S.A. Cosby | Der letzte Wolf

S.A. Cosby | Der letzte Wolf

Kleinstädte sind wie die Menschen, die sie bevölkern. Beide sind voller Geheimnisse. Geheimnisse des Fleisches, Geheimnisse des Bluts. Versteckte Schwüre und geflüsterte Versprechen, die sich so schnell in Lügen verwandeln wie Milch in der heißen Sommersonne sauer wird. (S. 215)

Titus Crown ist der erste schwarze Sheriff der Geschichte in Charon County, Virginia, und erlebt den wohl schwierigsten Tag seiner noch jungen Amtszeit, als ein junger schwarzer Mann mit einem Gewehr in die High School stürmt und dort einen beliebten Lehrer erschießt. Auf dem Weg nach draußen wird er von der Polizei umstellt. Er weigert sich, seine Waffe abzulegen, macht noch einige seltsame Andeutungen und wird dann nach einer verdächtigen Bewegung von den Beamten erschossen. Die Gemeinde ist bestürzt und trauert um den Lehrer Mr. Spearman. Doch von den Andeutungen des Täters aufgeschreckt, lässt Titus das Haus des Lehrers durchsuchen und stellt fest, dass der Alptraum noch weiter geht.

Offenbar war der Lehrer und auch der junge Schwarze in einen Abgrund von Kinderpornographie, Missbrauch und Mord verwickelt. Die Polizei findet zudem Videomaterial, auf denen eine dritte Person zu sehen – mit einer Wolfsmaske. Außerhalb der Stadt auf einer Lichtung unter einer Trauerweide findet Titus schließlich ein Massengrab mit mehreren verscharrten Leichen der Missbrauchsopfer. Er will nun unbedingt den noch frei herumlaufenden Serienmörder fassen – doch der beginnt bereits damit, rücksichtslos seine Spuren weiter zu verwischen.

Autor S.A. Cosby ist seit spätestens nach Erscheinen seines zweiten Romans „Blacktop Wasteland“ im Jahr 2020 in die obere Riege der amerikanischen Kriminalautoren aufgestiegen. Cosby ist selbst als Afro-Amerikaner im ländlichen Virginia unter ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen und musste sich vor dem späten Durchbruch mit zahlreichen verschiedenen Jobs über Wasser halten. Die nach wie vor bestehende (soziale) Segregation zwischen weißem und schwarzem Amerika und der latente Rassismus bildet einen zentralen Kern in seinen Romanen. In „Der letzte Wolf“ wird dies in der Hauptfigur Titus Crown angelegt.

Titus ist in Charon County aufgewachsen, war dann einige Zeit beim FBI. Er ist nun in der Lebensmitte wieder zurückgekehrt und lebt wieder in seinem Elternhaus mit seinem Vater zusammen. Der krankheitsbedingte Tod der Mutter, als Titus erst 13 war, hat tiefe Spuren bei ihm, seinem jüngeren Bruder und seinem Vater hinterlassen. Sein Vater versank in Trauer, er musste sich um seinen Bruder kümmern. Als Titus nun zurückkommt, bewirbt er sich um das Sheriffsamt, weil der alteingesessene, rassistische Sheriff seinen Hut nehmen muss, und unerwartet wird Titus erster schwarzer Sheriff des Countys. Dieses ist allerdings ein Spiegelbild des heutigen ländlichen Amerika: Ein hoher Anteil an schwarzer Bevölkerung, die immer noch nicht gleichberechtigt partizipiert, ein großer Teil der Weißen ist nach wie vor arg konservativ, einige sogar ewiggestrig und wieder mit der Konförderalisten-Romantik kokettierend. Zudem ein altbekanntes Netzwerk aus Beziehungen, Gefälligkeiten, Geheimnissen und Abhängigkeiten.

“ […] Diese Idee, dass du alles retten musst – das ist Hochmut. Und du weißt ja, was man über Hochmut und Fall sagt. Noch mal: Du schuldest niemandem etwas. […]“
Titus nahm das leere Weckglas und beobachtete, wie das Licht der Außenlampe über seine Oberfläche tanzte. „Und was, wenn mein Versuch, die Welt zusammenzuhalten, genau das ist, was verhindert, dass ich zerbreche?“ (S.319)

Die Darstellung dieser Verhältnisse und die Zerrissenheit der Hauptfigur sind die großen Stärken dieses Romans. Titus Crown ist ein ehrbarer Mann, der alles richten und Neutralität wahren will, der allerdings zerrieben wird zwischen den Erwartungen der schwarzen Community, den Anfeindungen der Rassisten, Einmischungen seitens des Gemeinderats und nicht zuletzt seiner eigenen Unruhe, über den Tod seiner Mutter und einer Schuld, die er in seinem letzten Einsatz für das FBI auf sich geladen hat. Cosby zeichnet ein beeindruckendes Porträt einer zerrissenen Kleinstadt und eines Sheriffs, der sich das Wohlergehen der Gemeinde auf seinen Schultern aufbürdet. Er verbindet das zudem mit einer brutalen, gleichwohl spannenden Jagd auf einen Serienmörder, dem er aber – aus meiner Sicht zurecht – nicht zu viel psychologischer Aufmerksamkeit widmet. Alles in allem ein sehr starker, moderner und gesellschaftlich-politisch relevanter amerikanischer Kriminalroman.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Der letzte Wolf | Erschienen am 01.11.2023 im Ars Vivendi Verlag
ISBN 978-3-7472-0518-1
384 Seiten | 24,- €
Originaltitel: All The Sinners Bleed | Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Jürgen Bürger
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Gunnars Rezension zu „Blacktop Wasteland“

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