Jordan Harper | Alles schweigt

Jordan Harper | Alles schweigt

Die Geschichte beginnt harmlos: Eine Schauspielerin auf dem Wendepunkt ihrer Karriere, Drogen, Exzesse usw. Am nächsten Morgen beginnen wichtige Dreharbeiten, doch sie erscheint übelst ramponiert in einem Hotel. Zum Glück ist Mae Pruitt da, Angestellte einer Agentur für PR und sonstige Dienstleistungen. Sie übernimmt die Deutungshoheit, lässt einen Social Media-Post erstellen und eine alternative Wahrheit verbreiten, mit der das Schlimmste abgewendet wird. Ihr Vorgesetzter Dan ist zufrieden, lädt Mae am nächsten Tag auf einen Drink ein und macht ein paar kryptische Andeutungen. Offenbar will er Mae für einen Job außerhalb der Agentur gewinnen, defintiv nicht legal, aber scheinbar äußerst lukrativ. Alles Weitere demnächst. Doch dazu kommt es nicht, denn Dan wird am Folgetag bei einem Raubüberfall getötet. Der Täter wird schnell ermittelt und wird auf der Flucht von der Polizei erschossen. Doch je mehr Mae darüber nachdenkt, desto unwahrscheinlicher ist es für sie, dass Dan ein zufälliges Opfer war.

Los Angeles, Stadt der Engel, City of Dreams. Eine Sehnsuchtsmetropole mit einer großen Tradition als Schauplatz der Kriminalliteratur. Chandler, Macdonald, Connelly, Winslow, um nur einige zu nennen. Doch niemand brachte L.A. als Metropole des Geldes, des Lasters, der Korruption und der Gewalt so formvollendet zur Geltung wie James Ellroy. Jordan Harpers Roman ist ziemlich sicher eine Hommage an Ellroy und der gelungene Versuch, die modernen Entwicklungen im Business in Thrillerform zu verdichten.

Mae gibt sich mit den offiziellen Statements nicht zufrieden und stellt Nachforschungen an. Sie stösst auf einige Ungereimtheiten und begegnet schließlich ihrem Ex Chris Tamburro, Ex-Polizist, der nun für eine Sicherheitsfirma arbeitet. Er soll die Verbindungen des Täters durchleuchten und kommt, genau wie Mae zu der Überzeugung, dass Dan gezielt getötet wurde und der Täter nur ein Sündenbock war, um eine größere Sache im Hintergrund zu vertuschen.

Laut den Beteiligten in „Alles schweigt“ hat ein „Ungeheuer“ die Macht über Los Angeles. Ein unheilvolles, hierarchisches Netzwerk aus Hollywoodbusiness, Finanzinvestoren, Wirtschaft, Medien und Politik. Unterstützt und von Unannehmlichkeiten bewahrt durch ein Netz von Sicherheitsfirmen, korrupten Polizisten, PR-Agenturen, Anwälten und anderen Ausputzern. Diesem Netzwerk dienen auch Mae und Chris. Während Mae sich einige Illusionen bewahrt hat und ihr es erst im Laufe der Story wie Schuppen von den Augen fällt, ist Chris von Beginn an ziemlich desillusioniert, aber er macht halt seinen Job. Als weitere Menschen sterben, um die Sache unter Verschluss zu halten, ist für beide irgendwann der Punkt erreicht, an dem sie nicht mehr zurück ins System wollen oder können. Diesmal wollen sie die Wahrheit ans Licht bringen.

Mae zeigt Neveah ein Bild von Kyser, sie nickt und sagt: „Der war da.“ Sie nennt noch andere Namen, manche davon sind berühmt. Was diese Männer verbindet, ist ihre Macht. Und ihre Gier. […]
Sie erzählt von einem Raum ohne Fenster und Eric Algar darin. Als sie berichtet, was er mit ihr gemacht hat, tut sie es in der dritten Person, als wäre sie gar nicht selbst mit ihm dort gewesen. Als hätte er ihre Seele aus ihrem Körper vertrieben. (Auszug Pos. 4757-4768)

Letztlich schwingen die High-Society-Skandale der letzten Jahre als Hintergrund mit, allen voran der Fall Jeffrey Epstein. Mae und Chris kommen einem Fall von sexueller Ausbeutung Minderjähriger auf die Spur und geraten in die Mühlen der Kräfte, die das Netzwerk oder zumindest darin beteiligte einflussreiche Personen schützen wollen.

Das Ganze ist rasant im Präsens geschrieben, immer abwechselnd nach Kapitel aus der Perspektive von Mae oder Chris. Der Autor, übrigens seit langem in Los Angeles als Drehbuchautor und Produzent tätig, nimmt uns mit auf eine wilde Tour durch die Stadt und erzählt von korrupten Mächten, die das System am Laufen halten. Dabei schafft er die schwierige Balance zwischen dem actionreifen Plot und der Entwicklung der Figuren, insbesondere der beiden Protagonisten, die nach und nach ihre eigenen Werte und Moralvorstellungen wiederfinden – unter großer eigener Bedrohung. Ein wirklich starker L.A.-Thriller in bester Tradition.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Alles schweigt | Erschienen am 31.08.2023 im Ullstein Verlag
ISBN 978-3-55008-151-4
384 Seiten | 22,95 €
Originaltitel: Everybody Knows | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Conny Lösch
Bibliografische Angaben & Leseprobe

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