Beerdigung, mit einem Bild, das einen Ausschnitt aus dem berühmten Isenheimer Altar zeigt: Die Versuchungen des heiligen Antonius, der von diversen Dämonen angegriffen wird. Das Bild hat der Tote von einem katholischen Sozialarbeiter namens Moritz Johann, genannt Mojo, Hansen aus Frohnwiller. Dieser hat den Flüchtling regelmäßig im Gefängnis besucht und angedeutet, Dämonen austreiben zu können.

In Frohnwiller angekommen trifft Bettina Boll auf seltsame Begleitumstände bezogen auf die katholische Gemeinschaft im Dorf. Der Dorfpfarrer ist vor Kurzem bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Seine Stelle ist vakant. Der Sozial- und Jugendarbeiter Mojo ist allgemein gut gelitten, aber ist bei einem Drogentest positiv auf LSD getestet worden. Er hat großes Interesse am Thema Exorzismus und hatte sich selbst einem kirchlichen Verfahren unterworfen, das nach seinem Drogentest allerdings im Sande verlief, auch weil die mit dem Fall betraute kirchliche Juristin seit einiger Zeit vermisst wird. Als auch Mojo Hansen spurlos verschwindet, gleichzeitig in der Frohnwiller Kirche Darstellungen von Maria mit Kind geschwärzt werden und im Pfefferstreuer des Jugendheims gefährliches Mutterkorn gefunden wird (das eine Mykotoxikose, auch bekannt als Antoniusfeuer, auslösen kann), hat sich Bettina Bolls Fall endgültig Richtung Frohnwiller verschoben.

Die Sonne schickte Lichtspiele von draußen herein. Blätter, die grünliche Schatten warfen, tönten die Strahlen und malten helle Kringel an die Wand. Vögel sangen. Bettina sah all das und fragte sich, wie sie diesen Raum je hatte hässlich finden können.
Weil alles, was schön ist, sagte eine Stimme, die ausnahmsweise nicht Barbas war, sondern ihre eigene, dir irgendwann voll eine reinhaut. Weil es schrecklich ist, wenn du mit niemandem mehr teilen kannst. Weill alle immer weggehen. Weil du dann alles vergessen musst, was jemals gut war, weil du sonst auch stirbst.
Und was, wenn ich aber nicht alles vergessen will?, dachte sie, plötzlich rebellisch. Was, wenn ich nicht sterbe? (Auszug S.77)

Und natürlich hat Bettina Boll auch ihre eigenen Päckchen zu tragen: Halbtags-Polizistin mit schwieriger Konstellation auf der Dienststelle und einem unsouveränen Chef, mit dem sie allerdings freundschaftlich verbunden ist, alleinerziehende Stiefmutter der beiden Teenagerkinder ihrer verstorbenen Schwester, Besitzerin eines großen, unheimlichen Hauses ihrer ungeliebten verstorbenen Tante, ein etwas aufdringlicher Nachbar. Insbesondere bezüglich des neuen Zuhauses der Bolls greift Geier den Handlungsstrang aus dem Vorgängerband „Alles so hell da vorn“ auf, der immerhin schon sechs Jahre zurückliegt.

„Antoniusfeuer“ ist inzwischen der achte Band um die pfälzische Kommissarin, die – so viel darf man vorweg nehmen – am Ende des Romans endlich auch mal befördert wird. Und sich damit auch direkt vor ihren Kindern (zu Unrecht) rechtfertigen muss. Ansonsten ist alles, was ich vor Jahren mal über diese Bettina Boll geschrieben habe, immer noch wahr: Rau, widerborstig, etwas chaotisch, aber auch empathisch, unermüdlich, anständig, integer. Hier zeigt sich aus meiner Sicht auch eine der großen Stärken der Autorin, die nicht nur ihre Hauptfigur, sondern alle Figuren äußerst fein behandelt und tiefgründig zeichnet. Neben Bettina Boll verfolgt der Leser zudem die Perspektive von Elle Kling, Esoterikerin und Putzfrau in der katholischen Gemeinde.

„Das Böse an sich würde wahrscheinlich kein Katholik anzweifeln. So wie die meisten Polizisten.“ Diesmal blieb Rosenmorgens Lächeln fast unsichtbar. „Es geht um die Art, wie es sich manifestiert. Je konkreter Sie es sich vorstellen, desto leichter ist die Vorstellung zu missbrauchen.“ (Auszug S.132)

Glaube, Zweifel, (innere) Dämonen und Zwänge, persönliche und Glaubenskonflikte, Ringen mit dem System Kirche: Monika Geiers Romanen sind nicht für ihre Unterkomplexität bekannt und das setzt sich bei „Antoniusfeuer“ fort, aber gerade dadurch hebt sie sich vom normalen deutschen Krimiallerlei deutlich ab. Die Autorin überzeugt durch einen fein verwebten, intelligenten Roman mit scharf gezeichneten Figuren, starken Dialogen, regelmäßig wunderbar platzierten lakonischen Einschüben und einem im Genre relativ unverbrauchtem, aber dadurch umso interessanten Thema.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Antoniusfeuer | Erschienen am 18.09.2023 im Argument Verlag
ISBN 978-3-86754-270-8
432 Seiten | 24,- €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Gunnars Rezension zu Band 7 „Alles so hell da vorn“

Vor 45 Jahren: Krimipreisträger 1978 & Lionel Davidson | Tod in Chelsea

Vor 45 Jahren: Krimipreisträger 1978 & Lionel Davidson | Tod in Chelsea

Es ist mal wieder Zeit für einen Blick in unsere Asservatenkammer. Diesmal gehen wir 45 Jahre zurück und werfen einen Blick auf die damaligen Preisträger der wichtigsten Krimipreise. Die Datenlage ist allerdings nicht so üppig wie ich gedacht hätte, gab es doch einige der heute bekannten Krimipreise noch gar nicht.

Renommiert war damals allerdings schon der französische Grand Prix de la Littérature Policière. 1978 gewann ihn in der Kategorie national die Autorin Madeleine Coudray für ihren Roman „Dénouement avant l’aube“, der jedoch nie ins Deutsche übersetzt wurde. Eine Autorin aus dem Agatha Christie-Rätselsegment, deren Bücher erst nach ihrer Pensionierung im hohen Alter heraugegeben wurden und die bereits im gleichen Jahr der Preisverleihung verstarb.

Ebenfalls eine lange Tradition hat naürlich der amerikanische Edgar Award. 1978 gewann dort William H. Hallahan mit „Catch Me, Kill Me“ (dt. „Ein Fall für Diplomaten“). Beides sagte mir bislang nichts, Hallahan war ein Autor, der sich unter anderem auch bei okkulten Romanen und historischen Sachbücher tummelte. Protagonist des Romans ist Ex-CIA-Agent Charlie Bewer, der noch in drei weiteren späteren Werken Hallahans vorkommt. Knapp geschlagen wurde damals übrigens William McIllvanney mit seinem legendären „Laidlaw“.

Kommen wir zuletzt zum britischen Dagger Award. Den „Gold Dagger“ für den besten britischen Kriminalroman gewann vor 45 Jahren Lionel Davidson mit „The Chelsea Murders“ (dt. „Tod in Chelsea“). Davidson ist damit hinter Ruth Rendell auf Platz 2 der AutorInnen mit den meisten Gold Daggern. Bereits 1960 gewann er mit „The Night of Wenceslas“ (dt. „Die Nacht des Wenzel“) und 1966 mit „A Long Way to Shiloh“ (dt. „Das Geheimnis der Menora“). So habe ich mir dann auch seinen Roman mal für diese Rubrik vorgenommen.

Lionel Davidson | Tod in Chelsea

Ein Mörder geht um in Chelsea: Nach mehreren brutalen Morden innerhalb weniger Wochen tappt die Polizei noch ziemlich im Dunkeln, zumal eine Verbindung zwischen den Opfern bislang nicht gefunden wurde. Die Presse schlachtet die Morde genüßlich aus, versucht mit allen Tricks an Hintergrundinformationen zu kommen. Nach dem dritten Mord an einer 25jährigen Frau, die als Modell in der Kunstakademie und als Bardame gearbeitet hatte, gerät eine Filmcrew der Akademie in den Fokus von Chief Superintendant Warton.
Diese Filmcrew aus Studenten und Absolventen der Akademie dreht einen blutigen Independent-Krimi und waren zum Zeitpunkt des dritten Mordes bei Dreharbeiten am anderen Themseufer in Sichtweite des Tatorts. Die treibenden Köpfe des Teams sind Artie Johnson als Produzent, Steve Griffard als Regisseur und Frank Colbert-Greer als Art Director. Permanent klamm hangeln sie sich von Drehtag zu Drehtag und versuchen zwischendurch Sponsoren oder Spender für weitere Kosten des Films aufzutreiben. Immer wieder an ihrer Seite ist die junge Journalistin Mary Mooney, die mit ihnen bekannt ist und die Morde als Chance sieht, ihre journalistische Karriere nach vorne zu bringen.

Der Chinese Chen hatte das Geschäft um zwanzig vor sieben verlassen. Die beiden jungen Männer hatten die Leiche zwanzig vor acht entdeckt.
In dieser einen Stunde war der Chinese ermordet worden. Und für diese Stunde hatten sie Alibis. Warton hatte sie laufen lassen müssen. Er hatte es nur widerwillig getan, weil er Alibis nicht leiden konnte. Wer unschuldig war, hatte selten eines vorzuweisen. In diesem Fall schien jeder ein Alibi zu haben. (Auszug Pos. 2019)

Der britische Autor Lionel Davidson war zunächst als Journalist tätig und arbeitete als Berichterstatter aus ganz Europa für britische Medien. Dabei entwickelte sich die Idee, es auch als Romanautor zu versuchen. Er war – wie oben bereits an den Preisen ersichtlich – in den 1960ern und 1970ern äußerst erfolgreich mit mehreren Thrillern und Spionageromanen. Große Bekanntheit erlangte auch sein 1962 veröffentlichter Abenteuerroman „Die Rose von Tibet“, in dem ein Brite nach Tibet reist, um nach seinem bei einer Everest-Expedition verschollenen Stiefbruder zu suchen. Davidson verstarb 2009 in London. In seinem Werk ist „Tod in Chelsea“ thematisch ein Ausreißer, denn hier setzte Davidson zum ersten Mal auf einen Polizeikrimi mit relativ klassischem Whodunit-Aufbau.

Der Roman beginnt auch relativ bedächtigt. Davidson lässt sich viel Zeit, um sein Personal und die Beziehungen untereinander vorzustellen, was die Spannungskurve nicht gerade erhöht. Doch spätestens, als Mörder beginnt, der Polizei Gedichtsauszüge als Ankündigung und Hinweis auf folgende Taten zuzuschicken und sich das Verdächtigenkarussell immer mehr auf die drei seltsamen und alle nicht unverdächtigen Gestalten von der Filmcrew verengt, greift dieser Whodunit-Reiz und das macht Davidson dann auch ziemlich ordentlich.

Der Roman gibt zudem einen Einblick in die knallharte Medienkultur in Großbritannien und in die Subkultur rund um die Filmcrew, wobei so manche Nebenfigur allerdings am Rande der Karikatur und darüber hinaus skizziert wird. Letztlich also eine Lektüre, die den versierten Leser etwas unentschieden zurücklässt. Positiv verbleibt allerdings die Schilderungen der polizeilichen Bemühungen und das gut gelungene Rätsel um den Mörder bis zum Schluss.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Tod in Chelsea | Erstmals erschienen 1978
Aktuelle Ausgabe als E-Book bei Edel Elements
ASIN: B00R56EW7O | 3,99 €
Originaltitel: The Chelsea Murders | Übersetzung aus dem Englischen von Christine Frauendorf-Mössel

Jordan Harper | Alles schweigt

Jordan Harper | Alles schweigt

Die Geschichte beginnt harmlos: Eine Schauspielerin auf dem Wendepunkt ihrer Karriere, Drogen, Exzesse usw. Am nächsten Morgen beginnen wichtige Dreharbeiten, doch sie erscheint übelst ramponiert in einem Hotel. Zum Glück ist Mae Pruitt da, Angestellte einer Agentur für PR und sonstige Dienstleistungen. Sie übernimmt die Deutungshoheit, lässt einen Social Media-Post erstellen und eine alternative Wahrheit verbreiten, mit der das Schlimmste abgewendet wird. Ihr Vorgesetzter Dan ist zufrieden, lädt Mae am nächsten Tag auf einen Drink ein und macht ein paar kryptische Andeutungen. Offenbar will er Mae für einen Job außerhalb der Agentur gewinnen, defintiv nicht legal, aber scheinbar äußerst lukrativ. Alles Weitere demnächst. Doch dazu kommt es nicht, denn Dan wird am Folgetag bei einem Raubüberfall getötet. Der Täter wird schnell ermittelt und wird auf der Flucht von der Polizei erschossen. Doch je mehr Mae darüber nachdenkt, desto unwahrscheinlicher ist es für sie, dass Dan ein zufälliges Opfer war.

Los Angeles, Stadt der Engel, City of Dreams. Eine Sehnsuchtsmetropole mit einer großen Tradition als Schauplatz der Kriminalliteratur. Chandler, Macdonald, Connelly, Winslow, um nur einige zu nennen. Doch niemand brachte L.A. als Metropole des Geldes, des Lasters, der Korruption und der Gewalt so formvollendet zur Geltung wie James Ellroy. Jordan Harpers Roman ist ziemlich sicher eine Hommage an Ellroy und der gelungene Versuch, die modernen Entwicklungen im Business in Thrillerform zu verdichten.

Mae gibt sich mit den offiziellen Statements nicht zufrieden und stellt Nachforschungen an. Sie stösst auf einige Ungereimtheiten und begegnet schließlich ihrem Ex Chris Tamburro, Ex-Polizist, der nun für eine Sicherheitsfirma arbeitet. Er soll die Verbindungen des Täters durchleuchten und kommt, genau wie Mae zu der Überzeugung, dass Dan gezielt getötet wurde und der Täter nur ein Sündenbock war, um eine größere Sache im Hintergrund zu vertuschen.

Laut den Beteiligten in „Alles schweigt“ hat ein „Ungeheuer“ die Macht über Los Angeles. Ein unheilvolles, hierarchisches Netzwerk aus Hollywoodbusiness, Finanzinvestoren, Wirtschaft, Medien und Politik. Unterstützt und von Unannehmlichkeiten bewahrt durch ein Netz von Sicherheitsfirmen, korrupten Polizisten, PR-Agenturen, Anwälten und anderen Ausputzern. Diesem Netzwerk dienen auch Mae und Chris. Während Mae sich einige Illusionen bewahrt hat und ihr es erst im Laufe der Story wie Schuppen von den Augen fällt, ist Chris von Beginn an ziemlich desillusioniert, aber er macht halt seinen Job. Als weitere Menschen sterben, um die Sache unter Verschluss zu halten, ist für beide irgendwann der Punkt erreicht, an dem sie nicht mehr zurück ins System wollen oder können. Diesmal wollen sie die Wahrheit ans Licht bringen.

Mae zeigt Neveah ein Bild von Kyser, sie nickt und sagt: „Der war da.“ Sie nennt noch andere Namen, manche davon sind berühmt. Was diese Männer verbindet, ist ihre Macht. Und ihre Gier. […]
Sie erzählt von einem Raum ohne Fenster und Eric Algar darin. Als sie berichtet, was er mit ihr gemacht hat, tut sie es in der dritten Person, als wäre sie gar nicht selbst mit ihm dort gewesen. Als hätte er ihre Seele aus ihrem Körper vertrieben. (Auszug Pos. 4757-4768)

Letztlich schwingen die High-Society-Skandale der letzten Jahre als Hintergrund mit, allen voran der Fall Jeffrey Epstein. Mae und Chris kommen einem Fall von sexueller Ausbeutung Minderjähriger auf die Spur und geraten in die Mühlen der Kräfte, die das Netzwerk oder zumindest darin beteiligte einflussreiche Personen schützen wollen.

Das Ganze ist rasant im Präsens geschrieben, immer abwechselnd nach Kapitel aus der Perspektive von Mae oder Chris. Der Autor, übrigens seit langem in Los Angeles als Drehbuchautor und Produzent tätig, nimmt uns mit auf eine wilde Tour durch die Stadt und erzählt von korrupten Mächten, die das System am Laufen halten. Dabei schafft er die schwierige Balance zwischen dem actionreifen Plot und der Entwicklung der Figuren, insbesondere der beiden Protagonisten, die nach und nach ihre eigenen Werte und Moralvorstellungen wiederfinden – unter großer eigener Bedrohung. Ein wirklich starker L.A.-Thriller in bester Tradition.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Alles schweigt | Erschienen am 31.08.2023 im Ullstein Verlag
ISBN 978-3-55008-151-4
384 Seiten | 22,95 €
Originaltitel: Everybody Knows | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Conny Lösch
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Joe Wilkins | Der Stein fällt, wenn ich sterbe

Joe Wilkins | Der Stein fällt, wenn ich sterbe

Wendell führte sie an die Lippen, das Bier schäumte wild in seinem Mund. Er kam nicht klar damit. Er wusste, dass er glücklich sein sollte, aber er war verlegen. Es erinnerte ihn an Macbeth. Wie gründlich alles schiefgehen konnte. Man zieht nicht ungestraft durch die Nacht und tut, was man will. (Auszug S.74)

Die Bull Mountains im Osten Montanas. Wendell Newman ist 24 Jahre alt und lebt allein im Familientrailer mitten im Nirgendwo. Seine Mutter ist vor kurzem verstorben, sein Vater seit langem vermisst. Wendell arbeitet als Helfer für alles beim Großgrundbesitzer Glen. Plötzlich taucht jemand von der Jugendhilfe bei ihm auf und übergibt ihm den siebenjährigen Rowdy, Sohn seiner Cousine, die zu einer Haftstrafe verurteilt wurde. Wendell ist anfangs arg überfordert, kümmert sich aber bald rührend um den Jungen.
Auch die Lehrerin Gillian und ihre fast erwachsene Tochter Maddie werden auf Rowdy aufmerksam, der anfangs überhaupt nicht sprechen will und sich in der Schule kaum zurechtfindet. Maddie näht sogar Kleidung für Rowdy und lernt Wendell kennen. Beide ahnen nicht, dass ein dunkles Ereignis aus der Vergangenheit sie verbindet.

Autor Joe Wilkins erzählt die Geschichte fast ausschließlich aus drei Blickwinkeln. Zum einen aus Wendells Sicht, zum anderen aus Gillians Sicht. Zuletzt lässt er noch Verl, Wendells Vater, mit einer Art Tagebuch zwischendurch zu Wort kommen. Wie der Leser nach und nach erfährt, hat Verl einen Ranger erschossen, ist in die Berge geflohen und seitdem verschollen. In kurzen Abschnitten richtet er auf der Flucht das Wort an seinen Sohn, zunächst wütend, im weiteren Verlauf versöhnlicher.

Die Geschichte ist eingebettet in einen politisch-gesellschaftlichen Hintergrund. Sie spielt zur ersten Amtszeit von Präsident Obama. In den ländlichen Regionen Amerikas, auch in Montana, formiert sich Widerstand gegen eine progressive Politik aus Washington. Obwohl die strukturschwache Gegend stark durch Bundesmittel alimentiert wird, lehnen viele den Staat und seine Repräsentanten ab. Jetzt ist angeblich ein Wolf aus dem Yellowstone-Nationalpark in die Bull Mountains gewandert und droht, einheimisches Vieh zu reißen. Es bilden sich Bürgerwehren und bewaffnete patriotische Gruppen, teilweise unterstützt von den Großgrundbesitzern. Bislang war das alles nur Säbelrasseln, aber ein Funke könnte eine Tragödie auslösen. Und auf diesen Funken arbeitet Autor Joe Wilkins ganz langsam hin.

Und der Tag verlor sich in seine Tiefen. Wurde zu einem kratzenden und knurrenden, luftholenden Etwas. Ein grosses, muskulöses Tier stellte sich auf seine Hinterbeine, richtete sich zu seiner vollen, schrecklichen Grösse auf und sog die untergehende Sonne, den schwachen Wind und die Abendlieder der Vögel in seine Lungen ein. Es atmete sie alle ein, als wären sie Staub, und atmete sie wieder aus. (Auszug S.278-279).

Der Autor stammt selbst aus der Gegend und lässt das ländliche Montana und seine Berglandschaften eine Hauptrolle in seinem Roman einnehmen. Die Beschreibung der Landschaft und seiner Bewohner – Mensch wie Tier – gelingt für meinen Geschmack herausragend. Überhaupt will Joe Wilkins hier keine schnelle Geschichte erzählen, sondern nimmt sich sehr viel Zeit für das Setting und führt im Stile eines Sozialdramas die beiden Hauptfiguren ein und enthüllt ihre Vergangenheit, ihre Abgründe und Sehnsüchte. Wendell, ein einsamer junger Mann aus schwierigen Verhältnissen, mit der rauen, gewalttätigen Seite der Gegend großgeworden. Er ist aber clever, belesen und lässt sich nicht so leicht vor den Karren spannen, auch nicht von denen, die seinen Vater für einen Märtyrer halten. Auf der anderen Seite Gillian, mittleren Alters, verwitwet, hat den gewaltsamen Tod ihres Mannes noch nicht überwunden, sucht Trost in wechselnden Bekanntschaften und Alkohol. Als Lehrerin aber sehr engagiert und bemüht, zumindest den Kindern dieser Rednecks eine Perspektive aufzuzeigen.

Wilkins‘ Roman birgt viele Facetten, ist zugleich Gesellschaftsroman, Western und Noir. Seine eindringliche Schilderung der Umstände und der Lebenswelt im Westen Montanas ist einerseits scharf und klar, gleitet anderseits auch immer mal wieder ins Lyrische, Poetische, Mystische ab. Der Roman scheint sich irgendwie an seinen Höhepunkt heranzuschleichen, an dem sich dann auch alles verdichtet und explosionsartig entlädt. Das hat mich sehr überzeugt, für mich ist „Der Stein fällt, wenn ich sterbe“ ein absolutes Jahreshighlight.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Der Stein fällt, wenn ich sterbe | Erschienen am 05.09.2023 im Lenos Verlag
ISBN 978-3-03925-029-5
373 Seiten | 26,- €
Originaltitel: Fall Back Down When I Die | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Irma Wehrli
Bibliografische Angaben & Leseprobe