Kategorie: Thriller

Dennis Lehane | Sekunden der Gnade

Dennis Lehane | Sekunden der Gnade

Dennis Lehane ist ein vielbeschäftigter Mann. Gerade ist er extrem im Filmbusiness beschäftigt, als Drehbuchautor und Produzent. So sehr, dass er kaum noch zum „normalen“ Schreiben kommt. Er kokettierte sogar damit, dass „Small Mercies“ (Originaltitel) sein letzter Roman sein könnte. Das wäre natürlich ausgesprochen schade, zählt Lehane doch unbestritten zu den stärksten Genre-Autoren der letzten 30 Jahre, wenn man sich etwa seiner Kenzie/Gennaro-Reihe oder Stand Alones wie „Mystic River“ oder „Shutter Island“ erinnert. Dabei bleibt aber immer eine enge Verbundenheit zu seiner Heimat Boston, die sich auch in seinem neuesten Roman „Sekunden der Gnade“ widerspiegelt, seinem ersten seit knapp 6 Jahren.

Lehane springt in die Vergangenheit, genauer ins Jahr 1974. Seit den Bürgerrechtsgesetzen Ende der 1960er hat sich in Bezug auf die Rassentrennung in Schulen noch nicht wirklich viel getan, sodass nun die Aufhebung gerichtlich angeordnet wird. Zukünftig sollen schwarze Schüler mit Bussen in bisher „weiße“ Schulen gebracht werden und umgekehrt. In Boston waren dies die Foxbury High School mit afroamerikanischer Schülerschaft und die South Boston High School mit der großen weißen Schülerschaft aus einem irisch-geprägten Arbeiterstadtteil. Es gab große Proteste von Seiten der weißen Bevölkerung. Lehane geriet als Kind im Auto seines Vaters in eine solche aufgehitzte Demonstration, wie er im Vorwort schreibt.

Auch die 17jährige Jules Fennessy soll an diesem „Busing“ teilnehmen, sehr zum Missfallen ihrer Mutter Mary Pat, die an den Vorbereitungen der Demonstrationen teilnimmt. Eines Nachts kommt Jules nicht nach Hause. In der gleichen Nacht stirbt ein schwarzer Junge, Augustus Williamson, in einer Bahnstation in South Boston. Ein toter Schwarzer wegen eines Konflikts unter Dealern, wird schnell im Viertel behauptet. Doch die Polizei mit Bobby Coyne als Ermittler findet schnell heraus, dass Williamson lediglich am falschen Ort in South Boston das Auto verreckt ist und anschließend von einer Gruppe Jugendlicher auf den Bahnsteig gejagt wurde. Unter den Jugendlichen angeblich Jules Fennessy. Sie ist aber die einzige, die verschwunden bleibt, die anderen drei tauchen auf und geben sich gegenseitig Alibis. Mary Pat spürt, dass ihrer Tochter etwas passiert ist und wacht aus ihrer Lethargie auf, geht Klinkenputzen, fragt sich durch den ganzen Stadtteil – und bringt damit den lokalen Paten der irischen Mafia gegen sich auf, der aktuell auf weitere Aufmerksamkeit verzichten kann. Doch die Stimmung rund ums „Busing“ schaukelt sich immer auf und Mary Pat ist bereit, aufs Äußerste zu gehen, um zu erfahren, was mit ihrer Tochter passiert ist.

Sie trägt den Mülleimer ins Wohnzimmer und fegt die Bierdosen hinein. Leert die Aschenbecher auf dem Beistelltisch und dem Couchtisch und entdeckt noch einen auf dem Fernseher. Ihr blick fällt auf den Bildschirm und ihr Spiegelbild darin, und sie sieht ein Geschöpf, das sie beim besten Willen nicht mit dem Bild von sich in ihrem Kopf zusammenbringen kann, zu wenig Ähnlichkeit damit hat dieser verschwitzte Trampel in Tanktop und Shorts, mit verfilztem Haar und schlaffem Kinn, der da vor ihr steht. (Auszug E-Book Pos. 66)

Hauptfigur Mary Pat Fennessy ist eine alleinerziehende Mutter, Anfang Vierzig, geschieden. Ihren Erstgeborenen hat sie an eine Überdosis verloren. Ihre Tochter Jules ist 17, mit zunehmend eigenem Kopf. Sehr zum Missfallen ihrer Mutter bewegt sie sich im Dunstkreis des Dealers, der ihrem Bruder den Stoff besorgt hat. Mary Pat lebt seit ihrer Kindheit in South Boston, arbeitet im Lager einer Schuhfabrik, ist fest in der irischen Community verwurzelt und hinterfragt die herrschenden Hierarchien in der Gemeinschaft eigentlich nicht. Als sie allerdings auf eine Mauer des Schweigens stößt und ihr von oben gesagt wird, dass sie keinen Staub aufwirbeln soll, ihr gar Geld übergeben wird, verbunden mit einer unverhohlenen Drohung, die Füße nun endlich still zu halten, macht sie keinen Rückzieher. Mit Vehemenz, Willen, Unerschrockenheit und der Bereitschaft, sich auch die Hände schmutzig zu machen, bohrt sie weiter und trotzt allen Drohungen. Dabei hat sie in Bobby Coyne einen Verbündeten wider Willen. Zudem beginnt sie im Verlauf ihres Feldzugs den Rassismus ihrer Generation und ihrer Gemeinschaft immer mehr zu hinterfragen.

Im Vernehmungsraum B sitzt Ronald „Rum“ Collins auf der anderen Seite des Tischs, und sein Gesicht sieht aus als hätte es jemand zum Golftraining benutzt. […] Aber Vincent hat Bobby schon darauf hingewiesen, dass das Schlimmste unterhalb der Gürtellinie kommt. Rum riecht nach Pisse und auch etwas nach Scheiße, und seine Jeans klebt vor Blut an ihm. (Auszug E-Book Pos. 2417)

Dennis Lehane inszeniert diesen historischen Thriller als Feldzug einer Mutter gegen ein System aus Ignoranz und Gewalt. Der irische Pate sieht sich als Hüter über South Boston, doch niemand hinterfragt das System, das sich vordergründig gesellig und nachbarschaftlich gibt, doch sich hintenrum aus Kriminalität, Gewalt und Rassismus speist und das Viertel in Alkohol, Armut und prekärer Arbeit hält. Kritisieren kann man etwas, dass Lehane sich des „Busing“ nur als Rahmen bedient und die afroamerikanischen Stimmen hier nur am Rande vorkommen (Dann aber durchaus wohlbedacht, etwa bei der Beerdigung des Augustus Williamson). Auch dass Mary Pat es schafft, eine ganze Gang erfahrener irischer Gangster in Bedrängnis zu bringen, kratzt zumindest am Rande der Plausibilität. Doch das ist Klagen auf hohem Niveau, denn wie eigentlich fast immer bringt Lehane die wichtigsten Zutaten souverän zustande: Ein mitreißender, aufwühlender Plot, realistische Figuren, ein starkes Gefühl für Setting und Szenen sowie starke Dialoge. Das alles macht auch „Sekunden der Gnade“ zu einem richtig guten Roman, sodass uns Lesern nur die Hoffnung bleibt, dass der Autor noch nicht ganz ans visuelle Medium verloren ist.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Sekunden der Gnade | Erschienen am 23.08.2023 im Diogenes Verlag
ISBN 978-3-257-07258-7
400 Seiten | 26,- €
Als E-Book: ISBN 978-3-257-61398-8 | 22,99 €
Originaltitel: Small Mercies | Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Malte Krutzsch
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Weitere Rezensionen zu Romanen von Dennis Lehane auf Kaliber.17

Don Winslow | City Of Dreams (Band 2)

Don Winslow | City Of Dreams (Band 2)

Er ist auf den Knien, hat eine Pistole am Kopf. Die anderen sind an Händen und Füßen gefesselt, blicken ihn flehend und in Todesangst an. In der Wüste ist es bei Tagesanbruch kalt, und Danny kniet zitternd im Sand, während die Sonne aufgeht und der Mond zur bloßen Erinnerung verblasst. … Ein stechender Geruch durchdringt die frische, klare Luft. Benzin. Dann hört Danny: „Erst siehst du zu, wie sie bei lebendigem Leib verbrennen. Danach bist du selbst dran.“ (Auszug S.12)

Mit „City of Dreams“ geht Bestsellerautor Don Winslow in seiner auf drei Bänden angelegten, letzten großen Trilogie in die zweite Runde. Und knüpft genau am Ende des ersten Teils an, als sich der irisch-amerikanische Mafiosi Danny Ryan nach dem missglückten Coup in Rhode Island mit seiner restlichen Ostküsten-Gang, seinem an zunehmender Demenz leidenden Vater Marty und dem kleinen Sohn Ian auf der Flucht Richtung Kalifornien befindet. Um nach dem Krebstod seiner Frau endlich Schluss zu machen mit dem organisierten Bandenkrieg zwischen den Italienern und Iren hatte Danny die erbeuteten Drogen im Meer versenkt. In San Diego angekommen, will man erst mal untertauchen und unter dem Radar bleiben. Doch Danny kann seiner kriminellen Vergangenheit nicht entfliehen, Gegenspieler Peter Moretti sinnt in Providence auf Rache, Gangster sowie die Polizei sind hinter ihnen her und auch das FBI lässt nicht locker. Ein letzter Coup gegen einen mexikanischen Drogenchef soll das Geld für einen Neuanfang liefern.

Verfilmung in Hollywood
Unauffällig bleiben ist gar nicht so einfach, als man in Hollywood damit beginnt, einen Film über die Ostküsten-Mafia und die realen Ereignisse in Dogtown zu drehen. Als sich zwei Mitglieder von Dannys Truppe, ausgerechnet die als „Messdiener“ bekannten Kevin Coombs und Sean South als Berater beim Filmdreh verdingen, gerät einiges aus den Fugen. Danny, der sich derweil bei seiner Mutter Madeleine in Las Vegas versteckt, sieht sich gezwungen, am Set von „Providence“ aufzutauchen um den immer gieriger werdenden Mobstern auf die Finger zu klopfen.

„Was ist mit Danny Ryan?“ „Ach ja, sagt Kevin. „Den kennen wir auch.“ Ist allerdings ein heikles Thema. Sich mit der Brechstange Zugang zu den Dreharbeiten eines großen Hollywoodfilms zu verschaffen, ist nicht unbedingt das, was Danny mit unauffälligem Verhalten meint. (Auszug S.192)

Es gelingt ihm, die beiden zur Räson zu bringen und Teilhaber der Filmproduktion zu werden. Doch dann verliebt er sich in die Hauptdarstellerin des Films. Ausgerechnet in den großen Filmstar Diane Carson, berühmt-berüchtigt für ihre Alkohol- und Drogenexzesse. Das Liebespaar gerät schnell in den Fokus der Presse, wodurch seine Feinde in Providence und Mexico aufmerksam werden. Der verliebte Danny benimmt sich mehr als unklug, aber das macht ihn ja so nahbar, und das tragische Ende scheint vorprogrammiert. Dabei zeigt der amerikanische Bestseller-Autor auch einen Einblick in die Traumfabrik von Hollywood, wo ehrgeizige Mütter ihre Kinder mit allen Mitteln zum Erfolg pushen wollen.

Meine Meinung
„City of Dreams“ ist ein typischer Mittelteil, kann nicht ganz mit dem Tempo und der Fulminanz des ersten Teils mithalten. Band 2 kommt ruhiger daher, es geht mehr darum, dass die Helden ihre Wunden lecken, zur Ruhe kommen und sich neu orientieren. Im Mittelpunkt steht wieder Danny Ryan, ein Mafiosi mit moralischem Kompass, der um seine verstorbene Ehefrau trauert, seinem Sohn ein guter Vater sein will und stets Verantwortung für seine Leute trägt. Es gibt wenig Berührungspunkte zu den italienischen Morettis an der Ostküste, deren Schicksale in der harten Gangsterwelt Winslow sehr anschaulich skizziert.

Die Fortsetzung enthält für mich all die die bekannten und geliebten Winslow-Zutaten, wie knackige Dialoge, schnörkellose Prosa, einem präzisen Schreibstil und scharfe Schnitte. Dabei erzählt er gewohnt gradlinig und unverblümt im Präsenz, ohne die Gewalttaten groß auszuschlachten.

Insgesamt ist „City of Dreams“ für mich die gelungene Fortsetzung eines Gangster-Epos, welches mich mit nie vorhersehbaren Wendungen bis zum Finale fesseln konnte und die Vorfreude auf den Nachfolger weckt. Zum besseren Verständnis empfehle ich, „City on Fire“ vorher zu lesen, obwohl der Autor den Inhalt durch einige Rückblenden auch in diesem Band zusammenfasst.

Der trojanische Krieg
Die Trilogie basiert lose auf Homers „Ilias“, in der die Geschichte des Trojanischen Krieges erzählt wird. Im zweiten Band nimmt Winslow Anleihen bei Virgils „Aeneis“. Nach dem Untergang Trojas flieht der Trojaner Aeneis zusammen mit seinem Vater und seinem Sohn und landet nach langer Irrfahrt schließlich an die Küste Karthagos. Dort sorgte seine Mutter Venus dafür, dass er sesshaft wird, indem sie ihn mit Hilfe des Liebesgottes Amor mit der karthagischen Königin Dido verkuppelt. Deren Stelle übernimmt bei Winslow eine Hollywood-Schönheit, Griechen und Trojaner werden durch italienische Mafia und irische Gangster ersetzt.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

City of Dreams | Erschienen am 23.05.2023 bei HarperCollins
ISBN 978-3-36500-169-1
368 Seiten | 24,- €
Originaltitel: City of Dreams | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Conny Lösch
Bibliografische Angaben und Leseprobe

Weiterlesen: Andys Rezension zu Band 1 der Trilogie – „City On Fire“

Deepti Kapoor | Zeit der Schuld

Deepti Kapoor | Zeit der Schuld

Was sie erkennen, ist Folgendes: Er ist kein reicher Mann, beileibe kein reicher Mann, eher ein Faksimile, er erinnert nur an den Wohlstand, dient ihm. […]
Ja, er ist ein Dienstbote, ein Chauffeur, ein Fahrer, ein „Boy“.
Eine wohlgenährte, stubenreine Version dessen, was da tot auf der Straße liegt.
Und der Mercedes gehört ihm nicht.
Man kann also mit ihm machen, was man will. (Auszug S.11)

Der Roman beginnt mit einer Situation nach einem verheerenden Verkehrsunfall. Fünf tote Obdachlose liegen neben einer Straße in Delhi und die Polizei greift einen jungen Mann am Steuer des Tatwagens auf. Es ist Ajay. Im Anschluss erfahren wir seine Lebensgeschichte. Unter ärmsten Bedingungen in einem Dorf in Uttar Pradesh geboren, wird er mit acht Jahren an ein kinderloses Ehepaar verkauft. Dort wird er nicht schlecht behandelt, aber wächst in seine spätere Rolle als Lakai und Bediensteter hinein. Später als Kellner in einem Lokal erlangt er die Aufmerksamkeit von Sunny Wadia. Sunny ist Sohn von Bunty Wadia, einflussreicher Geschäftsmann in verschiedenen Geschäftsfelder, eng verwoben mit der Politik und dem organisierten Verbrechen. Ajay wird loyaler Handlanger von Sunny, der sich am liebsten weitestgehend aus den schmutzigen Geschäften des Vaters heraushalten will. Sunny tritt als Mäzen auf, umgibt sich mit den schönen Dingen, interessiert sich für Stadtplanungsprojekte. Er lernt die Journalistin Neda kennen und lieben, die kritisch über Machtmissbrauch und Korruption berichtet. Doch der dunkle Einfluss von Bunty Wadia zieht Sunny und Neda in einen Abgrund aus Macht, Gier, Gewalt und Tod – und Ajay schließlich an das Steuer dieses Mercedes.

Indien ist seit letztem Jahr das Land mit den meisten Einwohnern auf der Erde. Überhaupt gilt das Land aufgrund der günstigen Demographie als das Land der Zukunft, auch geopolitisch. Allerdings ist dieses riesige, so heterogene Land voller Gegensätze für viele im Westen noch ein Mysterium. Die Autorin Deepti Kapoor ist 1980 im Bundesstaat Utter Pradesh geboren worden, hat zehn Jahre in der Hauptstadt als Journalistin gearbeitet. Sie ist mit einem Briten verheiratet und lebt mittlerweile in Portugal. „Age of Vice“ ist ihr zweiter Roman und nichts weniger als ein Epos, das offensichtlich auf mehrere Teile angelegt ist.

Der Roman beginnt mit der Geschichte von Ajay, einem Jungen aus den unteren Kasten, seine Jugend gekennzeichnet von Armut, Gewalt, Unterdrückung und harter Arbeit. Sunny entdeckt sein Potenzial als treuer Diener, das Ajay ergeben erfüllt. Sunny hingegen ist ein reicher Sprößling, dem alles zufliegt und dem alle Türen offenstehen, durchaus weltoffen und modern, der sich aber insgeheim vor allem eines wünscht: Die Zuneigung seines skrupellosen Vaters. Doch er als er diese erreicht, führt es zu Selbsthass und Depression. Schließlich Neda, eine junge, moderne Frau aus fortschrittlichem Haus, die das Potenzial in Sunny erkennt, die aber seiner Selbstzerstörung letztlich nichts entgegen setzen kann.

„[…] Ich dachte, dieser Mensch könnte ich für immer bleiben. Aber sieh mich an. Ich kann es nicht. Ich schaffe es nicht mehr. Es geht nicht. Es war alles gelogen… ich liebe Schönheit. Ich möchte schöne Dinge schaffen. Aber das ist das Letzte, was die kapieren. Sie wollen, dass ich an der Oberfläche schön und innen völlig verdorben bin, so wie sie.“ (Auszug S.424)

Die Story ist breit angelegt, mit Orts- und Zeitwechseln. Das Buch ist in drei Teile geteilt, die einen Wechsel der Perspektive zwischen den drei Hauptfiguren beinhaltet. Manche Szenen werden doppelt aus zwei Perspektiven erzählt. Die Autorin hat den Roman überwiegend im Präsens und meist in kurzen, knappen Sätzen verfasst. Dadurch wird der Leser unmittelbar in die Geschichte hereingezogen. Die Struktur des Romans, aber auch sein Thema von Macht, Gewalt, Korruption, Liebe und Verrat – das alles erinnerte mich ungemein an eines meines Lieblingsbücher: „Tage der Toten“. Wie Winslow zeichnet Kapoor ein brutales Bild einer gnadenlosen, brutalen Welt und mehrerer Personen, die vergeblich versuchen, aus diesem Teufelskreis auszubrechen. Bei „Zeit der Schuld“ ist es der Schauplatz Indien, auf dem Papier die größte Demokratie der Welt und die Nation mit dem größten Potenzial, die sich allerdings durch Korruption, Vetternwirtschaft und Kasten- und Klassendenken immer wieder selbst behindert. Das alles ist spannend und zielstrebig erzählt, lediglich im dritten Abschnitt lässt die Autorin für meinen Geschmack etwas die Stringenz vermissen. Nichtsdestotrotz gelingt Deepti Kapoor mit diesem Roman ein schillerndes, aufregendes und mitreißendes Epos. Unbedingt lesenswert.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Zeit der Schuld | Erschienen am 01.03.2023 im Blessing Verlag
ISBN 978-3-89667-707-5
688 Seiten | 28,- €
Originaltitel: Age of Vice | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Astrid Finke
Bibliografische Angaben & Leseprobe

John Brownlow | Seventeen

John Brownlow | Seventeen

Ich tue das Einzige, was mir einfällt. Als ich an der Küche vorbeikomme, schnappe ich mir die Kaffeekanne und werfe damit nach der Frau. Praktisch im selben Moment schleudert sie mir das Telefon entgegen. […]
Ich weiß nicht, woher die Frau die Kraft nimmt, aber Wut und Kummer haben ihr einen Arm verliehen, mit dem sie für jede Baseballmannschaft ein Gewinn wäre. Das Gerät fliegt mit wild herumwirbelnden Kabeln auf mich zu wie eine Art überdimensionierter Wurfstern. Und trifft mich mitten auf der Stirn. (Auszug S.28)

Der Mann, der da gerade ziemlich peinlich zu Boden geschickt wird, ist übrigens ein Auftragskiller. Und nicht irgendeiner, sondern der Beste der Branche. Sein Name ist eine Nummer – Seventeen. Er ist der 17. einer illustren Reihe absoluter Profis. Ein Freelancer, der Aufträge von überall her durch seinen Agenten Handler annimmt. Gerade hat er in einer Vorstandsetage eines Unternehmens in Berlin einen Job ausgeführt, als er auf unerwartete Probleme beim Abgang stößt. Doch er wird fliehen können und wenige Stunden später sogar noch einen zweiten Job annehmen. Einen sehr blutigen sogar, weil die Zielperson glaubt, mit dem Schlucken eines Datenträger noch irgendetwas verhindern zu können. Die Art und Weise des zweiten Auftrags machen Seventeen etwas skeptisch, was für eine Art Auftrag das gerade war, aber ihm bleibt nicht viel Zeit zum Nachdenken.

Handler vermittelt ihm seine nächste Aufgabe. Eine verdammt heikle und unangenehme. Vor ihm als No. 17 gab es entsprechend sechzehn andere Auftragskiller an der Spitze. Fünfzehn sind tot, die meisten nicht freiwillig aus dem Leben geschieden. Nur Sixteen lebt noch und ist ein Mysterium. Vor vielen Jahren hat er sich einfach aus dem Staub gemacht, ist spurlos von der Bildfläche verschwunden. Nun erhält Seventeen den Auftrag, ihn aufzuspüren und zu erledigen. Andernfalls könnten andere denken, dass die Zeit für No. Eighteen gekommen sei. Doch Seventeen weiß, dass Sixteen eine verdammt schwierige Aufgabe sein wird.

Als ich an meinem Versteck vorbeikomme, halte ich den Atem an. Fast rechne ich damit, dass er dort wartet und an meiner Stelle schießt.
Als das nicht geschieht, bin ich fast enttäuscht.
Vielleicht ist dieser Kerl trotz allem nur ein Mensch. (Auszug S.123)

Autor John Brownlow hat unter anderem das Drehbuch für die Fernsehserie „Fleming“ über Ian Fleming und die Entstehung von James Bond geschrieben. Für sein Romandebüt „Seventeen“ bewegt er sich in ähnlichen Gefilden. Im Gegensatz zu 007 ist Seventeen auf der dunklen Seite der Branche. Was allerdings nicht heißt, dass die meisten seiner Aufträge nicht von irgendeiner Regierung kommen, die sich aber nicht exponieren will. Seventeen ist ein absoluter Profi, seine Aufträge erledigt er kühl und zuverlässig, hinterfragt sie auch nicht groß, versucht allerdings, Kollateralschäden zu vermeiden. Seine Tarnung ist größstmögliche Auffälligkeit. Er hat es an der Spitze geschafft, aber seine Nachfolger sind stets auf der Lauer, Unachtsamkeit wird in der Branche grausam bestraft.

Das äußerst Unterhaltsame an diesem Roman ist die gewählte Perspektive und Erzählweise. Brownlow lässt Seventeen als Ich-Erzähler durch den Plot führen, der den Leser auch direkt anspricht und Einblicke ins Business und seinen Gemütszustand gibt. Das ist streckenweise zynisch, großspurig, aber auch ironisch und komisch. Rasante Action und brutale Szenen werden durch Slapstick und Komik gebrochen. Nach einer kurzen Einführung gibt Brownlow mit der Story direkt Vollgas und bleibt fast ununterbrochen auf dem Gaspedal.

„Seventeen“ ist nicht der ganz hintergrundfreie Actionroman. Es geht natürlich um Täuschung und Verrat und die ganzen Manöver haben irgendwie mit einem drohenden Krieg und dem noch fehlenden Anlass (man erinnere sich an Massenvernichtungswaffen) zwischen den USA und dem Iran zu tun. Doch das Politthrillerelement wird nicht überstrapaziert. Im Allgemeinen ist „Seventeen“ einfach ein famoser, äußerst unterhaltsamer Thriller, der einfach nur Spaß macht und unkonventionell über weite Strecken ein Feuerwerk abbrennt (das Ende hätte hingegen vielleicht noch unkonventioneller ablaufen können).

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

Seventeen | Erschienen am 18.04.2023 im Rowohlt Verlag
ISBN 978-3-499-00851-1
396 Seiten | 13,- €
Originaltitel: Seventeen | Übersetzung aus dem Englischen von Stefan Lux
Bibliografische Angaben & Leseprobe

James Kestrel | Fünf Winter

James Kestrel | Fünf Winter

„Ich glaube, er hatte Hilfe.“ „Warum?“ „Nur so ein Gefühl.“ „Haben Sie auch ein Gefühl, was dieses Bett betrifft?“ McGrady warf einen Blick auf das Feldbett. Jetzt wurde es von beiden Taschenlampen angestrahlt. Schmutzige Decken und alte Kleidungsstücke stapelten sich darauf. „Was ist damit?“ „Es blutet.“ (Auszug Seite 36)

Ende November 1941 in einer Bar in Honolulu. Detective Jo McGrady ist eigentlich schon im Feierabend, als ihn der Anruf seines Vorgesetzten ereilt. Auf der anderen Seite der Insel Oahu wurde in einem Geräteschuppen in der Nähe einer Rinderfarm ein Leichenfund gemeldet. Personal ist knapp, es ist der Tag vor Thanksgiving, und so soll der Militärveteran McGrady hinfahren. Er ist kein Einheimischer und gilt immer noch als Außenseiter im Honolulu Police Department. Er sieht seine Chance, sich nach 5 Jahren auf Haiwaii mit seinem ersten Mordfall die nötige Anerkennung zu verdienen und macht sich auf in die Berge Honolulus. Am Tatort in die Nähe der Kahana Bay findet er einen weißen, jungen Mann, der kopfüber an einem Fleischerhaken hängt und brutal ausgeweidet wurde. Erst auf den zweiten Blick findet McGrady eine zweite Leiche, eine junge japanisch-stämmige Frau, die ebenfalls auf grausamste Weise gefoltert wurde. Es stellt sich heraus, dass beide mit einem Grabendolch aus dem ersten Weltkrieg ermordet wurden. Der Fall wird zum Politikum, da es sich bei dem ermordeten Jungen um den Neffen des Oberbefehlshabers der Pazifikflotte, Admiral Kimmel handelt, während die Identität seiner mutmaßlichen Freundin, der getöteten Asiatin erst mal ungelöst bleibt.

Zur falschen Zeit am falschen Ort
Relativ schnell zeichnet sich die Spur eines Tatverdächtigen mit dem offensichtlich falschen Namen John Smith ab, die nach Hongkong führt. Während sein Vorgesetzter, Captain Beamer ihn an der kurzen Leine halten will, setzt Kimmel alles dran, den Detective in geheimer Mission an Smiths Fersen zu heften und inoffiziell ermitteln zu lassen. Trotz der unruhigen Zeiten, die Welt befindet sich im Krieg, gelingt es McGrady über Manila nach Hongkong zu fliegen. Allerdings scheint der übermächtige Killer ihm immer einen Schritt voraus zu sein. In der britischen Kronkolonie Kowloon angekommen gerät McGrady alsbald in eine Falle und wird unter einem Vorwand verhaftet. Während er in der Zelle schmort, erreicht der Weltkrieg die Pazifikregion. Am 07. Dezember 1941 überfallen die Japaner Pearl Harbour und die USA tritt in den zweiten Weltkrieg ein. Als die Japaner auch Hongkong einnehmen, wird McGrady mit anderen westlichen Gefangenen per Schiff nach Tokio deportiert, wo er als angeblicher Spion auf seine wahrscheinliche Hinrichtung wartet.

Überraschend wird er von dem stellvertretenden Außenminister Takahashi Kansei befreit. Der Diplomat, der heimlich gegen die Kriegspolitik Japans arbeitet, ist ebenfalls an der Aufklärung des Mordfalls interessiert und versteckt Jo McGrady in seinem Haus in der Nähe Tokios. Tatsächlich kümmern sich Kansei und seine Tochter Sachi bis zum Kriegsende um den Detective und riskieren dabei ihre Leben. Dieser darf das Haus nicht verlassen, nutzt die Zeit um Japanisch und viel über die japanische Kultur zu lernen und überlebt den Feuersturm, den die amerikanischen Bomber in der japanischen Hauptstadt entfesseln. Dabei verzehrt er sich die ganze Zeit nach seiner Freundin Molly, von der er sich nach seiner überstürzten Abreise aus Hawaii nicht verabschieden konnte.

Er würde herausfinden, dass sich zu dem Zeitpunkt, an dem er die Badewanne verließ und sich fragte, wann Sachi zurückkommen würde, in zweitausend Kilometern Entfernung die Bomber von den Startbahnen drängten …. Es waren so viele Maschinen, dass es dreieinhalb Stunden dauerte, bis alle in der Luft waren und Richtung Norden schwenkten …. Zusammengenommen waren sie mit gut anderthalb Millionen Kilo Napalm beladen. Auszug Seite 284

Erst nach der Kapitulation Japans gelingt ihm die Rückkehr in die Heimat und hier beginnt wieder die alte Jagd nach dem Killer, auch weil er sich an sein Versprechen gegenüber Takahashi gebunden fühlt. Auf Hawaii hat sich nach fünf Jahren vieles verändert, an der Aufklärung der Mordfälle zeigt auch keiner mehr Interesse.

Meine Meinung
Der rasante Einstieg hat mich sofort in den Bann gezogen. Aufgrund der bildhaften Erzählweise war ich gleich mitten in der Geschichte, saß mit den Matrosen an der Bar, schmeckte den Whiskey und spürte die tropische Hitze. Die Atmosphäre ist düster und beklemmend, der Erzählton hart und militärisch kühl, die Dialoge lakonisch und trocken. Ein klassischer Noir eben!

Spätestens in Hongkong ändert sich die Tonalität der Geschichte und wird zu einem historischen Roman, wobei das Kriegsgeschehen im Pazifik den geschichtlichen Hintergrund bildet. Viele zeithistorische Aspekte werden in den Roman eingewoben, es entsteht jedoch keine trockene Geschichtsstunde, sondern ein intensives Bild jener Zeit. Die Gräueltaten des Krieges werden ohne Beschönigung geschildert, jedoch erzählt James Kestrel sein großartiges Drama mit nüchternen Worten, sachlich kühl und ohne große Sentimentalitäten, passend zu seinem Protagonisten.

Jo McGrady ist der typisch hartgesottene Held, zynisch und desillusioniert. Kein Freund großer Worte, leidensfähig, schlau und absolut verbissen, die einmal aufgenommene Fährte wird auch nach fünf Jahren nicht losgelassen. Dabei auch zu großen Gefühlen fähig, denn der Roman ist auch eine bittersüße, nie kitschig werdende Liebesgeschichte. Selten habe ich einen Roman gelesen, auf dem die Beschreibung „episch“ besser gepasst hätte. James Kestrel schlägt einen wirklich großen Bogen in seinen mehrfach ausgezeichneten Roman, aber das ist durchgehend fesselnd, süffig zu lesen und beeindruckend mit exotischen Schauplätzen und einem unbeirrbaren Helden in Szene gesetzt. Hut ab vor diesem Mix aus Thriller, historischem Kriminalroman, Kriegsdrama und Romanze.

James Kestrel ist das Pseudonym des amerikanischen Autors und Anwalt Jonathan Moore, der mit seiner Familie auf Hawaii lebt. Und erfreut stellte ich fest, dass ich seinen Roman „Poison Artist“ auch noch auf dem SuB habe.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Fünf Winter | Erschienen am 12. März 2023 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-51847-317-7
499 Seiten | 22,- Euro
Originaltitel: Five Decembers | Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Stefan Lux
Bibliografische Angaben & Leseprobe