Kategorie: Thriller

James Kestrel | Bis in alle Endlichkeit

James Kestrel | Bis in alle Endlichkeit

Um eine Millionenerbin zu ermorden, war ich zu sehr damit beschäftigt gewesen, einen Zeugen der Bundesanwaltschaft einzuschüchtern. Was die mögliche Gefängnisstrafe anging, würde ich wahrscheinlich besser dastehen, wenn ich zugab, sie im Vollrausch vom Dach gestürzt zu haben. (Auszug Seite 188)

Leland Crowe, der Protagonist in James Kestrels aktuellem Thriller arbeitet als Privatdetektiv in San Francisco, seit er seine Anwaltslizenz verloren hat. In dem heruntergekommenen Viertel Tenderloin hat er sich in einem schäbigen Hotel einquartiert, um für den Strafverteidiger Jim Gardner in einem spektakulären Fall eines Drogenkartellchefs zu recherchieren. Als er in den frühen Morgenstunden seine Runde um den Block dreht, stolpert er über einen Rolls Royce, der definitiv nicht in diese Gegend gehört. Auf dem eingedrückten Dach entdeckt er die Leiche einer schönen, jungen Frau in einem Cocktail-Kleid, die offenbar aus großer Höhe herabgestürzt ist.

Anstatt die Polizei zu verständigen, das wäre aufgrund seiner illegalen Tätigkeit suboptimal, macht er sich aus dem Staub. Aber nicht, ohne vorher einige Fotos zu schießen, die er meistbietend an Zeitungen verhökert. Geld ist immer knapp, deshalb nimmt er auch den nächsten Auftrag an, den ihm Gardner vermittelt. Die Klientin ist ausgerechnet Olivia Gravesend, einflussreiche Millionärin und Mutter des Opfers. Geld spielt keine Rolle, er soll nur herausfinden, was mit ihrer geliebten Tochter Claire passiert ist. Die Polizei hat den Fall bereits als Suizid zu den Akten gelegt. Das kann sich die verzweifelte Olivia nicht vorstellen, auch wenn sie seit einem halben Jahr nichts mehr von ihrer Tochter gehört hatte.

Die Welt der Reichen und Schönen
Eine erste Spur führt Crowe nach Boston, wo Claire studierte. Hier findet er im Tresor ihres Hauses einen Schlüssel zu einem anderen Haus in San Francisco. Bevor er sich auf den Weg machen kann, wird er von einem maskierten Mann angegriffen, es kommt zu einem brutalen Kampf auf Leben und Tod. Unser Protagonist fragt sich, in was für Machenschaften Claire verwickelt war und was hat es mit den zahlreichen Narben an ihrer Wirbelsäule auf sich? Am neuen Ziel angekommen, findet der Ermittler eine junge und äußerst lebendige Frau vor, die genauso aussieht wie die verstorbene Claire Gravesend einschließlich der seltsamen Narben auf dem Rücken. Nachdem in Crowes Wohnung eingebrochen und sein Büro verwanzt wurde, hat er das Gefühl, in ein Wespennest gestochen zu haben und einer viel größeren Sache auf der Spur zu sein.

Lee Crowe arbeitet als privater Ermittler, seit er seine Zulassung als Anwalt und auch seine Ehefrau verloren hat. Nur am Rande erfährt man, dass er handgreiflich gegenüber dem Obersten Richter wurde, mit dem seine Exfrau Juliette nun zusammen ist. Es spielt für die Geschichte auch keine große Rolle. Typisch für eine Detektivstory wird aus der Ich-Perspektive des Privatschnüfflers erzählt. Dieser hat kein Problem damit, sich auch mal die Hände schmutzig zu machen, geht der Polizei gerne, einer Schlägerei dagegen nie aus dem Weg. Crowe ist ein cleverer Typ, der sich meistens zu helfen weiß, wenn auch oft am Rande der Legalität. Kestrel zeigt uns hier die klassische Figur eines coolen Einzelgängers, immer einen lässigen Spruch auf den Lippen, mitunter zynisch, illusionslos aber auch total einsam.

„Er hat mir gesagt, dass Sie einen flexiblen Umgang mit Regeln pflegen“, sagte Olivia. „Dass Sie einen verbissener Dreckskerl sind. Jetzt weiß ich, was er gemeint hat.“ „Von wem reden Sie?“ „Von Jim Gardner.“ „Das hat Jim gesagt? So nett redet er sonst nie über mich.“ (Auszug Seite 328)

Das düstere Cover mit der Golden Gate Bridge fällt sofort ins Auge und erinnert in seiner Gestaltung an den Vorgänger, ein wahres Krimi-Juwel des letzten Jahres. Dabei ist „Bis in alle Endlichkeit“ im Original unter dem Titel „Blood Relations“ bereits 2019 erschienen und gar nicht mit dem epischen und mehrfach ausgezeichneten Werk „Fünf Winter“ zu vergleichen sowie auch einem ganz anderen Genre zugehörig. Wir haben es hier mit einem klassischen Hardboiled zu tun. Dabei hat der Autor die traditionelle Detektivfigur in die Gegenwart und damit in ein modernes Setting transferiert.

Meine Meinung
Obwohl man früh ahnt, wohin die Reise geht, hatte mich James Kestrel durch seinen flüssigen und bildhaften Schreibstil von der ersten Seite an am Haken. Besonders gut gefallen hat mir der Witz in den rotzig-geschliffenen Dialogen. Als Leserin verfolgte ich atemlos die nachvollziehbaren Ermittlungsarbeiten, staunte über falsche Fährten und überraschende Twists, genoss die Verfolgungsjagden per Auto und Hubschrauber, fieberte mit bei den Kampfszenen und Explosionen. Ein düsterer Pageturner, knapp und mit viel Tempo erzählt, der mich bestens unterhalten hat.
Das Ende und auch das Nachwort deuten weitere Fälle um Leland Crowe an. Ich würde mich freuen, denn das Zeug zum Serienermittler hat er auf jeden Fall.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Bis in alle Endlichkeit | Erschienen am 09. September 2024 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-51847-435-8
430 Seiten | 20,- Euro
Originaltitel: Blood Relations | Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Stefan Lux
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Andys Rezension zu „Fünf Winter“ von James Kestrel

Bernhard Aichner | Yoko

Bernhard Aichner | Yoko

Yokos Leben wird auseinanderbrechen wie ein Glas voller Erinnerungen, das zu Boden fällt. Sie wird es nicht verhindern können, egal, wie laut sie schreien und wie sehr sie sich wehren wird. Von einem Moment zum anderen wird alles, was schön war, verschwinden. (Auszug Seite 9)

Nachdem Yokos Mutter bei ihrer Geburt verstarb, hat ihr Vater Franz, ein Metzger, sie alleine großgezogen. Sie verzichtete auf ein Studium, machte eine Metzgerlehre und pflegte ihn, als er schwer krank wurde, fast sechs Jahre lang. Schon als Kind ging sie in der Fleischerei ein und aus, wobei das Töten und Schlachten der Tierkörper zu ihrem Alltag gehörte. Doch als ihr Vater stirbt, beschließt Yoko, ihr Leben anders auszurichten. Die Endzwanzigerin findet Gefallen daran, knusprige Teigtaschen zu backen, in denen sie selbst kreierte Spruchweisheiten schreibt. Zwei Jahre später hat sie in den ehemaligen Räumen der Metzgerei eine gutgehende Manufaktur für Glückskekse aufgezogen und in Maren ihre große Liebe gefunden.

Zur falschen Zeit am falschen Ort
Eines Tages liefert Yoko in ihrem Wagen eine Ladung Glückskekse an ein chinesisches Restaurant. In dessen Hinterhof wird sie zufällig Zeugin der Misshandlung eines kleinen Straßenhundes durch zwei düstere chinesische Männer, die aus reinem Spaß am Quälen auf das Tier eintreten. Yokos Unrechtsbewusstsein und ihr Mitgefühl treiben sie dazu, sich mutig in die Situation einzumischen. Dadurch gerät sie in eine gefährliche Lage, in der sie selbst in die Fänge der Peiniger gerät. Diese fackeln nicht lange, packen die wehrlose Frau in ihren eigenen Lieferwagen, entführen sie in den Wald und missbrauchen sie.

Yokos Leben wird danach zum Albtraum und nichts ist mehr so wie zuvor. Nicht nur, dass sie einem Exzess aus Gewalt ausgesetzt war, das erlittene Leid durch die Vergewaltigung hat ein Trauma wiederbelebt, dass Yoko schon seit langem verdrängt hatte. Sie beschließt nicht zur Polizei zu gehen, sondern greift zur Selbstjustiz. Nicht ahnend, dass sie dadurch ein Räderwerk in Gang setzt, das sich rasch ihrer Kontrolle entzieht und sie überrollen wird. Denn ihre Gegner sind eigentlich eine Nummer zu groß für sie. Es handelt sich um eine chinesische Triade, eine professionelle kriminelle Organisation, die vor nichts zurückschreckt.

Die chinesische Mafia
Der Thriller ist durchweg rasant erzählt, bietet eine Vielzahl an unerwarteten Wendungen und Überraschungsmomenten und, das sollte nicht unerwähnt bleiben, explizite Gewaltdarstellungen. Der Schreibstil des Autors ist speziell, er arbeitet mit kurzen prägnanten Sätzen. Erwähnenswert und gewöhnungsbedürftig sind die Dialoge. Diese werden nur durch Anstriche gekennzeichnet, wer spricht, ergibt sich aus dem Kontext. Für mich war diese Art des Dialoges, welches wohl ein Erkennungsmerkmal des Autors ist, sehr anstrengend und es fehlte mir an Tiefe. An einigen Stellen konnte ich nur mit dem Kopf schütteln, da Yoko als Figur übertrieben agiert und viele Situationen unrealistisch wirken. Die chinesischen Kriminellen werden einfach oft als tumbe Idioten dargestellt. Beispielsweise beobachtet Yoko zwei von ihnen, die offensichtlich Schutzgelder einkassieren. Als sie das China-Restaurant verlassen, fuchteln sie erstmal feixend mit einem Bündel Geld in der Hand herum. An einer anderen Stelle will Yoko in einem Club mehr über ihre Peiniger rausfinden. Verwandelt als Femme Fatale macht sie sich an den Barmann heran, mit dem sie spielt und den sie so lange an der Nase herumführen will, bis er tut was sie will. Der mäßig selbstbewusste Barmann mit der Hasenscharte ist scheinbar dankbar für die Aufmerksamkeit einer Frau.

Meine Meinung
Yoko ist der erste Roman des Tiroler Autors Aichner, den ich gelesen habe. Im Fokus steht eine starke Frauenfigur, die sich nicht mit der Opferrolle begnügen will. Das hat mir erst mal zugesagt. Allerdings erscheint die Art und Weise wie Yoko ihre Rache an den Tätern vollzieht, angesichts der Tatsache, dass sie es mit der chinesischen Mafia zu tun hat, also professionelle Kriminelle, etwas unrealistisch. Irgendwann wurden mir ihre Entscheidungen und Taten zunehmend unverständlich sowie die Handlung an vielen Stellen zu konstruiert und unglaubwürdig. Ein Zufall reiht sich an den nächsten und die Heldin kann sich durch teilweise unglaubwürdige Geschehnisse immer irgendwie aus der Affäre ziehen. Die Geschichte eines Rachefeldzuges hat mich in Teilen an „Kill Bill“ erinnert, aber in schlecht gemacht. Dabei hat die Idee eines Rache-Thrillers, in dem die Protagonistin keinerlei Skrupel kennt, durchaus ihren Reiz. Das auch noch mit einem in der Kindheit entstandenen Trauma zu verbinden, fand ich zu überfrachtet.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Yoko | erschien am 13. August 2024 bei Wunderlich im Rowohlt Verlag
ISBN 978-3-805-20109-4
336 Seiten | 26,00 Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Weitere Rezensionen zu Romanen von Bernhard Aichner auf Kaliber.17

Morgan Audic | Das kalte Schweigen der See

Morgan Audic | Das kalte Schweigen der See

Fangen wir mal ausnahmsweise mit einem kleinen Rant an. Der betrifft den deutschen Titel des Buches und das Cover. Als Nicht-Autor stelle ich es mir schwierig vor, einem Buch seinen Titel zu geben. Wenn es allerdings aus einer fremden Sprache übersetzt wird, hat der Autor natürlich schon eine Vorgabe gegeben, an die man sich allerdings nicht halten muss. Wenn man in der deutschen Übersetzung vom Originaltitel abweicht, sollte man allerdings gute Gründe dafür haben. Ich kann es vorwegnehmen, die gab es hier aus meiner Sicht nicht. Autor Morgan Audic gab seinem Thriller den wie ich finde wunderbaren Titel „Personne ne meurt à Longyearbyen“, „Niemand stirbt in Longyearbyen“. Ein Titel, der zum einen mit dem Inhalt verknüpft ist, denn es wird erläutert, dass man auf Spitzbergen Todesfälle tunlichst vermeidet. Die Einwohner bleiben meist nur temporär auf diesem kargen Stück Land im Nordpolarmeer, es gibt nur wenige wirklich alte Menschen, ernste Krankheitsfälle werden ans Festland nach Norwegen gebracht. Und dennoch zeigt der Plot, dass sehr wohl jemand stirbt, in diesem Fall gewaltsam – und führt den Titel charmant ad absurdum. Der deutsche Titel „Das kalte Schweigen der See“ kann zwar behaupten, dass es im Buch um Meeresforschung geht, ist aber letztlich ein langweiliges Marketingkalkül. Dass noch durch den furchteinflössenden Eisbären auf dem Cover ergänzt wird (die französische Ausgabe macht es leider auch). Ja, ein Eisbär kommt am Anfang prominent vor, aber das wirkt auf mich etwas plump. Echt schade, dass der Verlag hier Cover, Titel und Inhalt nicht angemessen zusammenhalten kann

Nun aber zum Inhalt. Longyearbyen auf Spitzbergen, eine der nördlichsten Siedlungen der Erde. Früher wurde vor allem Kohle gefördert, heute lebt die Stadt hauptsächlich von Tourismus und Forschung. Die Besonderheit von Spitzbergen: Durch einen alten Vertrag besitzen auch die Russen Schürfrechte und haben ihre Präsenz aus geostrategischen Grund nie aufgegeben. Auf Spitzbergen ist der Eisbär das größte Raubtier, daher müssen alle Bewohner außerhalb der Siedlungen eine Waffe mit sich führen. Dies scheint auch der jungen Forscherin Agneta Sørensen zum Verhängnis geworden sein, die den Kadaver einer Pottwals untersuchen wollte. Offenbar wurde sie von einem Eisbär überrascht, hatte kein Gewehr dabei und wurde getötet. Doch die ermittelnde Kommissarin Lotte Sandvik hat von Beginn an ein komisches Gefühl. Die Forscherin galt als gewissenhaft, hatte sonst immer ihr Gewehr dabei. Die beiden russischen Sicherheitsleute, die die Leiche gefunden haben, scheinen ihre Aussagen abgestimmt zu haben. Bald wird es Gewissheit: Die junge Frau wurde ermordet und später einem Eisbären zum Fraß vorgelegt.

Sie wurde von einem vagen Unbehagen ergriffen. Irgendetwas stimmte nicht mit diesem menschlichen Körper. Natürlich waren da die offenkundlichen Spuren der Bestialität des Bären. Bisse, Kratzspuren, zerfetzte Haut. Aber sie hatte das gefühl, noch etwas anderes wahrzunehmen. Etwas wie eine menschliche Absicht. (Auszug E-Book Pos. 149)

Währenddessen fliegt der Reporter Nils Madsen nach Tromsø. Auf den Lofoten hat seine langjährige Kollegin und ehemalige Lebenspartnerin Åsa Hagen Selbstmord begangen, ist einfach von einer Brücke ins kalte Meer gesprungen. Madsen – voller Trauer – kann sich nicht so einfach mit dem Selbstmord abfinden und beginnt zu recherchieren. Dabei kommt schnell heraus, dass Åsa bedroht wurde. Sie betrieb ein Unternehmen für Whalewatching und setzte sich auch sonst sehr für die Meeressäuger der Region ein. Ein Engagement, für das sie von den lokalen Fischern angefeindet wurde. Madsen sammelt immer mehr Indizien, die für einen Mord sprechen – und bringt sich selbst in die Schusslinie.

Autor Morgan Audic ist im Hauptberuf Gymnasiallehrer für Geographie und Geschichte. „Das kalte Schweigen der See“ ist sein dritter Roman, der erste in deutscher Übersetzung. Die Grundidee zu diesem Plot kam ihm nach eigenen Angaben bei einer Fahrt auf einem Schiff einer Umweltorganisation in der Normandie. Der Background des Autors wirkt sich auch auf das Geschehen im Buch aus. Der Mord an zwei Personen, die Meeresforschung betreiben oder sich für den Schutz des Meeres einsetzen, lässt auf einen Ökothriller schließen. Tatsächlich dreht sich einiges um das Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Doch Audic fächert es breiter auf, bringt viel Landeskunde, Historie und vor allem auch Geopolitik mit in die Handlung ein.

Nicht ganz neu ist die Wahl der Protagonisten und vor allem ihr angeknackstes Seelenleben. Während Lotte Sandvik aufgrund eines traumatischen Einsatzes in ihrer vorherige Dienststelle in Oslo unter einer Angststörung leidet, die sie versucht, vor den Kollegen zu verheimlichen, ist Nils Madsen als Kriegsberichterstatter ein Getriebener, der es im ruhigen, beschaulichen Norwegen kaum aushält. Die Spannungskurve und der Aufbau des Romans sind gut gewählt, nach ein paar Kapiteln wechselt der Schauplatz und die Perspektive. Interessant ist zudem, dass dem Leser natürlich klar ist, dass beide Fälle miteinander zu tun haben müssen, Audic die beiden Handlungsstränge aber erst sehr spät zusammenführt.

Zusammenfassend kann ich sagen, dass mir der Roman ganz gut gefallen hat. Morgan Audic schafft es, ein interessantes polares Setting mit einem nicht alltäglichen Plot zu verknüpfen. Da kann man einen nicht ganz so gelungenen deutschen Titel (und Cover) ganz gut verschmerzen.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Das kalte Schweigen der See | Erschienen am 17.04.2024 im Hoffmann & Campe Verlag
ISBN 978-3-455-01821-9
416 Seiten | 24,- €
Originaltitel: Personne ne meurt à Longyearbyen | Übersetzung aus dem Französischen von Tobias Scheffel und Claudia Steinitz
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Deon Meyer | Die Stunde des Löwen (Band 9)

Deon Meyer | Die Stunde des Löwen (Band 9)

„Wem gehört das Geld?“ „Das ist ja das Interessante daran! Wir schaden niemandem. Es ist ein Teil des Geldes, dass die Chandas dem Staat gestohlen haben. Sie konnten es nicht außer Landes bringen.“ Natürlich wusste Christina über die drei indischen Geschäftsleute Bescheid, Brüder, die angeblich dabei geholfen hatten, ihr Heimatland Hand in Hand mit dem ehemaligen Präsidenten gewissenlos auszuplündern. (Auszug E-Book Pos. 310 von 8292)

Im 9. Band der Reihe um die Kapstädter Polizisten Bennie Griessel und Vaughn Cupido ist von beiden Protagonisten erst mal nicht die Rede. Stattdessen verfolgen wir Christina „Chrissie“ Jaeger, die im Okavango-Delta seit einigen Jahren als Safari-Guide wohlhabende Touristen betreut. Als Igen Rousseau ihr einen gut bezahlten Job in Pretoria anbietet, kann sie aufgrund ihrer Verbundenheit zu dem ehemaligen Militärkameraden ihres verstorbenen Vaters nicht absagen.

Die Honigfalle und der Zwanzig-Millionen-Dollar-Raub
Geplant ist ein Überfall auf ein Lagerhaus, in dem rund 20 Millionen Dollar deponiert sind. Chrissie soll als sogenannte Honigfalle mit kühlem Kopf die Wärter ablenken und ihre Kontakte am Kap aktivieren, um nachher die Dollar zu wechseln. Auf den nächsten Seiten lesen wir detailliert, aber auch rasant und packend, wie der Raubzug geplant und vorbereitet wird. Es handelt sich dabei um Geld und Gold, welches vom ehemaligen Präsidenten Südafrikas und seinen engsten Vertrauten widerrechtlich beiseitegeschafft wurde. Und als Leser bangt man mit Chrissie und den anderen Vier, die den Coup durchziehen. Doch was so todsicher geplant war, endet in einer regelrechten Katastrophe.

In einem weiteren Handlungsstrang leiden Griessel und Cupido immer noch unter der Strafversetzung aus der Sondereinheit Valke nach Stellenbosch, besonders weil sie hier nur mit routinemäßiger Polizeiarbeit beschäftigt werden. Während Vince Cupido alles dransetzt, sich zu rehabilitieren, um sowohl den alten Rang wie auch den alten Arbeitsplatz zurückzuerobern, hat Bennie Griessel die Arbeit in Stellenbosch zu schätzen gelernt. Weniger Stress, geregelte Arbeitszeiten und geringere Gewaltverbrechen. Am meisten stresst ihn momentan die bevorstehende Heirat mit seiner großen Liebe Alexa. Die geplante Hochzeit erlebt er eher als Kette lästiger Termine, die er im Stress der Ermittlungen nur mühsam einhalten kann.

Als eine junge Mountainbikerin tot neben ihrem Fahrrad aufgefunden wird, ist wieder ganz altmodisch Laufarbeit angesagt. Die Spuren deuten darauf hin, dass sie von Hunden angefallen wurde und dabei unglücklich stürzte. Ein in der Nähe wohnender Hundebesitzer, der als Täter in Frage käme, streitet vehement alles ab. Noch bevor ihm nachgewiesen werden kann, dass seine Rottweiler die Schuld am Tod der Studentin tragen, wird Basie Small grausam ermordet in seinem Haus aufgefunden. Die Tiere wurden erschossen und bei Small deuten Folterspuren darauf hin, dass man ein Zeichen setzen wollte. Im Haus finden die Ermittler auch eine große Sammlung von Sturmgewehren. Sie wundern sich auch über den üppigen Lebensstil, den der ehemalige Elitesoldat und Ausbilder im Ruhestand pflegte.

„Die Katze ist aus dem Sack, Colonel. Vielleicht weiß jemand da draußen etwas. Über das, was Small getrieben hat. Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit kann also nicht schaden.“ „Ein Elitesoldat weiß, wie man Spuren verwischt“, bemerkte Griessel. „Allerdings“, sagte Cupido. „Das wird einen Shitstorm geben“, unkte Jansen. „Ein Elitesoldat. Der Leibrandt-Fall, die Hunde, der Bauschaum. Ich darf gar nicht daran denken!“ (Auszug E-Book Pos. 2794 von 8292)

Auf den Mord an Small folgt ein weiterer ziemlich ähnlich gelagerter Todesfall. Mit den Ermittlungen zu den möglicherweise zusammenhängenden Morden haben Griessel und Cupido offensichtlich höchste Stellen aufgeschreckt, denn sie werden von den Ermittlungen abgezogen. Obwohl ihnen die Fälle entzogen wurden, sorgt Mbali Kaleni, ihre frühere, integre Chefin bei der Valke für eine Versetzung der beiden an die neugegründete NPA (National Prosecuting Authority), um unter dem Radar weiter nachzuforschen. Auch wenn sie es noch nicht ahnen können, haben unsere beiden Helden gewissermaßen unbemerkt in ein Wespennest gestochen.

Südafrikas Realität
Deon Meyer schreibt nicht nur fiktive Thriller, sondern nutzt seine Romane auch dafür, den Zustand seiner Heimat Südafrika offenzulegen. Dabei inspirierten ihn die Gerüchte über den früheren libyschen Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi, der angeblich riesige Geld- und Goldmengen bei seinem Präsidentenfreund in Südafrika verstecken ließ. Der Thriller ist eine ungeschminkte Kritik an den Zuständen in Südafrika und dennoch spürt man zwischen den Zeilen, wie sehr der Autor seine Heimat liebt und die Plünderung des Landes einschließlich der Korruption bis in die höchsten Kreise verabscheut.

„Die Stunde des Löwen“ beinhaltet wieder alles, was ich an der Reihe so liebe. Den Dialogwitz zwischen dem melancholischen Griessel und seinem Partner. Filmreife Action-Szenen, wie zum Beispiel im rasanten Showdown unter dem Einsatz von Flugzeugen, Motorrädern und einem rasendem Bennie, der pünktlich zu seiner Hochzeit erscheinen muss. Ein komplexer Plot, bei dem die beiden Erzählstränge fast bis zum Schluss nebeneinander herlaufen und man keine Ahnung hat, wie sie zusammenhängen. Und natürlich die Spannung von der ersten Seite an, wenn die Durchführung des abenteuerlichen Raubzuges geplant wird und ich den stimmungsvollen Thriller nicht aus der Hand legen konnte.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Die Stunde des Löwen | Erschienen am 17. September 2024 bei Rütten & Loening
ISBN 978-3-352-01006-4
605 Seiten | 22,00 Euro
Originaltitel: Leo | Übersetzung aus dem Afrikaans von Stefanie Schäfer
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Alle Rezensionen zu Romanen von Deon Meyer auf Kaliber.17

Tom Hillenbrand | Lieferdienst

Tom Hillenbrand | Lieferdienst

Auf der Terrasse befindet sich eine rot umrandete, oktagonale Fläche – ein Retourenpad. Man stellt sein Paket hinein, die nächste freie Lieferdrohne erkennt es von oben und nimmt es mit. Normalerweise befinden sich solche Pads an öffentlichen Plätzen. Dass jemand sein eigenes, privates Oktagon besitzt, ist ungewöhnlich. (Auszug Pos. 399 von 2071)

Viele Menschen beschweren sich heutzutage über die Konsum-Gesellschaft, in der nichts mehr repariert, sondern alles sofort ausgetauscht wird. In ‚Lieferdienst‘ wird das von Tom Hillenbrand auf die Spitze getrieben.

Der Maker macht’s, der Bringer bringt’s
In Neu-Berlin der nahen Zukunft leben die Menschen in riesigen Wohnblöcken, arbeiten im Homeoffice und kaufen fast alles online. Bestellte Produkte werden auf 3-D-Druckern, sogenannten Makern, hergestellt und alle Lieferdienste befinden sich zeitgleich im Kampf um denselben Auftrag. Wer die Ware zuerst zustellt, hat gewonnen, wobei die überflüssige Ware der Konkurrenten dann als Produktionsüberschuss in Kauf genommen wird. Hier wird mit allen Mitteln gekämpft, um die Konkurrenz auszuschalten und es herrscht ein erbitterter Kampf um die Vorherrschaft am Liefermarkt. Die Bestellungen werden teils per Drohnen, überwiegend aber durch Kuriere auf Hoverboards, sogenannte Bringer an den Kunden ausgeliefert. Solch ein Bringer ist der Protagonist Arkadi Schneider, der für Rio, einen der größten Lieferdienste der Welt arbeitet und für seinen Job alles gibt und dabei immer die Zustellquote im Blick behält. Wenn nötig lässt er sich das Mittagessen auch mal per Drohne ans Brett liefern. Wir fliegen mit ihm über Neu-Berlin, als ein verletzter Kollege ihn bittet, eine seiner Lieferungen zu übernehmen. Für Arkadi eine Ehre, denn es handelt sich um Airbox, eine Legende in der Lieferdienst-Szene. Umso bestürzter ist er, als er kurz darauf mitansehen muss, wie Airbox ermordet wird und er, als er dessen Paket ausliefern will, plötzlich um sein Leben fürchten und sich in wilden Verfolgungsjagden behaupten muss. Airbox schien in mysteriöse Machenschaften verwickelt zu sein und Arkadi gerät zum ersten Mal ins Grübeln.

Aberwitzige Retourenquote
In Tom Hillenbrands Zukunftsvision hat der Konsum absurde Ausmaße angenommen. Es gibt Flatrates für Schuhe, Anprobierandroiden kümmern sich um das lästige Auspacken, Anprobieren sowie Zurücksenden, und jederzeit und überall kann Essen per Drohne geordert werden. Menschen wie Arkadis Vater, der noch vom alten Schlag ist, den sogenannten Fortschritt kritisch sieht und sich für Zahnpasta noch in den Spaldi bemüht, werden als rückständig angesehen.

Der Kunde muss nur jede Tube bezahlen, die ihm als erste zugestellt wird. Der Rest sind Autoretouren. Bei einem maßgeschneiderten Jackett mag das ein Problem sein, bei Zahnpasta nicht. Die werden die Lieferdienste schon irgendwie los. Ich erkläre es ihm. Aber Dad schüttelt nur den Kopf und murmelt etwas von „Endstufe des Kapitalismus“. (Auszug Pos. 165 von 2071)

Ich bewundere immer wieder Tom Hillenbrands Fähigkeit, eine komplexe Zukunftswelt fiktiv zu erschaffen. Fast ohne unnötige Erklärungen, dafür aber detailreich und mit kreativen Wortneuschöpfungen, die sich leicht erschließen. Und mit einem Füllhorn an kreativen Einfällen. Berlin ist im Krieg komplett zerstört worden und man hat daneben Neu-Berlin, von den Bewohnern liebevoll BeeZwee genannt, errichtet. Die MegaCity besteht aus riesigen Sozialbauten und Ausfallstraßen, die Namen aktueller Prominenz wie Glööckler-Allee oder Robert-Habeck-Ausfallstraße besitzen. Während sich auf den Straßen die Bikes und Rikscha-SUVs stauen, ist der Himmel mit Delivery-Drohnen verstopft. Manche Bewohner, sogenannte Mobilniks, die sich die Miete in den Hochhäusern nicht mehr leisten können, hausen in ihren Autos, welche mit Autopilot unendlich auf dem Stadtring fahren. Das Szenario erscheint gar nicht so abwegig, sondern wie eine radikale Weiterentwicklung unserer heutigen Konsumgesellschaft.

Wir bleiben die ganze Zeit dicht bei Arkadi, dem Ich-Erzähler und seinen Erlebnissen. Die Geschichte wird in einem hohen Tempo mit kurzen Kapiteln erzählt, wirkt dadurch fast gehetzt und rastlos, passend zur hektischen Welt der Lieferdienste. Man fliegt atemlos durch die Seiten und dann ist es auch schon vorbei. Denn das ist das Einzige, was ich zu meckern hätte. Mit knapp 190 Seiten viel zu kurz. Ich hätte gerne noch mehr über diese dystopische Welt und die Lebensbedingungen erfahren. Das Ende, das zwar mit einem mitreißenden Showdown glänzt und einige Überraschungen parat hält, wirkt etwas zu schnell abgearbeitet. Und man hätte auch noch mehr in die Fütterung der Charaktere stecken können.

Trotzdem ist Lieferdienst eine gelungene Dystopie, originelle Zukunftsvision mit coolen Ideen, die mir sehr viel Spaß gemacht hat und die eine Reflexion unserer Konsumgesellschaft darstellt. Dabei spricht der Autor einige aktuelle Themen, wie Ressourcen-Verschwendung und Turbo-Kapitalismus an und das auf unterhaltsame Weise und mit dem ihm eigenen Humor.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.
Lieferdienst | Erschienen am 15. August 2024 bei Kiepenheuer & Witsch
ISBN 978-3-462-00621-6
192 Seiten | 20.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Weitere Rezensionen zu Romanen von Tom Hillenbrand auf Kaliber.17