Les Edgerton | Primat des Überlebens

Les Edgerton | Primat des Überlebens

Das Wörtchen „Noir“ wird manchmal dann doch im Genre etwas inflationär gebraucht, leider auch von mir. Doch nicht alle Romane mit permanentem Nieselregen in heruntergekommenen Großstadtkulissen, in denen für die Hauptfigur ein paar Dinge schiefgehen, sind gleich ein Noir. Man sollte doch etwas engere Maßstäbe anlegen, doch wie genau definiert man „noir“? Im (übrigens sehr zu empfehlenden) Podcast „Abweichendes Verhalten“ (von Sonja Hartl) zitiert Pulp Master-Verleger Frank Nowatzki seinen Autor Jim Nisbet wie folgt: „Noir ist, wenn man auf Seite 1 schon am Arsch ist und dann geht’s nur noch bergab“.

Sehr angenehm natürlich, wenn sich der Verleger dann auch an diese Maxime hält, denn selten passte eine Beschreibung so gut wie auf die aktuelle Neuerscheinung aus dem Hause Pulp Master. Wobei ganz zu Beginn ist Jake Bishop, Ich-Erzähler von „Primat des Überlebens“, noch nicht am Boden. Er ist vielmehr resozialisiert, nach einigen Jahren im Gefängnis wegen Raub und Diebstahls hat er geheiratet. Seine Frau Paris ist schwanger, er arbeitet erfolgreich als Friseur und plant bereits konkret den Aufbau eines eigenen Salons. Seine Knastvergangenheit kennen jedoch nur wenige. Bereits im ersten Kapitel erfolgt der erste Schlag in die Magengrube: Jake erhält einen Telefonanruf von Joy Walker, seinem ehemaligen Zellengenossen, der inzwischen auch draußen ist und ihn zu einem Drink treffen will. Jake schwant Übles und er soll so was von Recht behalten.

Er hielt inne, wandte den Blick von mir weg, starrte hinüber zu den Typen am Pooltisch. „Ich könnte einen Gefallen gebrauchen.“
Ein Gefallen… ich dachte an was Drolliges, was ich mal von jemandem gehört hatte. „Ein Gefallen“, hatte dieser Jemand gesagt, „ist im Französischen ein Ausdruck für ‚lass mich dich ficken‘.“ (S.14)

Aufgrund diverser Umstände im Gefängnis hat Walker noch was gut bei Jake, doch dieser wäre noch bereit, seinem Knastbruder dies auszuschlagen. Dummerweise hat Walker bei seinem neuen Boss, dem zwielichtigen Juwelier Sydney Spencer, einige Anekdoten über sich und Jake ausgeplaudert – Anekdoten, die Jake erneut ins Gefängnis bringen könnten. Das wäre dann zum dritten Male – und dann wäre es beim unbarmherzigen US-Justizsystem lebenslänglich. Zudem kennt Spencer eine weitere Schwachstelle von Jake – dessen kleinen, noch nicht volljährigen Bruder Bobby. So wird Jake in einen Einbruch im Haus eines anderen Juweliers gezwungen. Vermeintlich ein einfacher Job. Ein guter Witz, denn der Leser bekommt nun Murphy’s Law in Reinkultur zu lesen: Der Job geht natürlich nicht glatt und alles, was Jake nun tut, um den Schaden zu begrenzen, reitet ihn nur noch tiefer in den Abgrund.

Dieses verschissene Lebenslänglich beeinflusste alles, was ich tat. Oder nicht tat. (S.124)

Diese Bedrohung, die permanent über Jake schwebt, ist der Knackpunkt für den Lauf der Geschichte. Er wie tausende weitere Verurteilte in den USA stehen unter permanenter Anspannung, dass das kleinste, weitere Delikt sie für ewig hinter Gittern bringen kann. Diese Unfreiheit und Angst macht ihr Leben zu einem Tanz auf der Rasierklinge. Jake treibt dies in einen Zustand, in dem er am Ende Dinge tut, die er zu Beginn weit von sich gewiesen hätte.

Autor Les Edgerton war selbst einmal inhaftiert, ehe er später eine Karriere als Autor einschlug. Bei Pulp Master erschien bislang „Der Vergewaltiger“ von ihm, ein weiterer Roman ist in Vorbereitung. Edgerton starb im August letzten Jahres. In diesem Roman erweist er sich als Meister des Noirs. Durch die Perspektive als Ich-Erzähler bleibt der Leser eng bei Jake Bishop. Anfangs noch durch Rückblenden unterbrochen, wird die Story letztlich erbarmungslos, kompromisslos, zynisch bis zum bitteren Ende in kurzen Kapitel vorangetrieben. Vielleicht packt er die eine oder andere böse Wendung zu viel aus, aber geschenkt. Les Edgerton serviert dem Leser hier noir pur. Kein Kitsch, kein Geplauder, kein Happy End, reiner Noir bis zum wahrhaft-wahnhaft blutigen Ende. Das mag nicht jedem schmecken, ich goutiere das hingegen sehr. Pulp Master bleibt bei Noir das Maß der Dinge.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Primat des Überlebens | Erschienen am 06.12.2023 bei Pulp Master
ISBN 978-3-927734-93-7
342 Seiten | 16,- €
Originaltitel: The Bitch | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Ango Laina und Angelika Müller
Bibliografische Angaben & Leseprobe

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