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Jochen Brunow | Verdeckte Spuren

Jochen Brunow | Verdeckte Spuren

„Ich sage dir, Berlin wurde auf Wasser gebaut. Schon der Name der Stadt: Morast oder Sumpf. Der Kudamm, dieser Prachtboulevard, früher nichts als ein Knüppeldamm, um aus dem Modder zum Jagdschloss zu kommen, ohne dass die Kutsche stecken bleibt. All dieser Schick, der Glitzer und Glamour, nichts als Tarnung, ein Sumpf ist die Stadt noch immer.“ (Auszug E-Book Pos. 1712).

Der Berliner Ex-Polizist Gerhard Beckmann lebt inzwischen in einem malerischen Tal auf Sardinien. Er war einer der leitenden Beamten in einer Ermittlung zu Korruption in Verbindung mit dem Bau und Betrieb des neuen Berliner Flughafen BER. Doch mittendrin verstarb seine Frau bei einem Autounfall, Beckmann geriet in ein tiefes Loch, begann zu trinken. Er wurde schließlich in den vorzeitigen Ruhestand versetzt, die Korruptionsermittlungen versandeten. Doch zusammen mit einem Kollegen konnte Beckmann einen Teil der Akten retten, zu einer weiteren Auswertung kam es bislang noch nicht.

Auf Beckmann wird der junge aufstrebende Journalist David Richter aufmerksam, er besucht ihn zu einem Interview auf Sardinien. Schließlich verabreden Beckmann, Richter und dessen Zeitung eine weitere Zusammenarbeit. Richter beteiligt sich bei der Aktendurchsicht, doch konkrete Ergebnisse lassen weiter auf sich warten. Da wird Beckmann in seinem Haus auf Sardinien brutal überfallen, seine Haushälterin wird dabei lebensgefährlich verletzt. Als auch auf die Akten in einer angemieteten Wohnung ein Bombenanschlag verübt wird, bei dem Richter nur durch viel Glück nahezu unverletzt bleibt, ist klar, dass jemand weitere Recherchen mit aller macht verhindern will.

Der Roman „Verdeckte Spuren“ erschien bereits vor ein paar Jahren als Book on Demand. Nachdem Autor Jochen Brunow letztlich doch einen Verlag gefunden hatte, erschien zunächst „Die Chinesin“, ebenfalls mit Ex-Polizist Beckmann als Hauptfigur. Dieser Kriminalroman schaffte es sogar auf die Krimibestenliste. Nun erscheint „Verdeckte Spuren“ als Nachfolger noch einmal, dieses Mal über den Verlag. Jochen Brunow arbeitete bislang als Filmkritiker, Drehbuchautor und Dozent an Akademien fürs Drehbuchschreiben. Die vorliegenden Romane um Gerhard Beckmann sind seine ersten Kriminalromane.

Dabei merkt man den Hintergrund des Autors dem Buch auf jeden Fall an. Figuren und Dialoge wirken auf den Punkt, vor allem aber die verschiedenen Details und Einzelheiten bei Landschaft, Setting und „Ausstattung“ machen den Roman rund. Ein paar Beispiele: Die Cowboystiefel mit Metallapplikationen, das Einzige, woran sich Beckmann bei dem Mann, der ihn überfallen hat, detailliert erinnern kann. Etwas später besucht Beckmann ein sardinisches Dorf, das einst bei Spaghetti-Western als Kulisse diente, und entdeckt vermeintlich die Stiefel seines Angreifers in der Menschenmenge. Oder die körperliche Reaktion des Journalisten Richter, der nach dem Bombenanschlag von seiner Freundin, einer OP-Schwester, versorgt wird und dem nicht nur buchstäblich die Nerven flattern. Oder die umstrittene Software von Palantir zur Datenanalyse, die hier letztlich zum Einsatz kommt und tatsächlich etwas zu Tage fördert.

Er ging langsam und vorsichtig. Bewusst sog er den aromatisch herben Duft der Macchia ein. […] Er war froh, wieder im Tal zu sein. Aber etwas war anders. […] Der Angriff aus dem Nichts hatte das Tal kontaminiert. Es hatte eine Gewalttat gegeben. Der Einbruch in seine Privatsphäre legte mehr als einen Hauch von Unsicherheit über das gesamte Anwesen. Beckmann hatte die Hoffnung, das würde sich bald wieder geben. Aber unbewusst war ihm klar, er würde möglicherweise dafür kämpfen müssen. (Auszug E-Book Pos. 631)

In „Verdeckte Spuren“ setzt der Autor Jochen Brunow die Spannungsmomente und vor allem die Spitzen sehr dosiert ein. Die wahre Leistung liegt in der Gesamtkomposition. Bei den Schauplätzen fasziniert vor allem Sardinien. Die Figuren sind bis in die Nebenrollen eingehend und interessant beschrieben. Alles in allem ein empfehlenswerter Kriminalroman für Kenner, der weniger über die Spannung und das Tempo, als mehr über Atmosphäre, Figuren und Details kommen.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Verdeckte Spuren | Erschienen am 26.03.2025 im Ars Vivendi Verlag
ISBN 987-3-7472-0656-0
320 Seiten | 18,- €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Volker Kutscher | Rath (Band 10)

Volker Kutscher | Rath (Band 10)

Und dann sagte er einen Satz, von dem er nicht gedacht hätte, dass er ihn jemals wieder sagen würde, aber er sagte ihn. „Eine Fahrkarte nach Berlin, bitte.“ (Auszug E-Book Pos. 3843 von 9095)

Diesen Satz sagt tatsächlich Gereon Rath im Herbst 1938. Der in Deutschland nach einer Schießerei für tot Erklärte, Charlotte erhält sogar eine Witwenrente, lebte zwei Jahre mit neuer Identität in den USA. Er verlässt mit seinem Bruder Severin Rath die USA, da sie ihren im Sterben liegenden Vater nicht alleine lassen wollen. Gereon taucht erst mal unter falschem Namen in Rhöndorf im Haus des ehemaligen Kölner Oberbürgermeisters Konrad Adenauer unter, einem Vertrauten seines Vaters. Er trifft sich einmal im Monat heimlich mit seiner Frau Charly und wartet nur auf den richtigen Moment, Deutschland gemeinsam Richtung USA zu verlassen. Doch Engelbert Rath stirbt nicht so schnell und Charly will Deutschland nicht ohne ihren ehemaligen Pflegesohn Friedrich Thormann verlassen.

Fritze steht unter Verdacht, zwei Hitlerjungen getötet zu haben und hat sich erst mal aus dem Staub gemacht. Charly kann das nicht glauben und als Angestellte der Privatdetektei Böhm macht sie sich selbst an die Aufklärung. Dazu muss sie erst mal Fritze finden. Zuvor war Hannah, seine jüdische Freundin bei einer Zwangssterilisation angeblich aufgrund unvorhersehbarer Komplikationen verstorben. Charly kehrt sogar wieder zur Kriminalpolizei zurück, die allerdings längst zum Handlanger der Gestapo geworden ist. Hier weiß sie nicht mehr, wem sie noch trauen kann. Jeder scheint jeden zu bespitzeln und es herrscht eine Atmosphäre von Misstrauen und Denunziation.

„Dann lassen Se uns mal anstoßen“, sagte er und hob sein Glas, „Auf die Jesundheit Ihres Herrn Papa und auf den Weltfrieden.“ „Da haben Sie recht, die haben’s beide nötig“, sagte Rath. „Beim Weltfrieden möjen Sie recht haben, aber um ihren Vater machen Se sich mal kejne Sorgen, der ist ein zäher Brocken.“ (Auszug E-Book Pos. 3233 von 9095)

Es dauert ganz schön lange, bis Gereon in der Geschichte auftaucht. Wie schon im Vorgängerband „Transatlantik“ spielt er nur eine untergeordnete Rolle und lange ist Charlotte Rath die Protagonistin. Erst als seine Ehefrau nicht mehr zu den heimlichen Treffen erscheint, macht er sich auf nach Berlin um sie zu suchen. Charly wurde aus unbekannten Gründen in ein Konzentrationslager gesteckt.

Der zehnte und finale Band ist weniger Krimi mit polizeilichen Ermittlungen und der Suche nach einem Mörder. Als Leser:in hat man auch schon relativ zügig einen Verdacht, wer der wahre Täter ist. Vielmehr spannt Kutscher die Fäden zwischen den bekannten Figuren, lässt einige aus dem Romanzyklus noch mal auftauchen und schildert anhand eines stimmigen Plots den Weg in eine Diktatur. Die Nazizeit und die Verstrickungen der Protagonisten in das NS-System nehmen einen immer breiteren Raum ein. Es gibt bedrückende Szenen einer Massendeportation von Juden und Jüdinnen an der polnischen Grenze, brutale Folterungen im Konzentrationslager bis zu den unmenschlichen Geschehnissen am 9. November 1938. Sehr eindrücklich werden die Ereignisse der antisemitischen Progromnacht mit brennenden Synagogen, zusammengeschlagenen und ermordeten Menschen geschildert. Schwer zu ertragen und folgerichtig endet die Reihe mit diesem Datum, denn die Progromnacht ist für den Autor der „Point of no Return“. Für ihn das Ende der Zivilisation, eine Grenze, die er als Schriftsteller nicht überschreiten kann, wie er oft in Interviews erklärte.
Dafür gelingt es ihm, die Atmosphäre dieser verrohenden Zeit bildhaft einzufangen und ohne erhobenen Zeigefinger darzustellen, wie sich die Stimmung im Land gegen Gegner jeder Art verdüstert und radikalisiert und auch die Faszination der Durchschnittsbürger für diese faschistische Ideologie einigermaßen greifbar zu machen.

Einige lose Fäden aus den vergangenen Bänden werden zusammen-, aber nicht alle Erzählstränge zu Ende geführt; einige bleiben offen. Aber man muss nicht endgültig von den liebgewonnen sowie verhassten Charakteren Abschied nehmen. Volker Kutscher hat schon verraten, dass er nach zwei kleinen illustrierten Büchern, „Moabit“ und „Mitte“, einen dritten geplant hat. Dafür wird er sich mit der Illustratorin Kat Menschik wieder in den Rath-Kosmos begeben.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Rath | Erschienen am 24. Oktober 2024 bei Piper
ISBN 978-3-492-07410-0
624 Seiten | 26.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Andys Rezensionen zu weiteren Romanen der Reihe

Jurica Pavičić | Mater Dolorosa

Jurica Pavičić | Mater Dolorosa

Sie lief nach draußen, an die frische Luft, in die belebende Kälte, nur weg von den Menschen. Sie lief nach Hause, und durch ihren Kopf wirbelten grausame Bilder von dem ,was sie gerade gehört hatte. Sie dachte an Schnitte und Würgemale. Und ihr ging es besser. Denn eins wusste sie: Das konnte nicht Mario gewesen sein. Denn so etwas hatte Mario nicht in sich. Er hatte keinen Funken Aggression oder Böses in sich. Und das wusste jeder, der Mario gut kannte, so gut wie sie. (Auszug E-Book, S. 147)

Im kroatischen Split wird in einer alten Industriebrache die Leiche einer jungen Frau gefunden. Sie war vorher mit einer Freundin in einem Club, hatte sich offenbar mit ihrem späteren Mörder dort verabredet. Doch niemand hat den Mörder gesehen, lediglich der Autotyp wird identifiziert. Der Ermittlungsdruck der Polizei ist groß, über das Fahrzeug gerät ein aktenkundiger Sexualtäter ins Visier. Doch obwohl er extrem unter Druck gesetzt wird, gesteht er nicht und eindeutige Indizien, die ihn mit der Tat in Verbindung bringen gibt es nicht. Der junge Ermittler Zvone verfolgt währenddessen eine ganz andere Spur. Er vermutet den Täter im Bekanntenkreis. Durch gewisse Indizien verdichtet sich sein Verdacht auf eine Person.

Als die Polizei ein blutiges Kleidungsstück und ein abgerissenes Stück einer Tasche dem Täter zuordnet und der Öffentlichkeit präsentiert, können es Katja und ihre erwachsenen Tochter Ines kaum fassen. Diese Dinge gehören ihrem Sohn bzw. Bruder Mario und weitere Beweisstücke hat er noch zu Hause. Dies bringt die Familie vor eine riesige Zerreisprobe, während die Mutter alles verdrängt und Mario schützen will, hadert Ines mit sich, ob sie die Familie oder den Verrat zugunsten der Gerechtigkeit wählt.

Ich habe Jurica Pavičić als Autor vor einigen Jahren mit seinem Roman „Die Zeugen“ kennengelernt, später habe ich auch „Blut und Wasser“ von ihm gelesen. Beides überzeugende Roman, die sich in einem Grenzbereich zwischen Roman und Kriminalroman befinden. Pavičić legt zumeist einen Kriminalfall seinen Romanen zugrunde, verweigert sich dann aber den üblichen Schemeta, sondern beleuchtet die einzelnen Figuren und ihm gelingt darüber auch ein gesellschaftliches Panorama. So auch in „Mater Dolorosa“: Der Tod einer jungen Frau ist das Vehikel, um drei Personen näher zu kommen. Zvone, der junge Ermittler, der mit seinem verwitweten, kriegsversehrten Vater zu Hause lebt und als einziger Polizist die Spuren richtig deutet und die Identität des Mörders errät. Doch es fehlen die Beweise und niemand belastet den Täter. Wie weit will er gehen, um der Gerechtigkeit genüge zu tun? Ines, die Schwester des Mörders, der langsam klar wird, dass ihr Bruder der Täter ist und die irritiert ist, wie die Familie damit umgeht und zweifelt, ob sie ihren Bruder decken soll. Mehr noch, als herauskommt, dass sie mit ihrem verheirateten Chef eine Affäre hat, ist sie plötzlich überall unten durch und in der Defensive. Katja, die Mutter des Täters, gläubig, ist die „schmerzensreiche Mutter“. Sie ignoriert das Offensichtliche, will die Tat des Sohnes unbedingt unter den Teppich kehren, hat aber gleichzeitig kein Verständnis für ihre Tochter.

Pavičić schreibt die Geschichte abwechseln aus den Perspektiven der drei Hauptfiguren. Der Mörder, Mario, erscheint nur am Rande als antriebslose Person. Eine vollständige Aufklärung findet nicht statt, es gibt kein Geständnis, dennoch sprechen Indizien eine eindeutige Sprache. Doch das ist hier nicht entscheidend, denn die inneren Konflikte der drei Protagonisten zwischen Familie, Loyalität, Gerechtigkeit und Verrat sind entscheidend. Zudem scheinen die Konflikte in der kroatischen Gesellschaft durch, soziale Unterschiede, die Rolle der Frau, Spannungen zwischen alt und jung, die perspektivarme Generation der Kriegsveteranen, die immer noch bestehende Macht der Kirche – all das flechtet der Autor gekommt in diesen Roman ein. Er erinnert mich dabei an die ebenfalls von mir sehr geschätzte argentinische Autorin Claudia Piñeiro. „Mater Dolorosa“ ist ein in der Grundstimmung sehr melancholischer Roman, der zeigt, wie vielseitig das Krimigenre sein kann, und aus meiner Sicht unbedingt empfehlenswert.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Mater Dolorosa | Erschienen am 22.01.2025 im Verlag Schruf & Stipetic
ISBN 987-3-944359-81-6
356 Seiten | 16,90 €
als E-Book: ISBN 987-3-944359-91-5 | 12,99 €
Originaltitel: Mater Dolorosa | Übersetzung aus dem Kroatischen von Blanka Stipetic
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Weitere Rezensionen auf dem Blog zu Romanen von Jurica Pavičić

 

Morgan Audic | Das kalte Schweigen der See

Morgan Audic | Das kalte Schweigen der See

Fangen wir mal ausnahmsweise mit einem kleinen Rant an. Der betrifft den deutschen Titel des Buches und das Cover. Als Nicht-Autor stelle ich es mir schwierig vor, einem Buch seinen Titel zu geben. Wenn es allerdings aus einer fremden Sprache übersetzt wird, hat der Autor natürlich schon eine Vorgabe gegeben, an die man sich allerdings nicht halten muss. Wenn man in der deutschen Übersetzung vom Originaltitel abweicht, sollte man allerdings gute Gründe dafür haben. Ich kann es vorwegnehmen, die gab es hier aus meiner Sicht nicht. Autor Morgan Audic gab seinem Thriller den wie ich finde wunderbaren Titel „Personne ne meurt à Longyearbyen“, „Niemand stirbt in Longyearbyen“. Ein Titel, der zum einen mit dem Inhalt verknüpft ist, denn es wird erläutert, dass man auf Spitzbergen Todesfälle tunlichst vermeidet. Die Einwohner bleiben meist nur temporär auf diesem kargen Stück Land im Nordpolarmeer, es gibt nur wenige wirklich alte Menschen, ernste Krankheitsfälle werden ans Festland nach Norwegen gebracht. Und dennoch zeigt der Plot, dass sehr wohl jemand stirbt, in diesem Fall gewaltsam – und führt den Titel charmant ad absurdum. Der deutsche Titel „Das kalte Schweigen der See“ kann zwar behaupten, dass es im Buch um Meeresforschung geht, ist aber letztlich ein langweiliges Marketingkalkül. Dass noch durch den furchteinflössenden Eisbären auf dem Cover ergänzt wird (die französische Ausgabe macht es leider auch). Ja, ein Eisbär kommt am Anfang prominent vor, aber das wirkt auf mich etwas plump. Echt schade, dass der Verlag hier Cover, Titel und Inhalt nicht angemessen zusammenhalten kann

Nun aber zum Inhalt. Longyearbyen auf Spitzbergen, eine der nördlichsten Siedlungen der Erde. Früher wurde vor allem Kohle gefördert, heute lebt die Stadt hauptsächlich von Tourismus und Forschung. Die Besonderheit von Spitzbergen: Durch einen alten Vertrag besitzen auch die Russen Schürfrechte und haben ihre Präsenz aus geostrategischen Grund nie aufgegeben. Auf Spitzbergen ist der Eisbär das größte Raubtier, daher müssen alle Bewohner außerhalb der Siedlungen eine Waffe mit sich führen. Dies scheint auch der jungen Forscherin Agneta Sørensen zum Verhängnis geworden sein, die den Kadaver einer Pottwals untersuchen wollte. Offenbar wurde sie von einem Eisbär überrascht, hatte kein Gewehr dabei und wurde getötet. Doch die ermittelnde Kommissarin Lotte Sandvik hat von Beginn an ein komisches Gefühl. Die Forscherin galt als gewissenhaft, hatte sonst immer ihr Gewehr dabei. Die beiden russischen Sicherheitsleute, die die Leiche gefunden haben, scheinen ihre Aussagen abgestimmt zu haben. Bald wird es Gewissheit: Die junge Frau wurde ermordet und später einem Eisbären zum Fraß vorgelegt.

Sie wurde von einem vagen Unbehagen ergriffen. Irgendetwas stimmte nicht mit diesem menschlichen Körper. Natürlich waren da die offenkundlichen Spuren der Bestialität des Bären. Bisse, Kratzspuren, zerfetzte Haut. Aber sie hatte das gefühl, noch etwas anderes wahrzunehmen. Etwas wie eine menschliche Absicht. (Auszug E-Book Pos. 149)

Währenddessen fliegt der Reporter Nils Madsen nach Tromsø. Auf den Lofoten hat seine langjährige Kollegin und ehemalige Lebenspartnerin Åsa Hagen Selbstmord begangen, ist einfach von einer Brücke ins kalte Meer gesprungen. Madsen – voller Trauer – kann sich nicht so einfach mit dem Selbstmord abfinden und beginnt zu recherchieren. Dabei kommt schnell heraus, dass Åsa bedroht wurde. Sie betrieb ein Unternehmen für Whalewatching und setzte sich auch sonst sehr für die Meeressäuger der Region ein. Ein Engagement, für das sie von den lokalen Fischern angefeindet wurde. Madsen sammelt immer mehr Indizien, die für einen Mord sprechen – und bringt sich selbst in die Schusslinie.

Autor Morgan Audic ist im Hauptberuf Gymnasiallehrer für Geographie und Geschichte. „Das kalte Schweigen der See“ ist sein dritter Roman, der erste in deutscher Übersetzung. Die Grundidee zu diesem Plot kam ihm nach eigenen Angaben bei einer Fahrt auf einem Schiff einer Umweltorganisation in der Normandie. Der Background des Autors wirkt sich auch auf das Geschehen im Buch aus. Der Mord an zwei Personen, die Meeresforschung betreiben oder sich für den Schutz des Meeres einsetzen, lässt auf einen Ökothriller schließen. Tatsächlich dreht sich einiges um das Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Doch Audic fächert es breiter auf, bringt viel Landeskunde, Historie und vor allem auch Geopolitik mit in die Handlung ein.

Nicht ganz neu ist die Wahl der Protagonisten und vor allem ihr angeknackstes Seelenleben. Während Lotte Sandvik aufgrund eines traumatischen Einsatzes in ihrer vorherige Dienststelle in Oslo unter einer Angststörung leidet, die sie versucht, vor den Kollegen zu verheimlichen, ist Nils Madsen als Kriegsberichterstatter ein Getriebener, der es im ruhigen, beschaulichen Norwegen kaum aushält. Die Spannungskurve und der Aufbau des Romans sind gut gewählt, nach ein paar Kapiteln wechselt der Schauplatz und die Perspektive. Interessant ist zudem, dass dem Leser natürlich klar ist, dass beide Fälle miteinander zu tun haben müssen, Audic die beiden Handlungsstränge aber erst sehr spät zusammenführt.

Zusammenfassend kann ich sagen, dass mir der Roman ganz gut gefallen hat. Morgan Audic schafft es, ein interessantes polares Setting mit einem nicht alltäglichen Plot zu verknüpfen. Da kann man einen nicht ganz so gelungenen deutschen Titel (und Cover) ganz gut verschmerzen.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Das kalte Schweigen der See | Erschienen am 17.04.2024 im Hoffmann & Campe Verlag
ISBN 978-3-455-01821-9
416 Seiten | 24,- €
Originaltitel: Personne ne meurt à Longyearbyen | Übersetzung aus dem Französischen von Tobias Scheffel und Claudia Steinitz
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Deon Meyer | Die Stunde des Löwen (Band 9)

Deon Meyer | Die Stunde des Löwen (Band 9)

„Wem gehört das Geld?“ „Das ist ja das Interessante daran! Wir schaden niemandem. Es ist ein Teil des Geldes, dass die Chandas dem Staat gestohlen haben. Sie konnten es nicht außer Landes bringen.“ Natürlich wusste Christina über die drei indischen Geschäftsleute Bescheid, Brüder, die angeblich dabei geholfen hatten, ihr Heimatland Hand in Hand mit dem ehemaligen Präsidenten gewissenlos auszuplündern. (Auszug E-Book Pos. 310 von 8292)

Im 9. Band der Reihe um die Kapstädter Polizisten Bennie Griessel und Vaughn Cupido ist von beiden Protagonisten erst mal nicht die Rede. Stattdessen verfolgen wir Christina „Chrissie“ Jaeger, die im Okavango-Delta seit einigen Jahren als Safari-Guide wohlhabende Touristen betreut. Als Igen Rousseau ihr einen gut bezahlten Job in Pretoria anbietet, kann sie aufgrund ihrer Verbundenheit zu dem ehemaligen Militärkameraden ihres verstorbenen Vaters nicht absagen.

Die Honigfalle und der Zwanzig-Millionen-Dollar-Raub
Geplant ist ein Überfall auf ein Lagerhaus, in dem rund 20 Millionen Dollar deponiert sind. Chrissie soll als sogenannte Honigfalle mit kühlem Kopf die Wärter ablenken und ihre Kontakte am Kap aktivieren, um nachher die Dollar zu wechseln. Auf den nächsten Seiten lesen wir detailliert, aber auch rasant und packend, wie der Raubzug geplant und vorbereitet wird. Es handelt sich dabei um Geld und Gold, welches vom ehemaligen Präsidenten Südafrikas und seinen engsten Vertrauten widerrechtlich beiseitegeschafft wurde. Und als Leser bangt man mit Chrissie und den anderen Vier, die den Coup durchziehen. Doch was so todsicher geplant war, endet in einer regelrechten Katastrophe.

In einem weiteren Handlungsstrang leiden Griessel und Cupido immer noch unter der Strafversetzung aus der Sondereinheit Valke nach Stellenbosch, besonders weil sie hier nur mit routinemäßiger Polizeiarbeit beschäftigt werden. Während Vince Cupido alles dransetzt, sich zu rehabilitieren, um sowohl den alten Rang wie auch den alten Arbeitsplatz zurückzuerobern, hat Bennie Griessel die Arbeit in Stellenbosch zu schätzen gelernt. Weniger Stress, geregelte Arbeitszeiten und geringere Gewaltverbrechen. Am meisten stresst ihn momentan die bevorstehende Heirat mit seiner großen Liebe Alexa. Die geplante Hochzeit erlebt er eher als Kette lästiger Termine, die er im Stress der Ermittlungen nur mühsam einhalten kann.

Als eine junge Mountainbikerin tot neben ihrem Fahrrad aufgefunden wird, ist wieder ganz altmodisch Laufarbeit angesagt. Die Spuren deuten darauf hin, dass sie von Hunden angefallen wurde und dabei unglücklich stürzte. Ein in der Nähe wohnender Hundebesitzer, der als Täter in Frage käme, streitet vehement alles ab. Noch bevor ihm nachgewiesen werden kann, dass seine Rottweiler die Schuld am Tod der Studentin tragen, wird Basie Small grausam ermordet in seinem Haus aufgefunden. Die Tiere wurden erschossen und bei Small deuten Folterspuren darauf hin, dass man ein Zeichen setzen wollte. Im Haus finden die Ermittler auch eine große Sammlung von Sturmgewehren. Sie wundern sich auch über den üppigen Lebensstil, den der ehemalige Elitesoldat und Ausbilder im Ruhestand pflegte.

„Die Katze ist aus dem Sack, Colonel. Vielleicht weiß jemand da draußen etwas. Über das, was Small getrieben hat. Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit kann also nicht schaden.“ „Ein Elitesoldat weiß, wie man Spuren verwischt“, bemerkte Griessel. „Allerdings“, sagte Cupido. „Das wird einen Shitstorm geben“, unkte Jansen. „Ein Elitesoldat. Der Leibrandt-Fall, die Hunde, der Bauschaum. Ich darf gar nicht daran denken!“ (Auszug E-Book Pos. 2794 von 8292)

Auf den Mord an Small folgt ein weiterer ziemlich ähnlich gelagerter Todesfall. Mit den Ermittlungen zu den möglicherweise zusammenhängenden Morden haben Griessel und Cupido offensichtlich höchste Stellen aufgeschreckt, denn sie werden von den Ermittlungen abgezogen. Obwohl ihnen die Fälle entzogen wurden, sorgt Mbali Kaleni, ihre frühere, integre Chefin bei der Valke für eine Versetzung der beiden an die neugegründete NPA (National Prosecuting Authority), um unter dem Radar weiter nachzuforschen. Auch wenn sie es noch nicht ahnen können, haben unsere beiden Helden gewissermaßen unbemerkt in ein Wespennest gestochen.

Südafrikas Realität
Deon Meyer schreibt nicht nur fiktive Thriller, sondern nutzt seine Romane auch dafür, den Zustand seiner Heimat Südafrika offenzulegen. Dabei inspirierten ihn die Gerüchte über den früheren libyschen Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi, der angeblich riesige Geld- und Goldmengen bei seinem Präsidentenfreund in Südafrika verstecken ließ. Der Thriller ist eine ungeschminkte Kritik an den Zuständen in Südafrika und dennoch spürt man zwischen den Zeilen, wie sehr der Autor seine Heimat liebt und die Plünderung des Landes einschließlich der Korruption bis in die höchsten Kreise verabscheut.

„Die Stunde des Löwen“ beinhaltet wieder alles, was ich an der Reihe so liebe. Den Dialogwitz zwischen dem melancholischen Griessel und seinem Partner. Filmreife Action-Szenen, wie zum Beispiel im rasanten Showdown unter dem Einsatz von Flugzeugen, Motorrädern und einem rasendem Bennie, der pünktlich zu seiner Hochzeit erscheinen muss. Ein komplexer Plot, bei dem die beiden Erzählstränge fast bis zum Schluss nebeneinander herlaufen und man keine Ahnung hat, wie sie zusammenhängen. Und natürlich die Spannung von der ersten Seite an, wenn die Durchführung des abenteuerlichen Raubzuges geplant wird und ich den stimmungsvollen Thriller nicht aus der Hand legen konnte.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Die Stunde des Löwen | Erschienen am 17. September 2024 bei Rütten & Loening
ISBN 978-3-352-01006-4
605 Seiten | 22,00 Euro
Originaltitel: Leo | Übersetzung aus dem Afrikaans von Stefanie Schäfer
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Alle Rezensionen zu Romanen von Deon Meyer auf Kaliber.17