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Holger Karsten Schmidt | Finsteres Herz (Band 2)

Holger Karsten Schmidt | Finsteres Herz (Band 2)

Seit langem ist Holger Karsten Schmidt einer der erfolgreichsten Drehbuchautoren in Deutschland. Der mehrfache Grimme-Preisträger und Fernsehkrimi-Preisträger (u.a. Für „Mord in Eberswalde“) hielt sich lange Zeit mit Romanveröffentlichungen zurück. Der große Erfolg auch auf diesem Segment stellt sich mit der Reihe „Lost in Fuseta“ ein, die er unter dem Pseudonym Gil Ribeiro verfasst. Mitten in diese erfolgreiche Reihe fiel 2020 der Roman „Die Toten von Marnow“ samt dazugehörigem Drehbuch und erfolgreichem TV-Mehrteiler (ebenfalls Gewinner des Deutschen Fernsehkrimipreises). In diesem Roman, angesiedelt in Mecklenburg-Vorpommern, ermitteln die Kommissare Lona Mendt und Frank Elling in mehreren Morden, die offenbar in Zusammenhang mit Medikamententests westdeutscher Pharmafirmen in der ehemaligen DDR stehen. Schmidt hat sich eine Fortsetzung offengelassen und veröffentlichte nun einen zweiten Band – „Finsteres Herz“. Die TV-Ausstrahlung erfolgt ab dem 07.12.2024.

Lona erspürte das Erstarren Sarahs direkt neben sich. Als wäre das Mädchen binnen eines Wimpernschlags erfroren. Selbst seine Gesichtsmuskeln wirkten versteinert.
Lona sah, wie sich ein dunkler Fleck im Schritt der kleinen Zeugin bildete, der sich ausbreitete. Genau der Moment, in dem Bennat von Elling zu Sarah schaute und es ebenfalls bemerkte. (Auszug E-Book Pos. 189)

Mit einem Paukenschlag führt der Autor in diesen Roman ein: Silvester 2006. Ein Ferienhaus im Schnee an einem Mecklenburger See. Ein Zeugenschutzhaus. Lona Mendt, Frank Elling und ihr Chef Mertens betreuen drei Zeugen im Zusammenhang mit Menschenhandel und mehreren Morden, darunter die 12jährige Sarah aus Bulgarien. An diesem Tag sollen die Zeugen eine Aussage bei einer Richterin in Rostock machen. Dazu werden sie von einem Fahrdienst der Bereitschaftspolizei abgeholt. Doch mitten in der Abholung merkt die junge Zeugin, dass dies keine echten Polizisten sind. Es kommt zu einem mehrminütigem Schusswechsel, bei dem am Ende zwei Zeugen und Mertens sowie mehrere Angreifer tot sind, Mendt und Elling schweben am Rande des Todes. Doch es ist ihnen dennoch geglückt, dass Sarah fliehen konnte. Nun sucht nicht nur die Polizei nach der jungen Zeugin.

Staatsanwalt Rost beauftragt Hagen Dudek vom LKA und Maja Kaminski von der Bundespolizei mit den weiteren Ermittlungen. Es gibt offensichtlich ein undichte Stelle bei der Rostocker Polizei und Mendt und Elling hatten in weiser Voraussicht offizielle dienstliche Unterlagen über die Zeugen vernichtet. Zudem befinden sich beide im künstlichen Koma. Dudek und Kaminski müssen die Ereignisse ganz von vorne aufrollen, aber gleichzeitig stehen sie unter engem Zeitdruck, Sarah als erste zu finden.

Das Besondere an diesem Kriminalroman ist die Konstruktion der zeitlichen Ebenen. Der Leser verfolgt nicht nur die Ermittlungen von Dudek und Kaminski in weiterer chronologischer Reihenfolge (wobei bald klar wird, dass einer der beiden seine eigende Agenda verfolgt), sondern der Autor springt auch einige Wochen vor die Silvesternacht zurück und schildert die Ermittlungen von Mendt und Elling, die zu dieser Situation geführt hat. Da sich Dudek und Kaminski auf Mendts und Ellings Spuren bewegen, kommt es dazu, dass innerhalb weniger Buchseiten dieselben Zeugen befragt werden. Diese zeitlichen Sprüngen sind ungewöhnlich, machen aber einigen Reiz an diesem Roman aus.

Schmidt gelingt ein wirklich starker Kriminalroman, der nicht nur mit einem aktuellen Thema wie dem Kampf gegen organisierten Menschenhandel und der schwierigen Rolle der Ermittlungsbehörden punktet, sondern insgesamt einen sehr durchdachten Spannungsaufbau abliefert. Traditionell als Drehbuchschreiber sind die Dialoge sehr überzeugend und nicht zuletzt beeindruckt auch nebenbei die akribische Zeichnung der wichtigsten Figuren, deren private Dinge sich harmonisch in die Story einfügen. Was den deutschsprachigen Kriminalroman betrifft, ist „Finsteres Herz“ mit Sicherheit einer der Highlights diesen Jahres.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Finsteres Herz | Erschienen am 10.10.2024 im Verlag Kiepenheuer & Witsch
ISBN 978-3-462-00616-2
464 Seiten | 17,- €
E-Book: ISBN: 987-3-462-31245-4 | 14,99 €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Gunnars Rezension zu „Die Toten von Marnow“

Alan Parks | Die April-Toten (Band 4)

Alan Parks | Die April-Toten (Band 4)

Im Jahr 2017 startete der ehemalige Creative Director eines Musiklabels, Alan Parks, sein ambitioniertes Projekt einer Krimireihe mit Schauplatz Glasgow in den 1970ern. 12 Bände sind geplant, für jeden Monat einer. Schon Band 1 „Bloody January“ wurde von Kritik und Lesern sehr gelobt (auch von uns). Bereits ein Jahr nach der Veröffentlichung des Originals began Heyne Hardcore mit der Veröffentlichung der deutschen Übersetzung und kam bis zu Band 3 „Bobby March Forever“. Danach war der immer für außergewöhnliche Genreliteratur bekannte Verlag innerhalb des Großkonzerns Penguin Randomhouse Geschichte. Und die Reihe in deutscher Übersetzung erstmal vakant, im Original veröffentlicht Parks fleißig weitere Bände. Doch zum Glück nahm sich jetzt der Polar Verlag dieser Reihe an, die hervorragende Übersetzerin Conny Lösch ist weiterhin dabei und so heißt es: Vorhang auf für Harry McCoys Glasgow, Band 4.

„Ich bin an dieses Bett gefesselt, durchs Fenster sehe ich Glasgow, eine Stadt, die ich nie wirklich gemocht habe. Hier gibt es pro Kopf mehr Säufer als sonst irgendwo. Überall die Kathedralen der Papisten. Die Stadt suhlt sich in ihrem eigenen Dreck, die Menschen rutschen auf Knien, halten die Hand auf, haben ihr kulturelles Erbe billig an die Engländer verscherbelt.“ (Auszug S.373)

Willkommen in Glasgow 1974. Im Gegensatz zu den hippen Metropole heute damals eine Stadt im Niedergang, voller Arbeitslosigkeit, Armut, Alkohol und Kriminalität. Detective Harry McCoy wird zu einem ungewöhnlichen Tatort gerufen. In einem schäbigen Haus mit Sozialwohnungen ist eine Bombe losgegangen, offenbar während der Herstellung, und hat den Bomberleger selbst getötet. Bei Bomben wird man auch in Schottland hellhörig, spitzt sich doch der Konflikt im benachbarten Nordirland gerade richtig zu. Doch eine Verbindung zu den Troubles lässt sich nicht herstellen, auch nicht, als in der Glasgow Cathedrale eine weitere Bombe hochgeht, ohne jemanden zu verletzen. Doch irgendjemand zündet in Glasgow Bomben und McCoy sucht verzweifelt einen Ansatzpunkt. Ein zweiter Fall ergibt sich aus einer privaten Begegnung in einem Pub: Der Amerikaner Andrew Stewart, ehemaliger Navy-Officer, spricht McCoy an und bittet ihn um Hilfe bei der Suche nach seinem Sohn Donny. Dieser ist in der amerikanischen U-Boot-Basis stationiert und seit Tagen spurlos verschwunden. Zunächst widerwillig willigt McCoy ein, Donny zu suchen. Doch je mehr er über dessen Verschwinden erfährt, desto mehr mehren sich Hinweise auf ein Verbrechen und einen Zusammenhang zu Bombenserie.

Währenddessen hat McCoy aber noch andere Sorgen. Sein Jugendfreund aus gemeinsamen harten Tagen in einem Kinderheim, Stevie Cooper, ist – wie aus den Vorgängerbänden wohlbekannt – ein einflussreicher und gnadenloser Gangsterboss in Glasgow. Er hat eine Fehde im Gangstermilieu angezettelt und wird kurz nach Entlassung aus einer kurzen Haftstrafe öffentlich mit einem Messer attackiert. Am frühen Morgen wird der Angreifer dann ermordet aufgefunden und natürlich ist Cooper Hauptverdächtiger. Doch er hat – dank McCoy – ein Alibi.

Sie sah ihn durch den Türspalt an. Nahm einen tiefen Zug von ihrer Capstan und blies ihm den Rauch ins Gesicht. „Du hältst dich wohl für ´ne große Nummer, McCoy. Du denkst, du bist ein großer Bulle, aber du bist genauso einer wie wir alle, wir leben alle auf dem Rücken von Stevie Cooper und tanzen nach seiner Pfeife. Der einzige Unterschied ist, dass du´s nicht zugeben willst.“ (Auszug S.124)

Diese Verbindung zwischen dem Bullen und dem Gangsterboss macht auch den großen Reiz dieser Reihe aus. Harry McCoy ist ein rechtschaffender Polizist mit intaktem Moralverständnis. Natürlich ist er mit den Dienstvorschriften manchmal aufs Kriegsfuss und schlägt über die Stränge, doch die nicht geringe Anzahl an käuflichen Kollegen sind ihm ein Graus. Seine Verbindung zu Cooper ist allerdings seine große Archillesferse, sein Chef weiß, was er an McCoy hat und sieht über die Verbindung hinweg. Doch diese ist und bleibt grenzwertig, denn Cooper reizt die Verbindung gerne aus und stellt McCoy auf die Probe. Er ist ein knallharter und brutaler Gangster. Wer nicht für ihn ist, ist gegen ihn. Es knallt zwischen beiden, doch die Bande zwischen beiden ist tief.

Der Plot verwebt geschickt verschiedene Handlungsstränge und Thematiken. Es geht um schottischen Nationalismus, Hippies, Militaristen, fahrendes Volk, Bandenkriminalität, den Nordirlandkonflikt und die Präsenz amerikanischer Atom-U-Boote in Schottland sowie ein besonders dunkles Thema, das sich erst zuletzt offenbart. Dabei bleibt der Erzähler die ganze Zeit bei der Perspektive der Hauptfigur McCoy, vermag es aber auch den weiteren Figuren und vor allem auch Glasgow und Umgebung Leben einzuhauchen. Musikalisch ist im April 1974 vor allem Abbas „Waterloo“ allgegenwärtig, sehr zum Verdruss McCoys.

Alan Parks macht mit seiner Reihe eigentlich nahtlos weiter, wo er aufgehört hat. Ein hartgesottener Bulle in den düsteren Straßen Glasgows, staubtrockene Dialoge, ein straffer, temporeicher Stil, immer wieder auch mit schwarzem Humor garniert – alles Zutaten für eine kurzweilige Lektüre. Insgesamt eine wirklich gelungene Fortsetzung. Gratulation und Dank an den Polar Verlag für die Übernahme der Reihe.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Die April-Toten | Erschienen am 16.09.2024 im Polar Verlag
ISBN 978-3-910918-06-1
444 Seiten | 26,- €
Originaltitel: The April Dead | Übersetzung aus dem schottischen Englisch von Conny Lösch
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Gunnars Rezension zu Band 1 „Blutiger Januar“

Rezensions-Doppel Christoffer Carlsson | Was ans Licht kommt & Wenn die Nacht endet (Band 2 & 3)

Rezensions-Doppel Christoffer Carlsson | Was ans Licht kommt & Wenn die Nacht endet (Band 2 & 3)

Der schwedische Autor Christoffer Carlsson ist der neue Shootingstar der renommierten schwedischen Krimiszene. Geboren in Halmstad an der schwedischen Westküste, eine Landschaft auf die er später in seiner aktuellen Romanreihe zurückkommt. Er ist studierter Kriminologe, widmete sich aber schnell nach seinem Studium der (Kriminal)-Literatur. Direkt sein Krimidebüt „Der Turm der toten Seelen“ wurde 2013 mit dem schwedischen Krimipreis ausgezeichnet, weitere Auszeichnungen folgten. Carlsson wurde mir mehrfach empfohlen, zuletzt der zweite Roman der „Halland“-Reihe „Was ans Licht kommt“. Kurz danach hatte ich Gelegenheit, auch den dritten Band „Wenn die Nacht endet“ zu lesen, somit gibt es an dieser Stelle eine Doppelrezension.

Was ans Licht kommt

Die Geschichte wird in mehreren Zeitebenen von einem Ich-Erzähler erzählt, einem Schriftsteller, der in einer kleinen Lebenskrise sich wieder nach Halland in die alte Heimat begibt, um dort einen True-Crime-Roman zu verfassen. Er wählt die Geschichte des Mordfalls Stina Franzén aus und die Obsession des örtlichen Polizeibeamten Sven Jörgensson, den Mörder zu finden. Der Mordfall ereignet sich am späten Abend bzw. in der Nacht des 28. Februar 1986. Für alle Schweden ein JFK-Moment, denn an diesem Abend wird Ministerpräsident Olof Palme von einem Attentäter erschossen. Der Palme-Mord überschattet den Fall in der Provinz. Der zuständige Beamte Jörgensson erhält einen anonymen Anruf vom Täter, in dem dieser weitere Taten ankündigt. Tatsächlich verschwindet kurz darauf wieder eine junge Frau, Frida Östmark. Doch sie bleibt verschwunden, wie auch lange der Täter. Sven Jörgensson wird schließlich krank über der Suche und vererbt seine Obsession schließlich an seinen Sohn Vidar, ebenfalls Polizist.

Durch diese Notizen sah Vidar seinen Vater in einem deutlicheren Licht, als er in jemals auf der anderen Seite des Küchentischs, am anderen Ende des Sofas oder neben sich im Auto gesehen hatte. Manche Verbrechen weichen nicht vom Fleck, ehe sie aufgeklärt sind. Und scheitert man, wird es einen für alle Zeiten prägen.
Was hier oben geschehen war, hatte seinen Vater regelrecht aufgezehrt. (Auszug Seite 308)

Das große Motiv des Romans ist das Scheitern, den Opfern durch Aufklärung eines Kriminalfalls Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, das vergebliche Mühen nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Sühne. Das Ganze bereitet Carlsson unglaublich präzise auf, in dem er die Geschichte von Vater und Sohn Jörgensson erzählt, die alles tun, um Gerechtigkeit herzustellen und doch dabei scheitern. Der Vater bezahlt es sogar mit Krankheit und Tod. Dabei schwelt neben den Fällen im ländlichen Halland immer der große Palme-Fall im Hintergrund, der das Vertrauen der schwedischen Bevölkerung in Polizei und Justiz fundamental erschüttert hat.

Christoffer Carlsson bedient sich dabei einer sehr klugen Gesamtkomposition mit einer cleveren Rahmenhandlung, in der der Autor als Ich-Erzähler letztlich selbst zum Ermittler wird und am Ende eine weitere Pointe dem Roman hinzufügt. Ein herausragender Kriminalroman, der sehr versiert und mit leiser Sohle Hintergründe, gesellschaftliche Stimmungen und die Psychologie der Figuren offenlegt.

Wenn die Nacht endet

Vidar Jörgensson begegnet uns auch im dritten Halland-Roman, wenn auch erst recht spät in der Geschichte. Diese beginnt im Dezember 1999, kurz vor der Jahrtausendwende. Die Jugend Hallands bereitet sich auf große Festivitäten vor, die ältere Bevölkerung ist teilweise leicht hysterisch, hebt in Sorge vor dem Millenniumscrash das Ersparte von der Bank ab. In einer Nacht in den Weihnachtstagen kommt es im Dorf Skavböke zu einer tragischen Nacht: Nach einer Party wird der 18jährige Mikael Söderström erschlagen aufgefunden, gleichzeitig wurde das Ersparte einer Bauernfamilie geraubt. Das Dorf ist erschüttert, der Verdacht liegt nahe, dass der Täter einer der weiteren Jugendlichen ist. Ins Visier gerät ein ungleiches Freundespaar: Killian Persson und Sander Eriksson. Weitere tragische Ereignisse erschüttern in den nächsten Wochen im wahrsten Sinne des Dorf. Doch erst zwanzig Jahre später kommt die Wahrheit über die Ereignisse von damals als Licht.

Als man aufwuchs, waren die Wege und Pfade so selbstverständlich wie die Menschen, die alten Steinmauern und die Häuser. Die Welt ringsum war schon immer da gewesen, und so würde es immer bleiben. […] Es gab kein Ende, und es war unmöglich, dass etwas oder jemand eines Tages nicht mehr existieren, nicht mehr da sein sollte.
Dann holte der Tod Mikael, und alles veränderte sich. (Auszug E-Book Pos. 886)

Auch dieser Roman zeugt von der enormen Fähigkeit Carlssons, in die Psychologie seiner Figuren einzutauchen. Das Buch erzählt von der Jugend und dem (manchmal abrupten) Erwachsenwerden, von Freundschaft, Verrat, Schuld und Vergebung. Und wieder schwingt im Hintergrund auch eine gesellschaftliche Komponente mit. Für meinen Geschmack war dieser Roman manchmal eine Spur zu langsam erzählt. Zudem bringt Jörgensson hier einige Wendungen bzw. Zufälle, die mir einen Tick too much waren. Dennoch wiederum ein guter Roman des schwedischen Autors und auch in der Form des Regionalkrimis eine wohltuende Alternative zum schematisch gewordenen Nordic Noir.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Was ans Licht kommt | Die aktuelle Taschenbuchausgabe erschien am 12.09.2023 im Rowohlt Verlag
ISBN 978-3-86648-701-7
492 Seiten | 14,- €
Originaltitel: Brinn mig en sol | Übersetzung aus dem Schwedischen von Ulla Ackermann
Bibliografische Angaben & Leseprobe
Wertung: 4,5 von 5

Wenn die Nacht endet | Erscheinen am 14.05.2024 im Kindler Verlag
ISBN: 978-3-463-00061-9
464 Seiten | 24,- €
Originaltitel: Levande och döda | Übersetzung aus dem Schwedischen von Ulla Ackermann
Bibliografische Angaben & Leseprobe
Wertung: 3,5 von 5

Weiterlesen: Kurts Rezensionen der Leo-Junker-Reihe von Christoffer Carlsson

Don Winslow | City In Ruins (Band 3)

Don Winslow | City In Ruins (Band 3)

Danny wird von Paranoia gepackt, er stellt sich ein Fadenkreuz auf seinem Hinterkopf vor, auf seiner Stirn. Angst steigt in ihm auf – oder ist es Instinkt, sein gutes Gespür? Er rutscht tiefer in seinen Sitz, öffnet das Handschuhfach und nimmt seine Sig Sauer 380 heraus. Vielleicht hatte Jimmy recht. Vielleicht hatten sie alle recht. Das ist eine Falle. (Auszug E-Book Pos. 3486)

Im dritten und finalen Band lebt Danny Ryan bereits über 10 Jahre in Las Vegas, hat sich als seriöser Geschäftsmann etabliert, kümmert sich um seinen Sohn Ian und hat seit einiger Zeit eine bisher noch heimliche Liebesbeziehung zu einer Professorin. Beruflich sehr erfolgreich hat er sich ein Casino- und Hotelimperium aufgebaut. Aufgrund seiner früheren Verbindungen zur Mafia, tritt er offiziell nur als Geschäftsführer der Tara-Group auf, die zwei Bauunternehmern aus Missouri gehört. Dabei hat er im Hintergrund die Fäden gezogen und mit seinen Visionen eine neue Ära in Las Vegas eingeläutet. Statt auf das billige Glücksspiel und Automatenzocker setzt Danny zukunftsorientiert auf luxuriösen Hotelbetrieb und sein Hotel „Shores“ wurde ein großer Erfolg.

Mondänes Hotel-Imperium
Ehrgeizig will Danny weiter expandieren, wobei ein altes sanierungsbedürftiges Hotel „Lavinia“ sein Interesse weckt. Sein größter Konkurrent Vern Winegard hat sich bereits mit dem Besitzer Georg Stavros geeinigt. Danny will unbedingt sein Traumhotel „Il Sogno“ bauen, trifft sich mit Stavros, um ihm ein besseres Angebot zu unterbreiten und geht mit der Tara Group an die Börse, um die benötigten Gelder aufzubringen. Diese feindliche Übernahme zerstört die friedliche Koexistenz der Konkurrenten am Strip und setzt eine Spirale der Gewalt los. Alle Versuche, den Konflikt nicht weiter eskalieren zu lassen, scheitern. Danny sieht sich plötzlich wieder mit seiner Vergangenheit konfrontiert, auch weil die FBI-Agentin Reggie Moneta die Tötung ihres Liebhabers, des korrupten FBI-Agenten Philip Jardine noch nicht verwunden hat und einen Rachefeldzug startet. Danny schart seine alten Freunde Jimmy MacNeese sowie die als Messdiener bekannten Sean South und Kevin Coombs um sich und muss wieder um sein Leben und das seiner Familie kämpfen.

Vom blutigen Kampf der Mobster zu Glücksspiel und Politik
Mit „City in Ruins“ beendet Don Winslow nicht nur seine mit „City on Fire“ und „City of Dreams“ begonnene Trilogie sondern auch seine schriftstellerische Karriere, um seine ganze Energie demnächst in den politischen Kampf zu stellen. Wie auch in seinen anderen Romanen hat er sich eine komplexe Handlung mit einem großen Figurentableau ausgedacht. Seine Sprache ist wie immer schnörkellos, knapp und mit dem ihm eigenen Rhythmus. Aufgrund von kurzen Kapiteln, häufigen Schauplatzwechseln sowie szenischem Erzählen fliegt man nur so durch die Seiten und mag das Buch nicht aus der Hand legen. Eindrucksvolle Bilder ziehen die Leserinnen und Leser mitten ins Geschehen. Die Dialoge sind authentisch und oft von einer intensiven Emotionalität geprägt, die die Spannung zusätzlich verstärkt.

Dabei werden auch die in den beiden früheren Bänden begonnenen Geschichten zu Ende gebracht und bringen ein Wiedersehen mit alten Bekannten. Wir erfahren, wie es mit Chris Palumbo weiter ging, der 1988, nachdem er einige mächtige Mafiosi um ihr Geld brachte, untertauchen musste. Oder Peter Moretti Jr., der nach dem Mord an Vinnie Calfo und seiner eigenen Mutter Celia Moretti festgenommen und vor Gericht gestellt wird. Diese beiden Nebenhandlungsstränge wirken allerdings wie losgelöst von dem Hauptplot. Auch einige neue Figuren tauchen auf und verschwinden wieder arg schnell in der Versenkung. Obwohl Winslow dem Leser mit erläuternden Rückblenden hilft, würde ich vor der Lektüre die beiden vorherigen Bände empfehlen.

Der Kreis schließt sich im Epilog, der wieder 2023 in Rhode Island endet, wo alles begann. Ein rundum gelungener, großartiger, letzter Roman eines Ausnahmeschriftstellers, dessen letzte Seiten ich mit einem Tränchen im Auge gelesen habe. Aus Gründen!

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

City in Ruins | Erschienen am 21.05.2024 bei HarperCollins
ISBN 978-3-36500-566-8
448 Seiten | 24,- €
Originaltitel: City in Ruins | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Conny Lösch
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Andys Rezensionen zu Band 1 und Band 2 der Trilogie

Rebecca F. Kuang | Yellowface

Rebecca F. Kuang | Yellowface

In der Nacht, in der ich Athena Liu sterben sehe, feiern wir ihren Vertrag mit Netflix. (Auszug Anfang)

Die beiden, die hier feiern, sind zwei junge Autorinnen, June Hayward und Athena Liu, die sich noch aus Studientagen in Yale kennen. Eng befreundet sind sie nicht, sie verbindet eine lockere Bekanntschaft. Im Gegensatz zu June ist Athena sehr erfolgreich. Die schöne Sino-Amerikanerin ist eine Bestseller-Autorin und der aktuelle Shooting-Star der Verlagswelt. Junes Debütroman floppte, sie ist neidisch auf Athena, die alles hat, was sie auch gerne hätte. Missgünstig reduziert sie Athenas Erfolg auf deren gutes Aussehen und vermutet, dass ihre chinesische Herkunft für den Erfolg nicht irrelevant sei.

In Athenas Wohnung feiern sie den neuesten Erfolg, als diese tragisch verunfallt und stirbt. Kurz vorher hatte sie June noch ihr grade zu Ende gebrachtes Romanmanuskript gezeigt, wie immer typisch für Athena, auf einer klassischen Schreibmaschine geschrieben. Ohne groß nachzudenken, steckt June das noch nicht veröffentlichte Manuskript ein. Es ist die Geschichte chinesischer Arbeiter, die von der britischen und französischen Armee im Ersten Weltkrieg an die alliierte Front geschickt wurden. Obwohl erst nur eine Rohfassung, erkennt June sofort, welches Meisterwerk sie in den Händen hält. Viel zu gut um nicht veröffentlicht zu werden, und es zu überarbeiten fällt June leichter als eine ganz neue Geschichte zu schreiben. June überarbeitet den Text und gibt ihn schließlich als ihren aus. Über ihren Agenten verkauft sie „Die letzte Front“ für einen schwindelerregend hohen Vorschuss an einen kleinen aber renommierten Verlag namens Eden. Einige Änderungen werden vorgenommen, um es für den großen Markt lesbarer zu machen. June ist nicht zimperlich und streicht chinesische Namen oder kulturelle Anspielungen und baut sogar eine kleine Liebesgeschichte ein. Auch als der Verlag ihr vorschlägt, unter dem Namen Juniper Song zu veröffentlichen, da dieser Name ambivalenter wahrgenommen wird als Hayward, ist sie nicht zögerlich.

Und schon entsteht, wie aus dem Nichts, meine öffentliche Persona. Mach’s gut, June Hayward, unbekannte Autorin von Jenseits der Bäume. Hallo Juniper Song, Autorin des größten Literaturhits der Saison – geistreich, enigmatisch, die beste Freundin der verstorbenen Athena Liu. (Auszug Seite 88, 89)

„Die letzte Front“ wird ein Bestseller und zu Junes großem Durchbruch. Alle reißen sich um sie und den Roman. June, die immer nach literarischer Anerkennung strebte, kann endlich den Ruhm genießen. Sie ist der neue Stern am Autorenhimmel, ist wochenlang in den Bestsellerlisten und verteilt Autogramme auf Lesungen.

Bis dann plötzlich die Stimmung kippt. Es werden erste Vorwürfe laut und es mehren sich Kritiker in den sozialen Medien, die ihr vorwerfen, als weiße Frau mit der Geschichte vom Leid der chinesischen Arbeiter zu profitieren. Dann tauchen erste Verdächtigungen auf, die ihr Plagiat vorwerfen. June verfolgt beinahe obsessiv die Diskussion, die online stattfindet. Es ist eine Zusammenballung von Tweets, Memes, Shitstorms, YouTube Videos, Hassnachrichten und sogar Todesdrohungen. Nach dem Bestseller sind die Erwartungen an ihr nächstes Werk groß. Dadurch entsteht neuer Druck, denn ihr fällt gar nichts ein. June gerät immer tiefer in die Abwärtsspirale und die Erzählung wird immer temporeicher. Irgendwann fühlt sie sich sogar von Athinas Lius Geist verfolgt bis hin zu Wahnvorstellungen.

Zum ersten Mal seit ich das Manuskript abgegeben habe, überkommt mich ein tiefes Schamgefühl. Das ist nicht meine Geschichte, mein Erbe. Das ist nicht meine Community. Ich bin eine Außenseiterin, die sich ihre Liebe erschwindelt. Athena sollte hier sitzen, mit diesen Leuten lachen, Bücher signieren und sich die Geschichte ihrer Ältesten anhören. (Auszug Seite 146)

Ist es den Hype wert?
Yellowface ist eine klug beobachtete Satire auf den Literaturbetrieb aber auch ein rasanter, dynamischer sowie kluger Verlagswelt-Thriller, mit einigen Momenten witziger Überzeichnung, den ich kaum aus der Hand legen konnte. Kuang schreibt in klaren, schnörkellosen Sätzen, pointiert, scharfzüngig und in umgangssprachlichem Ton. Die aktuellen Themen und Debatten, Alltagsrassismus in der elitären Verlagswelt, Aneignung fremder Werke werden noch um die ethische Komponente erweitert und es geht auch um kulturelle Aneignung im Buchmarkt. Dabei fand ich die Einblicke in die Buchindustrie hochinteressant, zum Beispiel den Einsatz von Sensitivity Readern, um problematische Darstellungen anderer Kulturen zu vermeiden. Oder die Mechanismen und für mich besonders spannend die Rezensionskultur in den Sozialen Medien. Die Ich-Perspektive funktioniert dabei richtig gut, denn anhand von June fühlen wir mit, wie sich Misserfolg aber auch Einsamkeit in dieser hart umkämpften Branche anfühlt. Ganz klassisch ist June dabei eine unzuverlässige Erzählerin, die sich und uns was vormacht. Sie bereichert sich an einer fremden Geschichte und trotz einiger Gewissensbisse wird sie nicht müde, die Realität mit selbstgerechten Rechtfertigungen zu verdrehen oder eiskalt Athenas trauernde Mutter zu belügen. Wenn June nach Chinatown fährt mit Pfefferspray in der Tasche wird klar, dass die vermeintlich liberale Mittelschicht vielleicht doch nicht so reflektiert ist, wie sie denkt. Aber auch die glorifizierte Athena Liu entpuppt sich als doch nicht so heilig. Auch sie scheute sich nicht vor rücksichtslosen Methoden bei der Beschaffung von schriftstellerischem Material zurück. Im Mittelteil wiederholen sich einige Motive, bevor es zum Schluss wieder temporeicher mit ganz traditionellen Spannungselementen wird.

Autorin
Rebecca F. Kuang ist der aktuelle Shooting Star der amerikanischen Buchlandschaft. In ihrem aktuellen Roman „Yellowface“ verlässt die erfolgreiche Fantasy-Autorin ihren bisherigen Bereich und kombiniert unterschiedliche Genres. Ein kluger Schachzug, dass die Amerikanerin mit chinesischen Wurzeln, die Geschichte aus einer weißen Perspektive erzählen lässt.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Yellowface| Erschienen am 29.02.2024 im Eichborn Verlag
ISBN 978-3-84790-162-4
384 Seiten | 24,- €
Originaltitel: Yellowface | Übersetzung aus dem Englischen von Jasmin Humburg
Bibliografische Angaben & Leseprobe