Kategorie: gesellschaftskritischer Krimi

S.A. Cosby | Der letzte Wolf

S.A. Cosby | Der letzte Wolf

Kleinstädte sind wie die Menschen, die sie bevölkern. Beide sind voller Geheimnisse. Geheimnisse des Fleisches, Geheimnisse des Bluts. Versteckte Schwüre und geflüsterte Versprechen, die sich so schnell in Lügen verwandeln wie Milch in der heißen Sommersonne sauer wird. (S. 215)

Titus Crown ist der erste schwarze Sheriff der Geschichte in Charon County, Virginia, und erlebt den wohl schwierigsten Tag seiner noch jungen Amtszeit, als ein junger schwarzer Mann mit einem Gewehr in die High School stürmt und dort einen beliebten Lehrer erschießt. Auf dem Weg nach draußen wird er von der Polizei umstellt. Er weigert sich, seine Waffe abzulegen, macht noch einige seltsame Andeutungen und wird dann nach einer verdächtigen Bewegung von den Beamten erschossen. Die Gemeinde ist bestürzt und trauert um den Lehrer Mr. Spearman. Doch von den Andeutungen des Täters aufgeschreckt, lässt Titus das Haus des Lehrers durchsuchen und stellt fest, dass der Alptraum noch weiter geht.

Offenbar war der Lehrer und auch der junge Schwarze in einen Abgrund von Kinderpornographie, Missbrauch und Mord verwickelt. Die Polizei findet zudem Videomaterial, auf denen eine dritte Person zu sehen – mit einer Wolfsmaske. Außerhalb der Stadt auf einer Lichtung unter einer Trauerweide findet Titus schließlich ein Massengrab mit mehreren verscharrten Leichen der Missbrauchsopfer. Er will nun unbedingt den noch frei herumlaufenden Serienmörder fassen – doch der beginnt bereits damit, rücksichtslos seine Spuren weiter zu verwischen.

Autor S.A. Cosby ist seit spätestens nach Erscheinen seines zweiten Romans „Blacktop Wasteland“ im Jahr 2020 in die obere Riege der amerikanischen Kriminalautoren aufgestiegen. Cosby ist selbst als Afro-Amerikaner im ländlichen Virginia unter ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen und musste sich vor dem späten Durchbruch mit zahlreichen verschiedenen Jobs über Wasser halten. Die nach wie vor bestehende (soziale) Segregation zwischen weißem und schwarzem Amerika und der latente Rassismus bildet einen zentralen Kern in seinen Romanen. In „Der letzte Wolf“ wird dies in der Hauptfigur Titus Crown angelegt.

Titus ist in Charon County aufgewachsen, war dann einige Zeit beim FBI. Er ist nun in der Lebensmitte wieder zurückgekehrt und lebt wieder in seinem Elternhaus mit seinem Vater zusammen. Der krankheitsbedingte Tod der Mutter, als Titus erst 13 war, hat tiefe Spuren bei ihm, seinem jüngeren Bruder und seinem Vater hinterlassen. Sein Vater versank in Trauer, er musste sich um seinen Bruder kümmern. Als Titus nun zurückkommt, bewirbt er sich um das Sheriffsamt, weil der alteingesessene, rassistische Sheriff seinen Hut nehmen muss, und unerwartet wird Titus erster schwarzer Sheriff des Countys. Dieses ist allerdings ein Spiegelbild des heutigen ländlichen Amerika: Ein hoher Anteil an schwarzer Bevölkerung, die immer noch nicht gleichberechtigt partizipiert, ein großer Teil der Weißen ist nach wie vor arg konservativ, einige sogar ewiggestrig und wieder mit der Konförderalisten-Romantik kokettierend. Zudem ein altbekanntes Netzwerk aus Beziehungen, Gefälligkeiten, Geheimnissen und Abhängigkeiten.

“ […] Diese Idee, dass du alles retten musst – das ist Hochmut. Und du weißt ja, was man über Hochmut und Fall sagt. Noch mal: Du schuldest niemandem etwas. […]“
Titus nahm das leere Weckglas und beobachtete, wie das Licht der Außenlampe über seine Oberfläche tanzte. „Und was, wenn mein Versuch, die Welt zusammenzuhalten, genau das ist, was verhindert, dass ich zerbreche?“ (S.319)

Die Darstellung dieser Verhältnisse und die Zerrissenheit der Hauptfigur sind die großen Stärken dieses Romans. Titus Crown ist ein ehrbarer Mann, der alles richten und Neutralität wahren will, der allerdings zerrieben wird zwischen den Erwartungen der schwarzen Community, den Anfeindungen der Rassisten, Einmischungen seitens des Gemeinderats und nicht zuletzt seiner eigenen Unruhe, über den Tod seiner Mutter und einer Schuld, die er in seinem letzten Einsatz für das FBI auf sich geladen hat. Cosby zeichnet ein beeindruckendes Porträt einer zerrissenen Kleinstadt und eines Sheriffs, der sich das Wohlergehen der Gemeinde auf seinen Schultern aufbürdet. Er verbindet das zudem mit einer brutalen, gleichwohl spannenden Jagd auf einen Serienmörder, dem er aber – aus meiner Sicht zurecht – nicht zu viel psychologischer Aufmerksamkeit widmet. Alles in allem ein sehr starker, moderner und gesellschaftlich-politisch relevanter amerikanischer Kriminalroman.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Der letzte Wolf | Erschienen am 01.11.2023 im Ars Vivendi Verlag
ISBN 978-3-7472-0518-1
384 Seiten | 24,- €
Originaltitel: All The Sinners Bleed | Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Jürgen Bürger
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Gunnars Rezension zu „Blacktop Wasteland“

Ellen Dunne | Unfollow Stella (Band 4)

Ellen Dunne | Unfollow Stella (Band 4)

Die Münchner Kommissarin Patsy Logan scheint endgültig in ihrer zweiten Heimat Dublin gestrandet. Nach diversen Problemen sowohl auf ihrer Dienststelle bei der Kripo als auch mit ihrem Mann war Patsy zu ihrer Cousine nach Dublin gefahren, um dort den Kopf frei zu bekommen. Und um dort gleich mal in Ermittlungen verwickelt zu werden (siehe Band 3 „Boomtown Blues“). Nun hat sich die Pandemie auch in Irland breit gemacht und die Probleme scheinen sich nicht aufzulösen, vielmehr ist die Ehe am Ende und eine Rückkehr zur Münchner Kripo scheint von ihrem ehemaligen kollegialen Freund Stani, der nun die Dienststelle leitet, nicht mehr gewünscht.

Somit spricht für Patsy nichts dagegen, erneut vom österreichischen Attaché Sam Feurstein bei einer unangehnehmen Angelegenheit hineingezoge zu werden. Die junge Österreicherin Stella Schatz lebt seit einiger Zeit in Dublin und wird von ihrer Familie seit kurzem vermisst. Stella war vor allem mit ihrem Bruder, der in Singapur lebt, in regelmäßigem Austausch und auch sonst in Social Media relativ aktiv. Doch seit einiger Zeit herrscht totale Funkstille. Feurstein möchte das Verschwinden gerne lösen, ohne offiziell die irische Polizei um Mithilfe bitten zu müssen.

Stellas Spur führt zu ihrem letzten Arbeitgeber, einer Firma, die für einige großen Social Media-Player den Content nach anstößigem Material durchforstet und solches dann entfernt. Ein Knochenjob, den Stella jedoch offenbar zur Zufriedenheit aller erledigt hat. Der Arbeitgeber tut auch relativ harmlos, behauptet, Stella hätte Urlaub genommen und würde schon wieder auftauchen. Doch Patsy spürt, das da etwas nicht stimmt, verbeißt sich in den Fall und ist sich sicher, dass Stellas Verschwinden irgendetwas mit ihrer Arbeit in den dunklen Sümpfen des Netzes zu tun hat.

Sie quietschte wehleidig beim Öffnen. Elektrische Zahnbürste, Stückseifen, ein Kulturbeutel voll veganer Schminksachen, Gesichtscreme für die Haut ab 30. Ausnahmslos Marken aus deutschen Drogeriemarktketten. Ich ertappte mich bei einem Lächeln. Ja, die vermisste ich auch.
Apropos. Nirgendwo in diesem Zimmer schien etwas zu fehlen. Alle Schubladen quollen über mit Sachen. Unter dem Bett sammelte ein großer Koffer Staub, daneben noch ein kleiner.
Als hätte sich Stella Schatz in Luft aufgelöst. (Auszug S.60)

Mit dem dritten Band „Bowntown Blues“ hatte die österreichische Autorin Ellen Dunne, die seit langem in Irland lebt, der Reihe um Patsy Logan nochmal einen richtigen Schub verpasst, der auch prompt mit den „Glauser“ 2023 für den besten Roman belohnt wurde. Und Ellen Dunne kann durchaus daran anknüpfen, stellt ihre von einer Art Midlife-Crisis gebeutelte Kommissarin als Ich-Erzählerin in den Mittelpunkt, die allerdings lakonisch-ironisch-schlagfertig ihren und den Zustand ihrer Umgebung kommentiert. Außerdem traut die Autorin sich, der ungeschriebenen Krimiregel zu trotzen, dem Leser möglichst schnell eine Leiche zu präsentieren. Allzu lange bleibt der Leser im Ungewissen, ob Stella Schatz wirklich verschwunden ist und ob überhaupt hier irgendwo ein Verbrechen vorliegt.

Doch dass hier etwas im Argen liegt, wird durchaus klar gemacht. Zentrales Thema ist der ungebremste Content-Overkill in diversen sozialen Netzwerken und der rettungslos verzweifelte Versuch, pornografisches, gewalttätiges, volksverhetzendes oder allgemein für die Werbekunden anstößiges Material von den Seiten zu entfernen. Hierzu hat sich ein gar nicht mehr so kleines und lukratives Gewerbe etabliert, dass allerdings relativ präkere Arbeitsbedingungen geschaffen hat und die Mitarbeiter permanent mehr als verstörendem Content aussetzt. Was das mit den Personen macht, die natürlich keine oder nur unzureichende psychologische Betreuung erfahren, das ist eine Erkenntnis aus diesem Krimi. Somit bleibt auch „Unfollow Stella“ dem guten Weg der Reihe treu und sei allen Lesern empfohlen, die neben einer interessanten Hauptfigur mit allerlei Blessuren im Gepäck auch von gesellschaftlich relevanten Themen in ihrem Krimi lesen wollen.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Unfollow Stella | Erschienen am 30.09.2023 im Haymon Verlag
ISBN 978-3-7009-7965-5
312 Seiten | 13,95 €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Weitere Rezensionen zu den Romanen von Ellen Dunne

Jacob Ross | Shadowman (Band 2)

Jacob Ross | Shadowman (Band 2)

Letztes Jahr erschien mit „Die Knocherleser“ Band 1 dieser exotischen Krimireihe, die Autor Jacob Ross auf einer Karibikinsel mit dem fiktiven Namen „Camaho“ angesiedelt hat. Die Beschreibung des Settings weisen jedoch sehr stark auf Grenada hin, die Heimat des Autors, der inzwischen seit langem in London lebt. Michael „Digger“ Digson und Miss Stanislaus bilden ein unkonventionelles Ermittlerduo, das sich zahlreichen Widerständen entgegentreten muss. Wie schon in Band 1 bildet die männlich geprägte Gesellschaft, die Unterdrückung von Frauen, Korruption und das Zusammenspiel von öffentlichen Personen und Kriminellen den allgemeinen Hintergrund der Geschichte.

Das Ermittlerduo steckt von Beginn an in der Klemme: Miss Stanislaus wurde in ihrer Jugend auf einer kleinen Nachbarinsel Camahos vom Gangster Juba Hurst missbraucht. Als sie mitbekommt, dass sich eine junge Frau, ein weiteres Opfer Hursts, das Leben genommen hat, bedroht sie Hurst vor Zeugen mit ihrer Waffe, Digger kann sie gerade noch von einer Dummheit abhalten. Doch wenig später greift Juba Hurst die beiden in einem nächtlichen Hinterhalt an, diesmal erschießt ihn Miss Stanislaus aus Notwehr tatsächlich. Dumm nur, dass ihr niemand glaubt, und der männlich dominierte Polizeiapparat die Chance nutzen will, um Miss Stanislaus loszuwerden und Diggers Einheit aufzulösen. Über seine letzten Verbündeten gelingt es Digger, eine Frist von sechs Wochen auszureizen, um Miss Stanislaus‘ Unschuld zu beweisen. Dabei hat Digger zeitgleich noch einen weiteren Fall zu lösen: Die Ermordung eines Mannes, der offensichtlich in Drogengeschäfte verstrickt war. Und irgendwie scheint auch Juba Hurst eine Rolle in diesem Drogen- und Schmuggelnetzwerk gespielt zu haben.

„Camaho ist klein. Wir haben schon eine etablierte Schmuggelkultur, wir haben haufenweise junge Männer, die keine Arbeit finden. Wir haben tausende von kleinen Buchten und Grotten, in denen man ein Boot verstecken kann. Und wir haben den passenden Charakter – die Heimlichtuerei liegt uns im Blut.“ (Auszug S. 298)

Eine packende Lektüre mit einem außergewöhnlichen Schauplatz und einem markanten Ermittler-Duo, das seine Päckchen aus der Vergangenheit zu tragen hat. War es im Auftaktroman Digger und nach wie vor nicht aufgeklärte Verschwinden seiner Mutter in direktem Zusammenhang mit polizeilichen Gewaltexzessen, so ist es diesmal die Vergangenheit von Miss Stanislaus als Missbrauchsopfer. Durch die Figur der Miss Stanislaus, ihrer charakterlichen Stärken und Fähigkeiten als polizeiliche Ermittlerin erzählt der Autor indirekt auch eine Geschichte weiblichen Empowerments.

Mir gefiel dieser Roman sogar noch besser als Band 1, er war für meinen Geschmack fokussierter und souveräner im Einsatz der Figuren und Entwicklung des Plots. Erwähnenswert ist zudem die Übersetzung durch Karin Diemerling, die erfolgreich versucht hat, den karibischen Slang ein Stück weit in den Dialogen zu transportieren. Insgesamt ein kurzweiliger Krimi aus der Karibik, mit grimmigem Ernst, Witz und auch so manchen cleveren Weisheiten.

„[…] Aus meiner Sicht sind Frauen, hm, Ökosysteme. Greift man irgendwo ein, wirkt sich das auf ‚ andern Teil aus. Ist das, was Lazar und so Typen nich verstehn.“
„Und was sind Männer?“
„Auch Ökosysteme.“ Er senkte den Blick, lächelte. „Nur nicht so komplex.“ (Auszug S. 173)

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Shadowman | Erschienen am 17.07.2023 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-47336-8
462 Seiten | 16,95 €
Originaltitel: Black Rain Falling | Übersetzung aus dem karibischen Englisch von Karin Diemerling
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Rezension zu Band 1 „Die Knochenleser“

Sara Paretsky | Schiebung (Band 19)

Sara Paretsky | Schiebung (Band 19)

Ich ließ die Nachrichten im Radio laufen, falls eine Meldung über Felix kam. Schon wieder Schießereien an der South Side und an der West Side – Applaus für eine Regierung, die es jedem schießwütigem Bürger ermöglicht, sich ein Waffenarsenal zuzulegen, mit dem er uns alle fünf- bis sechsmal umbringen kann. Nichts über Felix. (Auszug S.180)

„Schiebung“ ist der neunzehnte von inzwischen einundzwanzig veröffentlichten Romanen von Sara Paretsky mit der auf Wirtschaftskriminalität spezialisierten Chicagoer Privatdetektivin Victoria Iphigenia Warshawski. Und der erste, den ich las. In Schiebung hat es die von ihren Freunden Vic genannte Schnüfflerin weniger mit geldeinbringenden Aufträgen als mit privaten Turbolenzen zu tun.
Felix Herschel, der Großneffe ihrer besten Freundin Lotty Herschel ist in Schwierigkeiten. Der junge Kanadier wurde zu einem Tatort in einem abgelegenen Waldstück zitiert, um eine männliche Leiche zu identifizieren. Felix bestreitet, das Opfer zu kennen und kann nicht erklären, wie sein Name und Telefonnummer in der Hosentasche des grausam Ermordeten landete. Er wird zum Hauptverdächtigen, selbst V.I. hat das Gefühl, er verschweigt etwas. Schnell findet sie heraus, dass der Student mit einer jungen Frau aus dem Nahen Osten befreundet ist, deren Vater sich illegal in den Vereinigten Staaten aufhält und deshalb automatisch als Terrorist gilt.

Überraschend bekommt V.I. Besuch von Harmony Seale, die sich um ihre Schwester Reno sorgt. Beide sind die Nichten ihres Ex-Mannes Richard Yarborough. Die Ehe mit dem Wirtschaftsanwalt ging schon vor Jahren in die Brüche und seither hatte Vic keinen Kontakt mehr zu den beiden Mädchen. Reno hatte in Chicago in einem Finanzunternehmen namens „Rundum sorglos“ gearbeitet. Nach einem Betriebsausflug in der Karibik wirkte sie sehr aufgewühlt und als ihre Schwester sie jetzt besuchen will, ist sie spurlos verschwunden. Bei „Rundum sorglos“ handelt es sich um eine Kredit-Hai-Firma, die mit Kreditgeschäften nicht finanzkräftigen Menschen hinterhältig ausplündert. Für Vic verhärtet sich der Verdacht, dass ihr Ex, der Reno den Job besorgt hatte, seine Finger mit im Spiel hat. Reno misstraut der Polizei, so macht sich unsere Heldin alleine auf die Suche nach Harmony. Ihre Ermittlungen ergeben, dass es nicht nur um sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz geht, anscheinend war die junge Frau auch noch auf diverse Machenschaften ihrer Firma gestoßen und hatte Unterlagen an sich gebracht, die mächtigen Leuten gefährlich werden können.

Ich raste die Stufen hinab. Etwas traf mich von hinten, schleuderte mich die zweite Treppe hinunter. Das Jaulen hörte ich eine Nanosekunde später. Kugel im Rücken. Lag auf dem Treppenabsatz, rang nach Luft. Noch ein Ruf von oben: Bundesagenten, stehen bleiben oder wir schießen. (Auszug S.98)

Beide Fälle bringen Vic mächtig auf Trab und ähnlich Superwoman flitzt sie gehetzt durch ihre Stadt Chicago, fast ohne Schlaf und Erholung sowie seitenlang mit einer Kugel im Rücken. Sie ist notorisch überarbeitet, aber unterbezahlt. Trotzdem danken es ihr die „Familienmitglieder“ nicht besonders, sondern halten mit der Wahrheit hinterm Berg und verschwinden tagelang (Felix) oder misstrauen ihr und überschütten sie mit Vorwürfen (Harmony). Vic hat aber nun mal ein Herz für die Schwachen der Gesellschaft und riskiert bei der Aufklärung oft Kopf und Kragen. Sie sieht in den beiden jungen Frauen, die sich als sehr anstrengend, fordernd und unverschämt zeigen, überforderte, misstrauische weil immer wieder betrogene Menschen.

Der Kriminalroman erfordert beim Lesen höchste Konzentration. In über 500 Seiten und vielen kleinen Kapiteln gibt es keinen Handlungsstillstand und der Plot schlägt immer neue Kapriolen. V.I. ist Sara Paretskys politisches Statement, das sollte man bei der Lektüre bedenken. Die Detektivin, selbst aus einer Immigrantenfamilie stammend, kämpft stets gegen die Reichen, im Besonderen gegen die Mächtigen und Gierigen, die meinen, über Gesetz und Moral zu stehen. Es geht um Menschen, die durch das kapitalistische System in Not und Gefahr geraten sind, um Geflüchtete, die verfolgt und schikaniert werden.

Die Superreichen sind nicht wie du und ich. Nicht, wie Hemingway angeblich zu Fitzgerald sagte, weil sie mehr Geld haben, sondern weil das Geld sie glauben macht, all ihre Wünsche, ganz gleich wie abartig, müssten unverzüglich befriedigt werden. (Auszug S.405)

In „Schiebung“ wird deutlich, wie tief der ICE, die Einwanderungsbehörde der US-Regierung den Rassismus und die Angst vor Terror mit Hilfe von Überwachungen und Drangsalierungen im Alltagsleben der USA verstärkt hat. Im Lauf der Geschichte gerät Warshawski in einen Strudel aus Gewalt und Handel mit begehrenswerten Artefakten aus Syrien und dem Irak sowie mit Kreditgeschäften. Mir war es manchmal ein Schlenker zu viel und aufgrund der zahlreichen Themen, die in der Geschichte einfließen, leidet der Spannungsbogen. Die beiden Fälle sind in eine gut recherchierte Hintergrundgeschichte eingebettet, entwickeln nach und nach Gemeinsamkeiten und finden sich zu einem Gesamtfall zusammen, was keineswegs aufgesetzt, aber an der ein oder anderen Stelle nicht ganz plausibel wirkt.

Sara Paretsky legendäre Schnüfflerin V. I. Warshawski ist schon lange eine Klassikerin und kaum wegzudenken in der feministischen Krimilandschaft. Sie ist immer noch eine Idealistin, selbstbewusst und taff, lebt seit zwanzig Jahren allein und hat mit ihrer besten Freundin, der Ärztin Lotty eine Klinik im Rücken. Und mit ihrem alten Nachbarn, Mr. Contreras einen Freund, der sich um die beiden Hunde kümmert und ihr immer Unterschlupf gewährt.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Schiebung | Erschienen am 24. Oktober 2022 bei Ariadne im Argument Verlag
ISBN 978-3-86754-264-7
544 Seiten | 25.- Euro
Originaltitel: Shell Game | Übersetzung aus dem Englischen von Else Laudan
Bibliografische Angaben und Leseprobe

Weiterlesen I: Rezension von Gunnar zu „Altlasten“ (Band 18)

Yves Ravey | Taormina

Yves Ravey | Taormina

Er ist kein übler Ganove, kein skrupelloser Schuft. Und dennoch ist Melvil Hammett, der Ich-Erzähler, die vermutlich unsympathistischste Figur dieses Krimisommers. Das beginnt schon am Anfang der Erzählung: Melvil und Luisa Hammett haben ihren ersten Urlaubstag in Sizilien, mieten sich einen Wagen und sind unterwegs zu ihrem Hotel in Taormina. Doch der Unterton ist nicht so fröhlich und unbeschwert, sondern mit der Ehe steht es offenbar nicht zum besten. Wie man nach und nach erfährt, gab es wohl gegenseitige Affären und Melvil ist aktuell arbeitslos und lässt sich von seiner Frau aushalten, offenbar zum Widerwillen seines Schwiegervaters.

Jedenfalls will es Melvil seiner Frau in diesem Urlaub wohl besonders recht machen. Schon nach kurzer Zeit verlässt er die Hauptstraße, weil er die erstbeste Gelegenheit nutzen will, Luisa das Meer zu zeigen. Doch der Weg zum Strand entpuppt sich als Baustelle und Schotterpiste. Auf dem Weg zurück geraten sie in ein heftiges Gewitter, die Sicht ist sehr eingeschränkt und dann rammt Melvin ein Hindernis auf der Fahrbahn mit dem rechten Kotflügel. Er redet sich und seiner Frau ein, dass es wohl nichts Schlimmes gewesen sein wird – ein Tier vielleicht – und keiner steigt aus. Nichts darf das Gelingen des Urlaubs verhindern – doch meldet die Lokalzeitung am nächsten Tag, dass ein Flüchtlingskind aus einem Lager am Strand angefahren wurde und an den Verletzungen gestorben ist.

Lasse man jeden falschen Verdacht mal außer Acht, erklärte ich, sei es objektiv betrachtetet, weniger schlimm, als es aussehe. Um es klipp und klar zu sagen, Luisa, verstehe mich nicht falsch. Ich sage nicht, dass es weniger schlimm ist, weil es das Kind von Migranten ist, ich möchte nur zu bedenken geben, dass das wahrscheinlich häufiger vorkommt. Ich glaube also, dass die Behörden in der Region Catania nicht gleich alles auf den Kopf stellen werden, um den Verantwortlichen zu finden. Wobei es zunächst keinen Verantwortlichen gibt! (Auszug E-Book Pos. 580)

Melvil Hammett tut in der Folgezeit alles, um den Verdacht von sich abzulenken. Der Wagen muss unauffällig repariert, der Urlaub so fortgesetzt werden wie geplant. Eine Verantwortung weist er weit von sich. Dummerweise hat er schon genug Hinweise auf sich gelenkt, dass die Polizei nicht untätig bleibt. Seine Frau zeigt zwar ein paar mehr Gewissensbisse, tut aber auch nichts, um Melvil aufzuhalten. Und so verfolgt der Leser zunehmend angewidert, wie dieser Typ sich herauslavieren und freikaufen will.

Nur etwas mehr als hundert Seiten umfasst diese schlanke Erzählung. Dabei fand ich die Lektüre hin und wieder etwas anstregend, da der Autor auf direkte Rede verzichtet und Melvil als Ich-Erzähler wirklich nervt. Aber vielleicht schärft dies gerade den Blick in die Psyche der Hauptfigur. Insgesamt überzeugt „Taormina“ als Parabel auf die allgemeine Tendenz in der Gesellschaft zu fehlendem Schuldbewusstsein und zunehmender Verantwortungslosigkeit.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Taormina | Erschienen am 19.06.2023 im Liebeskind Verlag
ISBN 978-3-8479-0115-0
368 Seiten | 22,- €
Originaltitel: Taormine | Übersetzung aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
Bibliografische Angaben & Leseprobe