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Stephen King | Holly

Stephen King | Holly

Holly Gibney, Privatermittlerin und Inhaberin der Detektei Finders Keepers bekommt den Auftrag, eine vermisste junge Frau zu finden. Penny Dahl, die Mutter, hat ihre Tochter Bonnie seit drei Wochen nicht mehr gesehen, die Polizei ist wegen der anhaltenden Corona-Pandemie überlastet. Holly beginnt ohne ihren Partner, den an Corona erkrankten ehemaligen Polizistin Pete Huntley, mit den Ermittlungen. Sie recherchiert in der Nähe des Ortes, an dem Bonnie zuletzt gesehen wurde und an dem nur ihr Fahrrad gefunden wurde. Am Sattel klebte lediglich ein Zettel: „Ich habe genug“. Holly befragt Zeugen, findet Hinweise und stößt in der Gegend auf weitere Vermisstenfälle in den letzten Jahren, welche ein ähnliches Muster aufweisen. Beweisen kann sie es noch nicht, weswegen sie auch erst mal die Polizei aus dem Spiel lässt und den Großteil der Ermittlungen allein erledigt.

Sie weiß, wer sie beide sind und dass Roddy und Em sie nicht gehen lassen können, weil man sie sonst wegen Entführung verhaften würde (was nur einer von vielen Anklagepunkten wäre), aber trotzdem hat sie weder zu verhandeln versucht noch gebettelt. Nur dieser Hungerstreik. Wie sie Em gesagt hat, würde sie breitwillig einen Salat essen, aber das kommt absolut nicht infrage. Ein Salat, ob mit oder ohne Dressing, ist kein Sakrament. Fleisch ist ein Sakrament. Leber ist ein Sakrament. (Auszug Seite 83)

Als Leser*in weiß man allerdings von Anfang an, was passiert ist. Denn jedes zweite Kapitel des 630 Seiten starken Romans ist aus der Sicht eines bereits emeritierten Professorenpaares geschrieben. Emily und Rodney Harris sind ein altes Ehepaar, als Akademiker gehören sie der bürgerlichen Oberschicht an. Miteinander gehen sie sehr liebevoll um. Aber die durchgeknallte Professorin für Englische Literatur und der Biowissenschaftler sind Rassisten und homophob. Sie geben sich als hilflose alte Menschen, die ein Problem mit dem Rollstuhl haben. Gutmütige Helfende finden sich bald im Keller der Harris in einem Stahlkäfig wieder. Der Autor macht von Anfang an klar, um was es geht. Ich möchte das aber hier nicht spoilern. Die Entführungen der Opfer spielen sich immer wieder in der gleichen Weise ab, es gibt keine Überraschungen, keine Twists.

„Holly“ ist bereits der sechste Roman, in dem die Protagonistin Holly Gibney vorkommt. Wir begegneten ihr zuerst 2014 in „Mr. Mercedes“ als beliebte Nebenfigur. Stephen King scheint sich in die eigentlich als schrullige Statistin gedachte Figur verliebt zu haben. Nach der gesamten Bill-Hodges-Trilogie hatte sie Auftritte in „Der Outsider“ sowie in dem Kurzgeschichten-Band „Blutige Nachrichten“. Jetzt ist die Neurotikerin mit Zwangsstörungen und Marotten die Hauptfigur in einem Crime-Thriller, der ganz ohne übernatürliche Elemente auskommt. Dabei befindet sie sich in ihrer Spleenigkeit und ihren Verhaltensauffälligkeiten in guter alter Detektivtradition. In dieser klassischen Ermittlergeschichte baut sich der Schrecken allmählich auf, die Spannung entsteht, zu verfolgen, wie Holly Spuren findet und die ganze Dimension des Grauens erkennt.

Stephen King glänzt auch hier wieder mit seinen schriftstellerischen Qualitäten, findet in knappen Worten beeindruckend plastische Bilder in vielen stimmigen Passagen und hat seine Charaktere immer fest im Blick. Was ich nicht so gelungen fand, war das simplifizierte Bild von Gut und Böse. Seine Welt ist einfach strukturiert ohne jegliche Grautöne. Wenig subtil gibt es die Covidleugner, die Trump-Wähler, die alle rassistisch oder zumindest dumm sind. Dagegen die Guten, die mindestens doppelt geimpft sind und ständig Maske tragen und Körperkontakte vermeiden.

Der amerikanische Autor hat den Roman 2021 während des Lockdowns geschrieben und deshalb fehlt auch nicht der für King typische Blick aufs Weltgeschehen. Die Handlung spielt sich während der Pandemie ab, dominiert jedes Kapitel und thematisiert auch die tiefen Gräben zwischen Impfgegnern und Befürwortern. Das muss man mögen, mich hat es nicht groß gestört, es war vielleicht noch zu früh. Die Menschen begrüßen sich mit Ellbogencheck, stellen sich mit Namen vor und mit welchen Impfstoff sie versehen sind. Hollys Mutter, auch eine Corona-Leugnerin ist an Covid verstorben und der Roman beginnt mit ihrer Beerdigung in Form einer Zoom-Konferenz.

Dann gibt es noch eine Nebenhandlung, in der die junge Barbara Robinson ihren Weg von der unbekannten Verfasserin von Gedichten zur Preisträgerin amerikanischer Lyrik macht, während ihr Bruder Jerome zeitgleich zum Bestsellerautor aufsteigt. Dieses rührende Künstlermärchen war nicht nur dramaturgisch total entbehrlich sondern auch teilweise sehr kitschig garniert mit Phrasen. Und was ist eigentlich mit „Show, don’t tell“? Die Analogie zu Amanda Gorman, um nur ein Beispiel zu nennen, wird selbst angesprochen, ohne dass wir diese selbst ziehen können. Als wenn King diese Schlussfolgerungen seinen Leser*innen nicht zutraut. 2024 soll tatsächlich der nächste Roman erscheinen, wieder mit Holly Gibney und ihrer Gang.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Holly | Erschienen am 20.09.2023 im Heyne Verlag
ISBN 978-3-45327-433-4
640 Seiten | 28,- €
Originaltitel: Holly | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Bernhard Kleinschmidt
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Weitere Rezensionen zu Romanen von Stephen King auf Kaliber.17

Len Deighton | SS-GB

Len Deighton | SS-GB

Eine sehr hohe Zahl von Alternativweltgeschichten kreist um die Nationalsozialisten. Insbesondere ist bei vielen Autoren die Ausgangsposition beliebt, dass die Nazis den 2. Weltkrieg gewonnen haben. Der britische Autor Len Deighton lässt seinen 1978 erschienenen Roman „SS-GB“ Ende 1941 spielen. Seine Prämisse: Nazi-Deutschland hat Großbritannien besiegt und den Südteil besetzt, mit der Sowjetunion herrscht Frieden. Winston Churchill wurde exekutiert, der König ist im Tower interniert. Es existiert eine Exilregierung in den USA, die jedoch von den Amerikanern nicht anerkannt wird.

Auch Scotland Yard wird nun von einem Deutschen geführt, SS-Gruppenführer Kellermann. Dieser hat die alten Strukturen der Behörde aber weitgehend beibehalten. Douglas Archer ist Detective Superintendent und damit ranghöchster Kriminalbeamter. Archer ist trotz seines mittleren Alters schon eine Legende aufgrund der Aufklärung einiger spektakulärer Mordfälle in den vergangenen Jahren. Auch Kellermann hält große Stücke auf Archer, der sich um die unpolitischen Kriminalfälle und die Fälle, in denen keine Deutschen involviert sind, kümmert. Zusammen mit seinem Kollegen und väterlichem Freund Harry Woods wird Archer zu einem Mordfall an einem Antiquitätenhändler gerufen. Ein Mord im Schwarzmarktmilieu ist nicht ungewöhnlich, doch die Begleitumstände machen Archer stutzig. Eine seltsame Zugfahrkarte, ungewöhnliche Brandwunden am Opfer, eine amerikanische Journalistin, die plötzlich mitten bei den Mordermittlungen als angebliche Kundin auftaucht. Zur Bestätigung, dass es sich um etwas Großes handelt, kommt am nächsten Tag dann auch SS-Standartenführer Huth aus Berlin auf, der direkt Himmler unterstellt ist und den Fall übernimmt, aber Archer als Ermittler behält. Nach und nach wird klar, mit was der vermeintliche Antiquitätenhändler zu tun hatte und das bringt Archer in eine gefährliche Lage zwischen SS, Wehrmacht und Widerstand.

Autor Len Deighton wurde 1929 als Sohn eines Chauffeurs und eine Köchin geboren, arbeitete nach dem zweiten Weltkrieg für die Royal Air Force und konnte nach seiner Dienstzeit mit einem Stipendium studieren. Er arbeitete u.a. als Fotograf und Illustrator, bis er 1962 seinen Durchbruch mit „The Ipcress File“ hatte. Neben Spionageromanen, Thrillern und kriegshistorischen Romanen veröffentlichte er auch Kochbücher. „SS-GB“ verbindet mehrere seiner bevorzugten Sujets mit einem alternativen Geschichtsverlauf und wurde 1978 veröffentlicht. 2017 zeigte die BBC eine Miniserie nach dem Roman mit Sam Riley, Kate Bosworth und Lars Eidinger in den Hauptrollen.

Huth wirbelte mit seinem Stock durch die Luft, „Jede Zuwiderhandlung gegen diesen Befehl“, sagte er, „ist nicht nur ein Kapitelverbrechen gemäß § 134 der Militärgesetze des Oberkommandos Großbritannien, das vor dem Erschießungskommando endet, sondern auch ein Kapitalverbrechen gemäß § 11 Ihrer eigenen Gesetze, im Einvernehmen mit der deutschen Besatzung erlassen 1941, das mit dem Galgen im Wandsworth-Gefängnis bestraft wird.“
„Kommt das Erschießen zuerst oder das Erhängen?“, fragte Douglas.
„Wir müssen der Justiz ja schließlich auch noch eine Entscheidung überlassen“, entgegnete Huth. (Auszug S.79)

Solche spitzfindig-zynischen Dialoge finden sich zwar ein paar im Roman, für meinen Geschmack aber noch zu wenige. Len Deighton verliert sich regelmäßig in langen ausführlichen Beschreibungen von Nebensächlichkeiten, ohne auf den Punkt zu kommen. Die Grundidee des Plots ist auf jeden Fall spannend. Die schwierige Entscheidung zwischen Dienst nach Vorschrift (Kollaboration) und Widerstand, Täuschung und Verrat spielen eine wichtige Rolle im Roman. Auch interessant ist das sehr schwierige Verhältnis zwischen Wehrmacht und SS bei den Deutschen.

Das gehört zu den Stärken des Romans, der mich dennoch nicht ganz überzeugt hat. Und dies liegt vor allen an den Hauptfiguren, die (ausgenommen die Deutschen) ziemlich blass bleiben. Douglas Archer wirkt wie ein Mann ohne Eigenschaften. Witwer mit einem jungen Sohn, erfolgreicher, angesehener Polizist. Aber wofür er steht, was bewegt ihn, seine Konflikte zwischen Kollaboration und Widerstand – das gelingt dem Autor nicht aus der Figur herauszubringen. Auch sein „Love Interest“, die Journalistin Barbara Braga, bleibt für den Leser undurchsichtig und in ihrem Beitrag für die Handlung überschaubar. So bleibt „SS-GB“ für mich eine gute Idee mit einem interessanten Plotrahmen, dem es jedoch an einigen Details für einen richtig guten Roman mangelt.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

SS-GB | Erstmals erschienen 1978
Die aktuelle Taschenbuchausgabe erschien 2017 im Heyne Verlag
ISBN 978-3-453-43931-3
446 Seiten | 9,99 €
Originaltitel: SS-GB | Übersetzung aus dem Engischen von Kurt Wagenseil und Ursula Pommer
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Diese Rezension erscheint im Rahmen des Genrespezials Alternativweltgeschichten.

Val McDermid | 1989 – Wahrheit oder Tod (Band 2)

Val McDermid | 1989 – Wahrheit oder Tod (Band 2)

Im zweiten Band um die Journalistin Allie Burns sind 10 Jahre vergangen, wir schreiben das Jahr 1989. Allie lebt mittlerweile in Manchester mit ihrer geliebten Partnerin Rona zusammen und ist leitende Redakteurin für den Sunday Globe. Beruflich hat sie sich weiterentwickelt und führt nun ein Team von Journalisten an. Ihr Arbeitgeber, der Medienmogul Wallace „Ace“ Lockhart ist allerdings an kritischem Investigativjournalismus nicht sonderlich interessiert und schiebt Allie in die Klatschspalte.

Mit ihrer Situation unzufrieden, stößt sie auf einen Skandal bei der Entwicklung eines AIDS-Medikamentes. Edinburgh gilt zu der Zeit als AIDS-Hauptstadt und viele HIV-Patienten sehen sich gezwungen, aus ihrer Heimat zu fliehen um überhaupt Behandlung zu erfahren. Allie bekommt Wind davon, dass obwohl bei den klinischen Studien aufgrund schädlicher Nebenwirkungen schon mehrere Teilnehmer gestorben sind, diese einfach von Edinburgh nach Ost-Berlin verlegt wurden. Allie nimmt sich Urlaub und will in Eigeninitiative die ethisch ziemlich verwerfliche Geschichte verfolgen. Durch ihren waghalsigen Alleingang, bei dem sie auch noch versucht, einem Wissenschaftler und seiner Freundin bei der Flucht aus Ost-Berlin in den Westen zu helfen, wird sie als Spionin verhaftet.

„Weißt du, was das Lustige daran ist? In der Einrichtung im Norden von Manchester gibt es fünfzehn Betten. Und mehr als die Hälfte davon ist mit euren Leuten belegt.“ Aufrichtig verwirrt fragte Allie: „Was meinst du mit ‚unseren Leuten‘?“ „Schotten. Ihr exportiert heutzutage nicht nur Whisky. Sondern auch Junkies.“ (Auszug Pos. 314)

In einem zweiten Handlungsstrang geht es um Ace Lockhart, ein hochdekorierter Kriegsveteran, ein Überlebender des Nazi-Regimes, welches sein polnisches Dorf ausgelöscht hat. Lockhart, offensichtlich angelehnt an den real existenten Robert Maxwell, steckt in finanziellen Schwierigkeiten, da er Pensionsfonds abgeschöpft hat. Hilfe erhofft er sich durch seine politischen und wirtschaftlichen Verwicklungen mit den sowjetischen Blockstaaten. Der Medienmogul beauftragt seine ehrgeizige Tochter Genevieve Lockhart, die alten Verbindungen im Osten Europas zu sichern. Sie soll sich bei idealistischen Dissidenten einschmeicheln und wird nach Berlin entsandt.

Im Gegensatz zum ersten Band um Allie konnte mich der Nachfolger nur bedingt begeistern. Er schwächelt an so vielen Stellen, als hätte McDermid ihn mit grober Nadel hastig gestrickt. 1989 war ein spannendes Jahr in der Geschichte mit vielen Wendepunkten, beispielsweise der Öffnung des Eisernen Vorhangs, der später zum Fall der Berliner Mauer mündete. Der historische Krimi ist dies leider über große Strecken nicht. Es ist die Hochzeit der AIDS-Epidemie ohne Aussicht auf Heilung. Am Anfang ist Ally auf der Trauerfeier für die Opfer des Lockerbie-Bombenanschlages. In einer amerikanischen Boeing war eine Bombe explodiert und über der schottischen Kleinstadt abgestürzt. Und es endet mit der größten Katastrophe in der Geschichte des Fußballs, als sich im Hillsborough Stadium in Sheffield ein schweres Zuschauerunglück mit vielen Toten und Verletzten abspielte. Anstatt sich hierauf zu konzentrieren, werden diese beiden Ereignisse lediglich kurz angerissen, nur um es auch noch unterzubringen. Dafür ist die Handlung rund um Ost-Berlin an vielen Stellen völlig überzogen und unglaubwürdig.

Außerdem bedient sich die schottische Autorin vieler Klischees. Als beispielsweise zwei Flüchtige Westberlin erreichen und kichernd auf alle Embleme des westlichen Kapitalismus deuten, überwältigt von den Farben und den leuchtend bunten Klamotten in den Schaufenstern, konnte ich nur mit den Augen rollen. Auch Allie, mit einem starken moralischen Kompass und großem Gerechtigkeitssinn ausgestattet, immer bereit für Außenseiter oder Schwächere in die Bresche zu springen und zu helfen, ist viel zu glatt und ohne Brüche gestaltet.

Alles in allem viel zu viele Themen, wie AIDS, Pharmamissbrauch, Schwulen- und Lesbenhass, aufhetzende Yellow-Press, Stasi, Nazis etc., die den Roman überfrachten. Allie hetzt hinter der großen Geschichte hinterher, während sie sich persönlich an den Katastrophen des Jahres sowohl abarbeitet als auch aufreibt. Der Krimianteil ist nur mäßig ausgebaut, der Schwerpunkt liegt auf den historischen Fakten. Trotzdem entfaltet er nicht die Magie wie „1979 – Jägerin und Gejagte“, bei dem ich den Zigarettenrauch förmlich riechen und das Geklapper der Schreibmaschinen hören konnte. Zusätzlich bietet der Roman einen Blick hinter die Kulissen der Medienlandschaft. Auf was man sich bei McDermid immer verlassen kann, ist eine gehörige Portion Gesellschaftskritik und authentische Zeitgeschichte.
Ich bin trotzdem auf 1999 gespannt und werde dem nächsten Band eine weitere Chance geben.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

1989 – Wahrheit und Tod | Erschienen am 3. Juli 2023 bei Knaur
ISBN 9-7834-2652-984-3
464 Seiten | 14,99 Euro
Als E-Book: ISBN 978-3-426-46660-5 | 9,99 Euro
Originaltitel: 1989 | Übersetzung aus dem Englischen von Dr. Kirsten Reimers
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Rezension zu Band 1 „1979“

Vor 45 Jahren: Krimipreisträger 1978 & Lionel Davidson | Tod in Chelsea

Vor 45 Jahren: Krimipreisträger 1978 & Lionel Davidson | Tod in Chelsea

Es ist mal wieder Zeit für einen Blick in unsere Asservatenkammer. Diesmal gehen wir 45 Jahre zurück und werfen einen Blick auf die damaligen Preisträger der wichtigsten Krimipreise. Die Datenlage ist allerdings nicht so üppig wie ich gedacht hätte, gab es doch einige der heute bekannten Krimipreise noch gar nicht.

Renommiert war damals allerdings schon der französische Grand Prix de la Littérature Policière. 1978 gewann ihn in der Kategorie national die Autorin Madeleine Coudray für ihren Roman „Dénouement avant l’aube“, der jedoch nie ins Deutsche übersetzt wurde. Eine Autorin aus dem Agatha Christie-Rätselsegment, deren Bücher erst nach ihrer Pensionierung im hohen Alter heraugegeben wurden und die bereits im gleichen Jahr der Preisverleihung verstarb.

Ebenfalls eine lange Tradition hat naürlich der amerikanische Edgar Award. 1978 gewann dort William H. Hallahan mit „Catch Me, Kill Me“ (dt. „Ein Fall für Diplomaten“). Beides sagte mir bislang nichts, Hallahan war ein Autor, der sich unter anderem auch bei okkulten Romanen und historischen Sachbücher tummelte. Protagonist des Romans ist Ex-CIA-Agent Charlie Bewer, der noch in drei weiteren späteren Werken Hallahans vorkommt. Knapp geschlagen wurde damals übrigens William McIllvanney mit seinem legendären „Laidlaw“.

Kommen wir zuletzt zum britischen Dagger Award. Den „Gold Dagger“ für den besten britischen Kriminalroman gewann vor 45 Jahren Lionel Davidson mit „The Chelsea Murders“ (dt. „Tod in Chelsea“). Davidson ist damit hinter Ruth Rendell auf Platz 2 der AutorInnen mit den meisten Gold Daggern. Bereits 1960 gewann er mit „The Night of Wenceslas“ (dt. „Die Nacht des Wenzel“) und 1966 mit „A Long Way to Shiloh“ (dt. „Das Geheimnis der Menora“). So habe ich mir dann auch seinen Roman mal für diese Rubrik vorgenommen.

Lionel Davidson | Tod in Chelsea

Ein Mörder geht um in Chelsea: Nach mehreren brutalen Morden innerhalb weniger Wochen tappt die Polizei noch ziemlich im Dunkeln, zumal eine Verbindung zwischen den Opfern bislang nicht gefunden wurde. Die Presse schlachtet die Morde genüßlich aus, versucht mit allen Tricks an Hintergrundinformationen zu kommen. Nach dem dritten Mord an einer 25jährigen Frau, die als Modell in der Kunstakademie und als Bardame gearbeitet hatte, gerät eine Filmcrew der Akademie in den Fokus von Chief Superintendant Warton.
Diese Filmcrew aus Studenten und Absolventen der Akademie dreht einen blutigen Independent-Krimi und waren zum Zeitpunkt des dritten Mordes bei Dreharbeiten am anderen Themseufer in Sichtweite des Tatorts. Die treibenden Köpfe des Teams sind Artie Johnson als Produzent, Steve Griffard als Regisseur und Frank Colbert-Greer als Art Director. Permanent klamm hangeln sie sich von Drehtag zu Drehtag und versuchen zwischendurch Sponsoren oder Spender für weitere Kosten des Films aufzutreiben. Immer wieder an ihrer Seite ist die junge Journalistin Mary Mooney, die mit ihnen bekannt ist und die Morde als Chance sieht, ihre journalistische Karriere nach vorne zu bringen.

Der Chinese Chen hatte das Geschäft um zwanzig vor sieben verlassen. Die beiden jungen Männer hatten die Leiche zwanzig vor acht entdeckt.
In dieser einen Stunde war der Chinese ermordet worden. Und für diese Stunde hatten sie Alibis. Warton hatte sie laufen lassen müssen. Er hatte es nur widerwillig getan, weil er Alibis nicht leiden konnte. Wer unschuldig war, hatte selten eines vorzuweisen. In diesem Fall schien jeder ein Alibi zu haben. (Auszug Pos. 2019)

Der britische Autor Lionel Davidson war zunächst als Journalist tätig und arbeitete als Berichterstatter aus ganz Europa für britische Medien. Dabei entwickelte sich die Idee, es auch als Romanautor zu versuchen. Er war – wie oben bereits an den Preisen ersichtlich – in den 1960ern und 1970ern äußerst erfolgreich mit mehreren Thrillern und Spionageromanen. Große Bekanntheit erlangte auch sein 1962 veröffentlichter Abenteuerroman „Die Rose von Tibet“, in dem ein Brite nach Tibet reist, um nach seinem bei einer Everest-Expedition verschollenen Stiefbruder zu suchen. Davidson verstarb 2009 in London. In seinem Werk ist „Tod in Chelsea“ thematisch ein Ausreißer, denn hier setzte Davidson zum ersten Mal auf einen Polizeikrimi mit relativ klassischem Whodunit-Aufbau.

Der Roman beginnt auch relativ bedächtigt. Davidson lässt sich viel Zeit, um sein Personal und die Beziehungen untereinander vorzustellen, was die Spannungskurve nicht gerade erhöht. Doch spätestens, als Mörder beginnt, der Polizei Gedichtsauszüge als Ankündigung und Hinweis auf folgende Taten zuzuschicken und sich das Verdächtigenkarussell immer mehr auf die drei seltsamen und alle nicht unverdächtigen Gestalten von der Filmcrew verengt, greift dieser Whodunit-Reiz und das macht Davidson dann auch ziemlich ordentlich.

Der Roman gibt zudem einen Einblick in die knallharte Medienkultur in Großbritannien und in die Subkultur rund um die Filmcrew, wobei so manche Nebenfigur allerdings am Rande der Karikatur und darüber hinaus skizziert wird. Letztlich also eine Lektüre, die den versierten Leser etwas unentschieden zurücklässt. Positiv verbleibt allerdings die Schilderungen der polizeilichen Bemühungen und das gut gelungene Rätsel um den Mörder bis zum Schluss.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Tod in Chelsea | Erstmals erschienen 1978
Aktuelle Ausgabe als E-Book bei Edel Elements
ASIN: B00R56EW7O | 3,99 €
Originaltitel: The Chelsea Murders | Übersetzung aus dem Englischen von Christine Frauendorf-Mössel

Erin Flanagan | Dunkelzeit

Erin Flanagan | Dunkelzeit

Erin Flanagans Debüt führt uns ins ländliche Nebraska in ein kleines beschauliches Örtchen. Gunthrum wird Mitte der 80er Jahre zum Schauplatz eines tragischen Ereignisses, als die junge Peggy Ahern spurlos verschwindet. Mit Hal, einem 25-jährigen, geistig beeinträchtigtem Mann ist schnell ein Verdächtiger gefunden. Der junge Mann ist mit routinierten Arbeiten auf der Farm von Alma und Clyle Costagan beschäftigt und war zum ersten Mal mit Freunden zum Jagen gewesen. Sehr zum Leidwesen von Alma, die befürchtet, dass Hal von den anderen nur verarscht wird. Alma und Clyle hatten den jungen Mann eingestellt und kümmern sich auch sehr liebevoll um ihn, fast wie um das eigene Kind, das ihnen bisher verwehrt blieb.

Wie befürchtet war auf dem Fußboden im Haus ein hässlicher rosa Fleck. Clyle stemmte die Hände in die Hüften. „Wo ist sie?“ „Wer?“ „Die Hirschkuh.“ Hal biss sich auf die Unterlippe. „Ich hab sie zum Müllplatz gebracht.“ … „Wie hast du sie dort hinbekommen?“ „Mit der Schubkarre.“ Clyle seufzte. „Die müssen wir also auch noch sauber machen.“ (Auszug S. 40- 41)

Nachdem Hal ohne seine Kumpels mit einem blutverschmierten und verbeulten Pick-Up von der Jagdtour zurückkehrt, erzählt er eine nicht ganz schlüssige Geschichte mit einer illegal erlegten Hirschkuh. Unfähig die Konsequenzen seines Handelns nachzuvollziehen, verstrickt er sich immer mehr in Widersprüche. Im alkoholisierten Zustand neigte er in der Vergangenheit auch schon mal zu Gewaltausbrüchen und schwärmte für die hübsche Peggy. Als dann rauskommt, dass die 17-Jährige letztmalig in der Kneipe „Castle Farm“ gesehen wurde und auch Hal sich angeblich an dem Abend da aufgehalten haben soll, ist für die Anwohner die Sache klar. Gerüchte verbreiten sich wie ein Lauffeuer und Hal sieht sich ersten Vorwürfen und offenen Anfeindungen ausgesetzt.

Alma und Clyle werden mit einer unbequemen Realität konfrontiert und fragen sich, ob Hal tatsächlich in der Lage wäre, einem Mädchen etwas anzutun. Trotzdem versuchen sie alles, um Hal zu schützen und vor Unrecht zu bewahren. Die beiden sind vor 14 Jahren aus Chicago nach Gunthrum gezogen, um nach dem Tod von Clyles Eltern die Farm zu übernehmen. Clyle bewirtschaftet die Farm einschließlich Schweinezucht und die ehemalige Sozialarbeiterin Alma fährt den Schulbus.

Clyle beugte sich vor und kraulte eines der Ferkel hinter dem Ohr, und die anderen kamen herbeigelaufen. Sie schnüffelten wie eine Hundemeute an seiner Hand und hofften auf seine Zuneigung. „Immer noch unglaublich niedlich“, sagte er, und sie fragte sich, wie zwei Menschen so unterschiedliche Sichtweisen haben konnten. (Auszug S. 7)

Erin Flanagan konzentriert sich in ihrem Debüt-Roman auf die Ehe zwischen Alma und Clyle, die durch lang verdrängte Probleme und eine große Kommunikationslosigkeit gekennzeichnet ist. Alma ist nur Clyle zuliebe aufs Land gezogen. Es sollte nur für eine Saison sein und obwohl die Landwirtschaft sich immer weniger rentiert, sind sie geblieben. Während Clyle sich sehr wohl fühlt, ist Alma todunglücklich. Sie findet hier keinen Anschluss, eckt mit ihrer schroffen, mürrischen Art oft an und kommt mit den kleinstädtischen Strukturen und den Geschlechterrollen nicht zurecht. Alma ist verbittert und hat sich in eine aggressive Sturheit geflüchtet, wenn es um ihren geliebten Hal geht. In einer weiteren Erzählperspektive erfahren wir von Milo, dem 12-jährigen Bruder von Peggy. Der introvertierte Junge hofft, dass seine lebenslustige Schwester einfach mal abgehauen ist und schnell wieder auftauchen wird. Er ist sogar erst sauer, dass die allseits beliebte Peggy mal wieder alle Aufmerksamkeiten bekommt. Dabei entgeht ihm nichts und in seiner ruhigen Art blickt er hinter die Fassade der Erwachsenen.

Eigentlich ein Roman, der vom Setting und Plot genau meins ist. Dass der Kriminalfall nur untergeordnet und polizeiliche Ermittlungen nur am Rande stattfinden, stört mich gar nicht. Flanagan, eine Professorin für Englische Sprache und Literatur betreibt mehr eine Milieu- und Sozialstudie über eine typische Kleinstadtidylle in den 80ern, in der jeder über jeden Bescheid weiß und Gerüchte sich schnell herumsprechen. Aber der mehrfach ausgezeichnete Roman konnte mich nicht richtig packen und irgendwie sprang der Funke nicht über. Ich habe das einfach schon zu oft gelesen und vor allen Dingen besser.

In vielen Dialogen offenbart die Autorin die Vergangenheit einzelner Dorfbewohner und wir erfahren von ihren Sorgen und Nöten, ihren Geheimnissen, Sehnsüchten und Affären. Die persönlichen Dramen lesen sich wie aus dem Leben gegriffen und sind weniger spektakulär als vielmehr banal. Dabei vernachlässigt sie die Spannungskurve und versäumt es, die Situation sich zuspitzen und eskalieren zu lassen. Es plätschert einfach so vor sich hin und endet in einer beliebigen Überführung des Täters.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Dunkelzeit | Erschienen am 18. Mai 2023 im Atrium Verlag
ISBN 978-3-85535-145-9
368 Seiten | 25,- Euro
Originaltitel: Deer Season | Übersetzung aus dem Englischen von Cornelius Hartz und Stefanie Kremer
Bibliografische Angaben und Leseprobe