Erin Flanagan | Dunkelzeit
Erin Flanagans Debüt führt uns ins ländliche Nebraska in ein kleines beschauliches Örtchen. Gunthrum wird Mitte der 80er Jahre zum Schauplatz eines tragischen Ereignisses, als die junge Peggy Ahern spurlos verschwindet. Mit Hal, einem 25-jährigen, geistig beeinträchtigtem Mann ist schnell ein Verdächtiger gefunden. Der junge Mann ist mit routinierten Arbeiten auf der Farm von Alma und Clyle Costagan beschäftigt und war zum ersten Mal mit Freunden zum Jagen gewesen. Sehr zum Leidwesen von Alma, die befürchtet, dass Hal von den anderen nur verarscht wird. Alma und Clyle hatten den jungen Mann eingestellt und kümmern sich auch sehr liebevoll um ihn, fast wie um das eigene Kind, das ihnen bisher verwehrt blieb.
Wie befürchtet war auf dem Fußboden im Haus ein hässlicher rosa Fleck. Clyle stemmte die Hände in die Hüften. „Wo ist sie?“ „Wer?“ „Die Hirschkuh.“ Hal biss sich auf die Unterlippe. „Ich hab sie zum Müllplatz gebracht.“ … „Wie hast du sie dort hinbekommen?“ „Mit der Schubkarre.“ Clyle seufzte. „Die müssen wir also auch noch sauber machen.“ (Auszug S. 40- 41)
Nachdem Hal ohne seine Kumpels mit einem blutverschmierten und verbeulten Pick-Up von der Jagdtour zurückkehrt, erzählt er eine nicht ganz schlüssige Geschichte mit einer illegal erlegten Hirschkuh. Unfähig die Konsequenzen seines Handelns nachzuvollziehen, verstrickt er sich immer mehr in Widersprüche. Im alkoholisierten Zustand neigte er in der Vergangenheit auch schon mal zu Gewaltausbrüchen und schwärmte für die hübsche Peggy. Als dann rauskommt, dass die 17-Jährige letztmalig in der Kneipe „Castle Farm“ gesehen wurde und auch Hal sich angeblich an dem Abend da aufgehalten haben soll, ist für die Anwohner die Sache klar. Gerüchte verbreiten sich wie ein Lauffeuer und Hal sieht sich ersten Vorwürfen und offenen Anfeindungen ausgesetzt.
Alma und Clyle werden mit einer unbequemen Realität konfrontiert und fragen sich, ob Hal tatsächlich in der Lage wäre, einem Mädchen etwas anzutun. Trotzdem versuchen sie alles, um Hal zu schützen und vor Unrecht zu bewahren. Die beiden sind vor 14 Jahren aus Chicago nach Gunthrum gezogen, um nach dem Tod von Clyles Eltern die Farm zu übernehmen. Clyle bewirtschaftet die Farm einschließlich Schweinezucht und die ehemalige Sozialarbeiterin Alma fährt den Schulbus.
Clyle beugte sich vor und kraulte eines der Ferkel hinter dem Ohr, und die anderen kamen herbeigelaufen. Sie schnüffelten wie eine Hundemeute an seiner Hand und hofften auf seine Zuneigung. „Immer noch unglaublich niedlich“, sagte er, und sie fragte sich, wie zwei Menschen so unterschiedliche Sichtweisen haben konnten. (Auszug S. 7)
Erin Flanagan konzentriert sich in ihrem Debüt-Roman auf die Ehe zwischen Alma und Clyle, die durch lang verdrängte Probleme und eine große Kommunikationslosigkeit gekennzeichnet ist. Alma ist nur Clyle zuliebe aufs Land gezogen. Es sollte nur für eine Saison sein und obwohl die Landwirtschaft sich immer weniger rentiert, sind sie geblieben. Während Clyle sich sehr wohl fühlt, ist Alma todunglücklich. Sie findet hier keinen Anschluss, eckt mit ihrer schroffen, mürrischen Art oft an und kommt mit den kleinstädtischen Strukturen und den Geschlechterrollen nicht zurecht. Alma ist verbittert und hat sich in eine aggressive Sturheit geflüchtet, wenn es um ihren geliebten Hal geht. In einer weiteren Erzählperspektive erfahren wir von Milo, dem 12-jährigen Bruder von Peggy. Der introvertierte Junge hofft, dass seine lebenslustige Schwester einfach mal abgehauen ist und schnell wieder auftauchen wird. Er ist sogar erst sauer, dass die allseits beliebte Peggy mal wieder alle Aufmerksamkeiten bekommt. Dabei entgeht ihm nichts und in seiner ruhigen Art blickt er hinter die Fassade der Erwachsenen.
Eigentlich ein Roman, der vom Setting und Plot genau meins ist. Dass der Kriminalfall nur untergeordnet und polizeiliche Ermittlungen nur am Rande stattfinden, stört mich gar nicht. Flanagan, eine Professorin für Englische Sprache und Literatur betreibt mehr eine Milieu- und Sozialstudie über eine typische Kleinstadtidylle in den 80ern, in der jeder über jeden Bescheid weiß und Gerüchte sich schnell herumsprechen. Aber der mehrfach ausgezeichnete Roman konnte mich nicht richtig packen und irgendwie sprang der Funke nicht über. Ich habe das einfach schon zu oft gelesen und vor allen Dingen besser.
In vielen Dialogen offenbart die Autorin die Vergangenheit einzelner Dorfbewohner und wir erfahren von ihren Sorgen und Nöten, ihren Geheimnissen, Sehnsüchten und Affären. Die persönlichen Dramen lesen sich wie aus dem Leben gegriffen und sind weniger spektakulär als vielmehr banal. Dabei vernachlässigt sie die Spannungskurve und versäumt es, die Situation sich zuspitzen und eskalieren zu lassen. Es plätschert einfach so vor sich hin und endet in einer beliebigen Überführung des Täters.
Foto & Rezension von Andy Ruhr.
Dunkelzeit | Erschienen am 18. Mai 2023 im Atrium Verlag
ISBN 978-3-85535-145-9
368 Seiten | 25,- Euro
Originaltitel: Deer Season | Übersetzung aus dem Englischen von Cornelius Hartz und Stefanie Kremer
Bibliografische Angaben und Leseprobe