Kategorie: gesellschaftskritischer Krimi

Frank Goyke | Saat der Wut

Frank Goyke | Saat der Wut

Auf dem Parkfriedhof in Berlin-Marzahn wird die Leiche von Marija Subotić aufgefunden. Die junge Frau war Romni und betätigte sich politisch und aktivitisch. Sowohl die Gedenksteine auf dem Friedhof als auch die Gedenkstätte in Andenken an ein ehemaliges „Zigeunerlager“ als KZ-Außenstätte vor dem Friedhof sind mit Hakenkreuzen verschmiert. Für das Kripo-Team um Jasper Ackermann ein ernst zu nehmender Ermittlungsansatz, doch nicht der einzige, denn als Aktivistin hat die Tote sich einige Personen zum Gegner gemacht.

„Ich habe mich näher mit der Geschädigten befasst und festgestellt, dass von ihr 23 Anzeigen gegen unbekannt bei der Berliner Polizei vorliegen“, sagte Täschner […] „23 Anzeigen wegen Volksverhetzung, Beleidigung, übler Nachrede oder Verleumdung und auch Straftaten nach §241 StGB.“
„Bedrohungen also auch.“ Ackermann beugte sich vor. „Was für Drohungen?“
„Morddrohungen, aber auch Drohungen mit Taten, die gegen die sexuelle Selbstbestimmung gerichtet sind. Eine Kostprobe gefällig?“ (Auszug S. 67)

Marija Subotić war sehr aktiv als Antifaschistin und als Aktivistin für die Rechte von Sinti und Roma, hat auch zur Geschichte des Porajmos, des Genozids an den Sinti und Roma während der NS-Zeit, recherchiert und Material dokumentiert. Dafür wurde sie an vielen Stellen angefeindet. Zudem hat sie sich auch mit der eigenen Familiengeschichte beschäftigt, ist dafür nach Serbien gereist und hat dort Unerwartetes recherchiert. Letztlich war sie auch Teil von parteiinternen Auseinandersetzung bei der Partei „Die Linke“. Somit gibt es einen extrem breiten Ermittlungsansatz für die ermittenden Beamten.

Frank Goyke, seit über dreißig Jahren als Krimiautor aktiv, aktuell betreibt er übrigens gemeinsam mit Buchhändlerin Cornelia Hüppe auch einen Krimi-Podcast („Mit Knarre, Koks und kalter Platte“), setzt in diesem Roman großen Wert auf eine akkurate Beschreibung der Ermittlungsarbeit. Jasper Ackermann und seine Kollegen müssen eine Vielzahl von Indizien durchforsten, so einige Zeugen befragen und intensive Recherchen machen. Dennoch gelingt es dem Autor, einen gewissen Spannungsbogen in diesem klassischen Whodunnit zu erhalten.

Die gesellschaftspolitische Komponente ist sicherlich das Interessanteste an diesem Krimi. Das zentrale Thema, der Genozid an den Sinti und Roma und die heutige Situation dieser Minderheiten, ist ansprechend wiedergegeben. Noch Luft nach oben hat für mich das Ermittlerteam, die Unterschiedlichkeit der Figuren wirkten etwas gewollt und auch die Dialoge fühlten sich manchmal etwas verkrampft an. Und die Auflösung am Ende war für mich zu risikolos, ohne hier zu spoilern, da hatte ich auf eine brisantere Lösung gehofft. Alles in allem aber ein solider, gesellschaftlich-politisch relevanter Krimi.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Saat der Wut | Erschienen am 31.08.2023 im Jaron Verlag
ISBN 978-3-89773-892-8
224 Seiten | 15,- €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Liza Cody | Die Schnellimbissdetektivin

Liza Cody | Die Schnellimbissdetektivin

Beschatte ich einen verlogenen, treulosen Saftsack für eine verunsicherte, tränenblinde Klientin, oder arbeite ich für eine, die seit Ewigkeiten weiß, dass ihre Ehe eine rottende Leiche ist, aber den verlogenen, treulosen Saftsack drankriegen will, um das Haus und den Löwenanteil des gemeinschaftlichen Eigentums zu behalten? (Auszug Seite 5)

Hannah Abram ist fürs Stillsitzen nicht gemacht. Schlecht für die ehemalige Polizistin der Metropolitan Police, die sich neben ihrer Tätigkeit in einer Imbissbude mit kleinen privaten Ermittlungen durchschlägt. Und da gehören öde Überwachungsstunden bei der Beschattung untreuer Ehemänner eben dazu. Es sind kleine, für die Polizei zu belanglose Fälle, die Hannah lösen muss. Da gibt es den Kleingarten-Verein, dem das Biogemüse geklaut wird, für einen attraktiven Gentleman sucht sie die weggelaufene Ehefrau und für einen jungen Mann mit Zwangsstörungen macht sie sich auf die Suche nach seiner Stiefschwester, die in dubiose Machenschaften verwickelt zu sein scheint. Und dann ist da noch der Straßenjunge BZee, den sie heimlich durchfüttert und ihn weggelaufene Hunde und geklaute Fahrräder wiederfinden lässt, wobei wiederfinden ein dehnbarer Begriff ist.

Als ein höflicher Senior sie in einem Waschsalon anspricht, weil ihm nächtlich Müll vor die Tür gekippt wird, nimmt Hannah den Auftrag an und gerät beim nächtlichen Observieren seiner Wohnung in das Visier einer eifersüchtigen Nebenbuhlerin. Der alte Herr hat ihr einiges verschwiegen, unter anderem, dass er ein bekannter Rockstar war und die hartnäckige Verehrerin beginnt, Hannah zu stalken und öffentlich vor der Imbissbude wüst zu beschimpfen. Kurz darauf wird die ältere Dame ermordet im Volkspark nahe der Imbissbude aufgefunden. Für die Aufklärung ist die Polizistin Chloe Mwezi zuständig und hat es als weibliche Vorgesetzte bei der MET ebenso schwer wie einst Hannah. Auch sie hatte unter Sexismus ihrer männlichen Kollegen zu leiden und war wegen einer Wutatacke gegen ihren Chef in Ungnade gefallen.
Die Endzwanzigerin lebt nun in einer kleinen Dachkammer bei zwei strengen, veganen Lehrerinnen (Rauchen, Trinken, Fleisch und Männer verboten) und kämpft sich mühsam von Miete zu Miete. Im Sandwich Shack am Volkspark schuftet sie hart für einen Hungerlohn und darf ab und zu das Büro hinter der Küche für ihren Detektiv-Job benutzen. Ihr Chef Digby ist ein „erzbigotter Ausbeuter“ und menschenverachtender Egomane. Dabei brauchen die beiden einander, Hannah den Job und Digby sie als zuverlässige Kraft. Digby wird sehr überspitzt dargestellt, aber die Wortgefechte der beiden gehören zu den Höhepunkten der Lektüre.

Normalerweise treffe ich Klienten außerhalb der Arbeitszeit im Büro hinter der Küche. Aber ich kann mit Digby nicht über Bürozeiten verhandeln, nachdem ich seine Nase und seine Hämorrhoiden im selben Satz verwurstet habe. (Auszug Seite 8 und 9)

Die Schnellimbiss-Detektivin Hannah Abraham ist clever und profitiert von ihren Erfahrungen als Ermittlerin, auch wenn es ihr manchmal an Menschenkenntnis fehlt und sie sich von charmanten Klienten einwickeln lässt. Auf ihre Mitmenschen wirkt die Ich-Erzählerin manchmal schroff, spröde und auch unfreundlich, hat aber das Herz auf dem rechten Fleck. Sie macht sich viele Gedanken um BZee, der noch ein Kind ist, jedoch in die Kleinkriminalität abzurutschen droht. Er braucht eindeutig Fürsorge, Hannah kann sich aber nicht dazu durchringen, ihn den Gerichten zu überlassen. Von ihrem Exfreund wird sie immer noch terrorisiert. Nach und nach erfährt man weitere Gründe für ihre Wut, die sie gerne an ihre Kunden und besonders an Digby rauslässt.

Liza Cody, geboren 1944 in London erzählt von den Nöten und Sorgen der kleinen Leute. Und dabei unterhält sie ganz großartig mit trockenem, schwarzem Humor und schiebt fast beiläufig und ohne viel Theatralik sozialkritische Themen ein. Sie beschreibt London nach Brexit und Covid als eine Metropole, die unter Klimaproblemen leidet, in die Wohlfahrtsläden die Geschäftsstraßen beherrschen und die Heldin spürt, dass Armut und Mangel sie umkreist. Dabei geht es immer um die unteren Klassen und Figuren am Rande der Gesellschaft, auf die die britische Autorin mit viel Empathie guckt. Und im Besonderen auf Frauen, die von Männern schikaniert werden. Die vielen authentischen Charaktere, unterschiedlichen Fälle sowie der schräge Plot ergeben einen wilden Ritt, nichtsdestotrotz ist ein amüsanter, unterhaltsamer und nie oberflächlicher Kriminalroman entstanden. Dass sich der Kriminalroman so flüssig weglesen lässt, ist sicher auch ein Verdienst der stimmigen Übersetzung durch Iris Konopik.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Die Schnellimbissdetektivin | Erschienen am 27. Mai 2024 bei Ariadne im Argument Verlag
ISBN 978-3-867-54275-3
352 Seiten | 18.- Euro
Originaltitel: The Short-Order Detective | Übersetzung: Iris Konopik
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Weitere Rezensionen zu Romanen von Liza Cody auf Kaliber.17

Joe Thomas | Brazilian Psycho

Joe Thomas | Brazilian Psycho

„Wenn die Armen die Rechten wählen“, sagt Franginho, „dann geht alles den Bach runter.“ (Auszug S. 599)

Diese pointierte politische Analyse legt Autor Joe Thomas einem kleinen Favela-Gangster in den Mund und fasst damit die Situation Brasiliens zu Beginn der Präsidentschaft Jair Bolsonaros treffend zusammen, bringt aber auch eine allgemeine Aussage, die auch auf andere Länder durchaus zutreffend ist. Doch zurück zu Brasilien. Ein wirtschaftlich aufstrebendes Land und Teil der BRICS-Staaten, die inzwischen ein ernstzunehmendes Gegengewicht zu den etablierten G7-Staaten bilden. Allerdings auch ein Land mit großem Wohlstandsgefälle, in dem nur langsam Erfolge gegen die immer noch krasse Armut gefeiert werden und diese Erfolge von erheblicher Korruption, Bereicherung und Kriminalität überschattet werden.

Hiervon erzählt der britische Autor Joe Thomas am Beispiel der südbrasilianischen Metropole São Paulo, in der er zehn Jahre gelebt hat. „Brazilian Psycho“ ist dabei nur der vierte Teil eines São Paulo-Quartetts, von denen die anderen Teile noch nicht in deutscher Übersetzung erschienen sind. Er überspannt mit seinem Roman dabei einen Zeitraum von 16 Jahren, beginnend mit der 1. Amtszeit Lula da Silvas Anfang 2003 und der Amtszeit Dilma Rousseffs ab 2011 (beide aus der Arbeiterpartei) bis hin zur Amtsübernahme der ultrarechten Jair Bolsonaro im Januar 2018.

Joe Thomas wählt eine multiperspektivische Erzählweise und begleitet verschiedene Personen durch die Zeit. Es beginnt mit einem Mordfall, der in gewisser Weise die Klammer der Geschichte bildet. Der englische Direktor einer Privatschule wird ermordet in seinem Haus aufgefunden. Die Kommissare Mario Leme und Ricardo Lisboa übernehmen den Fall und werden von ihrem Chef direkt unter Druck gesetzt, schnell einen Täter zu präsentieren. Mehr oder weniger gegen den Willen der Kommissare wird über die Hausangestellte eine Verbindung zum Favela Paraisópolis gezogen und ein Täter festgenommen, der die Tat auf sich nimmt und verurteilt wird. Dieser Mann ist der Vater von Rafa, eines jungen Heranwachsenden, der für die kriminellen Bosse in der Favela erste Aufträge übernimmt und über die Jahre in der Organisation aufsteigt, sich allerdings mehr um die mehr oder weniger legalen Geschäftszweige kümmert. Ebenfalls im Personenregister: Renata, eine Anwältin, die in der Favela ein Rechtshilfebüro eröffnet oder Carlos, ein Militärpolizist mit Verbindungen in die Favela oder Ray Marx, Berater und politischer Drahtzieher einer einflussreichen Finanzfirma und viele mehr.

Paulo Maluf: ein ehemaliger Bürgermeister São Paulos. Sie haben einen Ausdruck für den alten Maluf geprägt: Roba mais faz.
Er wirtschaftet in die eigene Tasche, aber er bringt Dinge voran.
Leute dieses Schlags hat São Paulo schon immer gewählt.
Es ist viel wichtiger, dass die Stadt funktioniert – der Müll abgeholt wird, die U-Bahn fährt, die Straßen repariert werden -, als sich über Schmiergeldzahlungen und Erpressungen im Rathaus aufzuregen. (Auszug S.34-35)

So gibt es ein umfangreiches Personal und viele Perspektivwechsel und auch Zeitsprünge, doch es geht im Grunde um einen Fokus auf das (Nicht-)Funktionieren des brasilianischen Staates und der Gesellschaft. Der wirtschaftliche Aufschwung lässt in der Bevölkerung Hoffnung keimen und tatsächlich lässt sich ein wenig Aufbruchsstimmung nicht leugnen. Doch letztlich wollen viele profitieren, neben der politischen und unternehmerischen Oberschicht auch die kriminellen Banden der Favelas. So gibt es unheilvolle Absprachen zwischen Politik, Polizei und organisierter Kriminalität, Korruption, Veruntreuung von staatlichen Mitteln, Abschöpfung von Mitteln aus Sozial- und Wohnungsbauprogrammen – und das alles während der Amtszeiten der linken Regierungen von Lula und Dilma Rousseff. Und zum Ende hin tauchen dann plötzlich die ganz dunklen Mächte um einen Jair Bolsonaro auf, der das Ganze noch mit einer Politik des Hasses, des Rassismus und der Gewalt krönt, vor allem im Hinblick auf Frauen und die queere Community.

Autor Joe Thomas hat sich einiges vorgenommen mit diesem Roman und er kann für mich auch einiges einlösen. Das Panorama als lokale Perspektive São Paulos ist interessant gewählt, die Personen sind nicht zu plakativ schwarz und weiß. Es wird nicht zu viel doziert, sondern der Leser muss sich in den Feinheiten brasilianischer Politik und Korruption auch etwas selbst zurechtfinden, was teilweise auch etwas mühsam ist. Auch eine gewisse Redundanz der Ereignisse zum Ende hin gab es für meinen Geschmack, sodass es sich doch etwas zog. So erreicht Joe Thomas letztlich nicht ganz das Niveau seiner auf dem Buchumschlag erwähnten berühmten Kollegen Ellroy und Winslow, die der Autor ganz sicher gut gelesen hat. Dennoch legt Thomas einen über weite Strecken fesselnden und spannenden Wälzer vor, der einen besonderen Fokus auf die brasilianische Politik und Geselllschaft der letzten zwanzig Jahre legt.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Brazilian Psycho | Erschienen am 14.02.2024 im btb Verlag
ISBN 978-3-442-77386-2
638 Seiten | 18,- €
Originaltitel: Brazilian Psycho | Übersetzung aus dem Englischen von Alexander Wagner
Bibliografische Angaben & Leseprobe

S.A. Cosby | Der letzte Wolf

S.A. Cosby | Der letzte Wolf

Kleinstädte sind wie die Menschen, die sie bevölkern. Beide sind voller Geheimnisse. Geheimnisse des Fleisches, Geheimnisse des Bluts. Versteckte Schwüre und geflüsterte Versprechen, die sich so schnell in Lügen verwandeln wie Milch in der heißen Sommersonne sauer wird. (S. 215)

Titus Crown ist der erste schwarze Sheriff der Geschichte in Charon County, Virginia, und erlebt den wohl schwierigsten Tag seiner noch jungen Amtszeit, als ein junger schwarzer Mann mit einem Gewehr in die High School stürmt und dort einen beliebten Lehrer erschießt. Auf dem Weg nach draußen wird er von der Polizei umstellt. Er weigert sich, seine Waffe abzulegen, macht noch einige seltsame Andeutungen und wird dann nach einer verdächtigen Bewegung von den Beamten erschossen. Die Gemeinde ist bestürzt und trauert um den Lehrer Mr. Spearman. Doch von den Andeutungen des Täters aufgeschreckt, lässt Titus das Haus des Lehrers durchsuchen und stellt fest, dass der Alptraum noch weiter geht.

Offenbar war der Lehrer und auch der junge Schwarze in einen Abgrund von Kinderpornographie, Missbrauch und Mord verwickelt. Die Polizei findet zudem Videomaterial, auf denen eine dritte Person zu sehen – mit einer Wolfsmaske. Außerhalb der Stadt auf einer Lichtung unter einer Trauerweide findet Titus schließlich ein Massengrab mit mehreren verscharrten Leichen der Missbrauchsopfer. Er will nun unbedingt den noch frei herumlaufenden Serienmörder fassen – doch der beginnt bereits damit, rücksichtslos seine Spuren weiter zu verwischen.

Autor S.A. Cosby ist seit spätestens nach Erscheinen seines zweiten Romans „Blacktop Wasteland“ im Jahr 2020 in die obere Riege der amerikanischen Kriminalautoren aufgestiegen. Cosby ist selbst als Afro-Amerikaner im ländlichen Virginia unter ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen und musste sich vor dem späten Durchbruch mit zahlreichen verschiedenen Jobs über Wasser halten. Die nach wie vor bestehende (soziale) Segregation zwischen weißem und schwarzem Amerika und der latente Rassismus bildet einen zentralen Kern in seinen Romanen. In „Der letzte Wolf“ wird dies in der Hauptfigur Titus Crown angelegt.

Titus ist in Charon County aufgewachsen, war dann einige Zeit beim FBI. Er ist nun in der Lebensmitte wieder zurückgekehrt und lebt wieder in seinem Elternhaus mit seinem Vater zusammen. Der krankheitsbedingte Tod der Mutter, als Titus erst 13 war, hat tiefe Spuren bei ihm, seinem jüngeren Bruder und seinem Vater hinterlassen. Sein Vater versank in Trauer, er musste sich um seinen Bruder kümmern. Als Titus nun zurückkommt, bewirbt er sich um das Sheriffsamt, weil der alteingesessene, rassistische Sheriff seinen Hut nehmen muss, und unerwartet wird Titus erster schwarzer Sheriff des Countys. Dieses ist allerdings ein Spiegelbild des heutigen ländlichen Amerika: Ein hoher Anteil an schwarzer Bevölkerung, die immer noch nicht gleichberechtigt partizipiert, ein großer Teil der Weißen ist nach wie vor arg konservativ, einige sogar ewiggestrig und wieder mit der Konförderalisten-Romantik kokettierend. Zudem ein altbekanntes Netzwerk aus Beziehungen, Gefälligkeiten, Geheimnissen und Abhängigkeiten.

“ […] Diese Idee, dass du alles retten musst – das ist Hochmut. Und du weißt ja, was man über Hochmut und Fall sagt. Noch mal: Du schuldest niemandem etwas. […]“
Titus nahm das leere Weckglas und beobachtete, wie das Licht der Außenlampe über seine Oberfläche tanzte. „Und was, wenn mein Versuch, die Welt zusammenzuhalten, genau das ist, was verhindert, dass ich zerbreche?“ (S.319)

Die Darstellung dieser Verhältnisse und die Zerrissenheit der Hauptfigur sind die großen Stärken dieses Romans. Titus Crown ist ein ehrbarer Mann, der alles richten und Neutralität wahren will, der allerdings zerrieben wird zwischen den Erwartungen der schwarzen Community, den Anfeindungen der Rassisten, Einmischungen seitens des Gemeinderats und nicht zuletzt seiner eigenen Unruhe, über den Tod seiner Mutter und einer Schuld, die er in seinem letzten Einsatz für das FBI auf sich geladen hat. Cosby zeichnet ein beeindruckendes Porträt einer zerrissenen Kleinstadt und eines Sheriffs, der sich das Wohlergehen der Gemeinde auf seinen Schultern aufbürdet. Er verbindet das zudem mit einer brutalen, gleichwohl spannenden Jagd auf einen Serienmörder, dem er aber – aus meiner Sicht zurecht – nicht zu viel psychologischer Aufmerksamkeit widmet. Alles in allem ein sehr starker, moderner und gesellschaftlich-politisch relevanter amerikanischer Kriminalroman.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Der letzte Wolf | Erschienen am 01.11.2023 im Ars Vivendi Verlag
ISBN 978-3-7472-0518-1
384 Seiten | 24,- €
Originaltitel: All The Sinners Bleed | Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Jürgen Bürger
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Gunnars Rezension zu „Blacktop Wasteland“

Ellen Dunne | Unfollow Stella (Band 4)

Ellen Dunne | Unfollow Stella (Band 4)

Die Münchner Kommissarin Patsy Logan scheint endgültig in ihrer zweiten Heimat Dublin gestrandet. Nach diversen Problemen sowohl auf ihrer Dienststelle bei der Kripo als auch mit ihrem Mann war Patsy zu ihrer Cousine nach Dublin gefahren, um dort den Kopf frei zu bekommen. Und um dort gleich mal in Ermittlungen verwickelt zu werden (siehe Band 3 „Boomtown Blues“). Nun hat sich die Pandemie auch in Irland breit gemacht und die Probleme scheinen sich nicht aufzulösen, vielmehr ist die Ehe am Ende und eine Rückkehr zur Münchner Kripo scheint von ihrem ehemaligen kollegialen Freund Stani, der nun die Dienststelle leitet, nicht mehr gewünscht.

Somit spricht für Patsy nichts dagegen, erneut vom österreichischen Attaché Sam Feurstein bei einer unangehnehmen Angelegenheit hineingezoge zu werden. Die junge Österreicherin Stella Schatz lebt seit einiger Zeit in Dublin und wird von ihrer Familie seit kurzem vermisst. Stella war vor allem mit ihrem Bruder, der in Singapur lebt, in regelmäßigem Austausch und auch sonst in Social Media relativ aktiv. Doch seit einiger Zeit herrscht totale Funkstille. Feurstein möchte das Verschwinden gerne lösen, ohne offiziell die irische Polizei um Mithilfe bitten zu müssen.

Stellas Spur führt zu ihrem letzten Arbeitgeber, einer Firma, die für einige großen Social Media-Player den Content nach anstößigem Material durchforstet und solches dann entfernt. Ein Knochenjob, den Stella jedoch offenbar zur Zufriedenheit aller erledigt hat. Der Arbeitgeber tut auch relativ harmlos, behauptet, Stella hätte Urlaub genommen und würde schon wieder auftauchen. Doch Patsy spürt, das da etwas nicht stimmt, verbeißt sich in den Fall und ist sich sicher, dass Stellas Verschwinden irgendetwas mit ihrer Arbeit in den dunklen Sümpfen des Netzes zu tun hat.

Sie quietschte wehleidig beim Öffnen. Elektrische Zahnbürste, Stückseifen, ein Kulturbeutel voll veganer Schminksachen, Gesichtscreme für die Haut ab 30. Ausnahmslos Marken aus deutschen Drogeriemarktketten. Ich ertappte mich bei einem Lächeln. Ja, die vermisste ich auch.
Apropos. Nirgendwo in diesem Zimmer schien etwas zu fehlen. Alle Schubladen quollen über mit Sachen. Unter dem Bett sammelte ein großer Koffer Staub, daneben noch ein kleiner.
Als hätte sich Stella Schatz in Luft aufgelöst. (Auszug S.60)

Mit dem dritten Band „Bowntown Blues“ hatte die österreichische Autorin Ellen Dunne, die seit langem in Irland lebt, der Reihe um Patsy Logan nochmal einen richtigen Schub verpasst, der auch prompt mit den „Glauser“ 2023 für den besten Roman belohnt wurde. Und Ellen Dunne kann durchaus daran anknüpfen, stellt ihre von einer Art Midlife-Crisis gebeutelte Kommissarin als Ich-Erzählerin in den Mittelpunkt, die allerdings lakonisch-ironisch-schlagfertig ihren und den Zustand ihrer Umgebung kommentiert. Außerdem traut die Autorin sich, der ungeschriebenen Krimiregel zu trotzen, dem Leser möglichst schnell eine Leiche zu präsentieren. Allzu lange bleibt der Leser im Ungewissen, ob Stella Schatz wirklich verschwunden ist und ob überhaupt hier irgendwo ein Verbrechen vorliegt.

Doch dass hier etwas im Argen liegt, wird durchaus klar gemacht. Zentrales Thema ist der ungebremste Content-Overkill in diversen sozialen Netzwerken und der rettungslos verzweifelte Versuch, pornografisches, gewalttätiges, volksverhetzendes oder allgemein für die Werbekunden anstößiges Material von den Seiten zu entfernen. Hierzu hat sich ein gar nicht mehr so kleines und lukratives Gewerbe etabliert, dass allerdings relativ präkere Arbeitsbedingungen geschaffen hat und die Mitarbeiter permanent mehr als verstörendem Content aussetzt. Was das mit den Personen macht, die natürlich keine oder nur unzureichende psychologische Betreuung erfahren, das ist eine Erkenntnis aus diesem Krimi. Somit bleibt auch „Unfollow Stella“ dem guten Weg der Reihe treu und sei allen Lesern empfohlen, die neben einer interessanten Hauptfigur mit allerlei Blessuren im Gepäck auch von gesellschaftlich relevanten Themen in ihrem Krimi lesen wollen.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Unfollow Stella | Erschienen am 30.09.2023 im Haymon Verlag
ISBN 978-3-7009-7965-5
312 Seiten | 13,95 €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Weitere Rezensionen zu den Romanen von Ellen Dunne