Kategorie: noir | hardboiled

George P. Pelecanos | Das dunkle Herz der Stadt

George P. Pelecanos | Das dunkle Herz der Stadt

Wie der meiste Ärger in meinem Leben, der mir widerfahren ist oder den ich mir eingebrockt habe, fing auch der in jener Nacht mit einem Drink an. (Auszug Seite 7)

Nick Stefanos war früher Cop und auch Privatdetektiv. Jetzt steht er mehrmals die Woche im Spot, einer Bar in Washington D.C. hinter der Theke und ist hier oft sein bester Kunde. Nicht ideal für den Alkoholiker, der immer nur so lange funktioniert, bis ein weiterer Alkoholexzess ihn wieder aus der Bahn wirft. So beginnt auch diese Geschichte. Nach einer durchzechten Nacht mit einigen Blackouts wacht Nick desorientiert im Hafengebiet des Anacostia River auf. Dunkel erinnert er sich, den gedämpften Knall eines Schalldämpfers gehört zu haben. Und tatsächlich liegt die Leiche eines schwarzen Jugendlichen erschossen am Flussufer. Anonym verständigt er die Polizei und verschwindet.

Der tote Junge lässt Stefanos jedoch keine Ruhe, und da die Polizei den Mordfall schnell unter Bandenkriminalität zu den Akten legt, macht er sich selbst auf die Suche nach den Mördern von Calvin Jeter. Das Spot ist auch die Stammkneipe vieler Detectives der Metropolitan Police und so erfährt Nick einige Einzelheiten zu dem Fall, zum Beispiel dass Calvins bester Freund Roland Lewis seit einiger Zeit verschwunden ist. Bei seinen Ermittlungen trifft er auf den Privatdetektiv Jack LaDuke, der von Rolands Mutter beauftragt wurde, den vermissten Teenager zu finden. Der schlaksige, jungenhafte LaDuke wirkt wie der nette Junge von nebenan, verbirgt aber eine äußerst dunkle Seite. Er ist neu in der Stadt und mit dem Auftrag, den verschwundenen Freund des Mordopfers ausfindig zu machen, ziemlich überfordert. Gemeinsam stößt das ungleiche Duo auf einen Sumpf aus Drogen, Prostitution und Pornografie und begeben sich in große Gefahr. Als eine Spur ins Pornomilieu führt, verdichtet sich der Verdacht, dass sich die beiden Jungen leichtsinnig auf ein gefährliches Spiel eingelassen haben.

Die Geschichte wird aus der Ich-Perspektive ganz in der Tradition des Hardboiled-Krimis erzählt und wir begleiten den Gelegenheitsdetektiv bei seinen Recherchen durch die Kneipen, Bars und dunklen Winkeln diese Stadt. Der musikverrückte, griechisch-stämmige Nick Stefanos ist der typische Antiheld, der sein Leben nicht wirklich im Griff hat und von einem Alkoholexzess zum nächsten schlingert. Trotzdem verfügt er über ein gutes Gespür sowie Menschenkenntnis und es gelingt ihm den Fall bei halbwegs klarem Verstand voranzutreiben. Er ist vielleicht desillusioniert, aber gar nicht so abgebrüht und zynisch. Halt findet er in der leidenschaftlichen Beziehung zu seiner Freundin Lyla, bis er begreift, dass er die Journalistin aufgrund ihres Lebenswandels unweigerlich mit ins Elend treiben wird.

Ich hätte Boyle noch mal anrufen und alles abblasen können. Dann wäre es vielleicht zwischen Lyla und mir nicht so gekommen, wie es kam, und ich wäre nie Jack LaDuke begegnet. Aber Neugier ist wie ein knackiger Arsch, von dem man besser die Finger lassen sollte. Am Ende packt man doch zu. (Auszug Seite 27)

Die detaillierten Einblicke in Nicks unbeständiges Privatleben und seine persönlichen Probleme nehmen einen großen Raum in der Geschichte ein, vermitteln aber auch zugleich ein authentisches Bild des Milieus. Während die Ermittlungen zum Mordfall anfangs nur zäh voranschreiten, nimmt der Krimiplot ab der zweiten Hälfte an Fahrt auf. Nach einigen unvorhersehbaren Wendungen gipfelt der Krimi in einem packenden, actiongeladenen Finale und konfrontiert uns zudem mit moralisch recht bedenklichen Entscheidungen.

George Pelecanos portraitiert in seinem Roman die wahren Verlierer der Stadt. Er erzählt von den einfachen Menschen, die sich unter schwierigsten Bedingungen, wie die soziale Schieflage, den alltäglichen Rassismus und Homophobie durchs Leben kämpfen. Es ist ein Leben am Rande der Gesellschaft voller Gewalt, Drogen und Hoffnungslosigkeit. Präzise beobachtet wartet er mit fein ausgearbeiteten Charakteren auf, einschließlich vieler suspekter Figuren, die vom Elend der anderen profitieren und vor nichts zurückschrecken. Der amerikanische Autor mit griechischen Wurzeln ist in Washington D.C. aufgewachsen. Die milieugetreuen Beschreibungen der Schauplätze stehen im Vordergrund und erzeugen ein stimmiges Sittenbild der Metropole Anfang der 90er Jahre und machen sie fast körperlich greifbar. Die Sprache ist prägnant und trockener Humor blitzt immer wieder in den Dialogen durch.

Als ich beim Stöbern auf den Roman stieß, war mir nicht klar, dass es sich um den dritten Teil der Nick-Stefanos-Trilogie handelt. Der im Original bereits 1995 erschienene Roman ist bisher der einzige ins Deutsche übersetzte und kann für sich alleine gelesen werden.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Das dunkle Herz der Stadt | Erschienen am 21. August 2018 im Ars Vivendi Verlag
ISBN 978-3-8691-3917-3
248 Seiten | 20,00 Euro
Originaltitel: Down by the River Where the Dead Men Go | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Karen Witthuhn
Bibliografische Angaben und Leseprobe

Megan Abbott | Wage es nur!

Megan Abbott | Wage es nur!

Es gibt kaum etwas Amerikanischeres als Cheerleader. Athletische, gutaussehende Mädchen und junge Frauen, die in knappen Kostümen das jeweilige Sportteam supporten, die Zuschauer animieren und akrobatische Kunststücke vollführen. Dass so manches breite Lächeln dabei eher aufgesetzt ist und dieses Hobby aus harter Arbeit und vielen Entbehrungen besteht – das konnte selbst der absolute Laie vermuten. Zu welcher Dynamik aber ein Cheerleader-Team fähig ist, das lotet Megan Abbott in ihrem neuesten Noir „Wage es nur“ hinlänglich aus.

Die Geschichte wird als Ich-Erzählerin von Addy Hanlon erzählt, 16 Jahre alt. Sie ist Teil ihres High School Cheerleader Teams. Anfangs war es nur ein Zeitvertreib, wie sie selbst erklärt, um die Zeit totzuschlagen, bis endlich etwas passiert. Doch inzwischen lebt sie fürs Cheerleaden, lässt sich völlig davon vereinahmen. Ihre beste Freundin ist Beth Cassidy, das Top Girl, die Anführerin des Teams und diejenige, die sagt, wo es in ihrer Freundschaft lang geht. Zu Beginn der neuen Saison kommt nun eine neue Trainerin zum Team: Colette French. Zunächst etwas unnahbar und hart, lässt sie das Team aber auch an sich heran und verbringt auch außerhalb der Sporthalle Zeit mit ihnen. Coach Colette merkt aber bald, dass sie die Mädels nur dann vollständig hinter sich bringen und auf ein neues Level bringen kann, wenn sie die bestehenden Hierarchien aufbricht.

Weil Coach Beth als das erkennt, was sie ist, und weiß, dass sie sie stürzen muss.
Und Tacy?
Eine Schachfigur. (S.56)

Das Amt der Kapitänin wird abgeschafft, ein neues Top Girl (das bei den Figuren ganz oben steht) aufgebaut. Zudem bemüht sich Colette sehr um Addy, die sich allzu gerne darauf einlässt und die Lebenserfahrung ihrer Coachin förmlich aufsaugen will. Das lässt das Alphatier Beth natürlich nicht auf sich sitzen. Beth ist die geborene Intrigantin, sie sät Zwietracht und spinnt im Hintergrund die Fäden. Und sie weiß genau, welche Knöpfe sie drücken muss. Als Addy und sie Colette bei einem Seitensprung überraschen, ist der Angriffspunkt gefunden.
Der Roman beginnt damit, dass Colette Addy eines Nachts um Hilfe bittet. Offensichtlich ist jemand zu Tode gekommen. Die Szene wird dann in der Mitte des Romans wieder aufgegriffen. Bis zuletzt wird im Folgenden um die Umstände gerungen und wer welche Verantwortung dafür trägt, dass es so weit gekommen ist.

„Wenn man von außen schaut“, sagt sie, und ihr Mund steht erschrocken offen, „sieht es aus, als wolltet ihr euch gegenseitig umbringen, und auch euch selbst umbringen.“ (S.273)

Megan Abbott schreibt aus der Sicht von Abby und findet einen überzeugenden Ton einer Heranwachsenden, die die Schwelle zum Erwachsenwerden so langsam überschreitet und dementsprechend noch von Unsicherheit geprägt ist. Die Geschehnisse zwischen den Cheerleader-Mädchen sind geprägt von Zickenkrieg, Dominanzgehabe, Eifersucht und Manipulation. Das Cheerleadern und die Auftritte katapultieren die Mädchen auf eine andere Ebene, dafür hungern sie und ertragen Schmerzen. Sie bereiten sich akribisch vor, ihre Schminke, ihr Glitzer, ihre Kostüme sind eine Art Rüstung für ihren eigenen Gladiatorenkampf. Abbott schildert diese Atmosphäre im Locker Room eindringlich und prägnant (auch die Übersetzung durch Karen Gerwig sei an dieser Stelle gewürdigt) und dringt tief in die Psyche der Mädchen ein – ohne dass man als Leser diese Hormondurchflutung vollständig nachvollziehen könnte. Doch das diese Atmosphäre toxisch ist und auf eine Katastrophe hinausläuft, ist sofort klar. Insgesamt ein etwas anderer Noir, anregend und bedrohlich, der beweist, dass das Dunkle auch in Pompons daherkommen kann.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Wage es nur | Erschienen am 30.04.2024 bei Pulp Master
ISBN 978-3-946-58218-2
342 Seiten | 16,- €
Originaltitel: Dare me | Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Karen Gerwig
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Eli Cranor | Bis aufs Blut

Eli Cranor | Bis aufs Blut

Am Ende einer unbefestigten Straße kommen sie an den Arkansas River. Der Fluss entspringt in Colorado, dort ist das Wasser frisch und kühl wie in einer Bierwerbung. Nachdem er die Ozarks passiert hat, wo er durch ausrangierte Matratzen und Geschirrspüler fließt und den ganzen übrigen Müll, den die Rednecks in den Bergen abladen, hat der Fluss die Farbe von Kakao und riecht wie abgestandenes Bier. (Auszug S. 138)

Denton ist ein Kaff in Arkansas, in den Hügeln der Ozarks. Irgendwo im Nirgendwo, im abgehängten Teil der USA. Größtes Aushängeschild des Ortes sind die Denton Pirates, das örtliche High School Footballteam. Die Pirates befinden sich nach langen harten Jahren auf Play Off-Kurs. Hoffnungsträger der Mannschaft ist Running Back Billy Lowe. Ein sehr talentierter junger Mann, der allerdings aus sehr schwierigen Verhältnissen kommt. Er wächst im einem Trailer mit seiner alkoholabhängigen Mutter und seinem gewalttätigen Stiefvater auf. In Billy brodelt es. Nur beim Football gibt hat er Gelegenheit, seine angestaute Wut und Aggressivität herauszulassen, was dazu führt, dass er die Grenzen nicht immer einhält. Als er beim Training einen Mitspieler verletzt, gerät eine tragische Spirale in Gang.

Mehrere Eltern und auch der Schulleiter fordern vom Footballcoach Trent Powers Konsequenzen. Doch dieser zögert, denn zum einen ist der Erfolg der Mannschaft stark von Billys Leistung abhängig und zum anderen erkennt er sich selbst in diesem wütenden und frustrierten Heranwachsenden wieder, da Powers als Kind durch verschiedene Pflegefamilien gereicht wurde. Dennoch droht Billy eine interne Sperre beim ersten Play off-Spiel. Zuhause kommt es zum einem Streit, Billy Mutter Tina verlässt mit Billys kleinem Bruder den Wohnwagen, der Stiefvater Travis bedroht Billy. Dieser schlägt ihn nieder und verlässt den Trailerpark. Später wird Travis von Tina tot aufgefunden, auch wenn sie zunächst nichts unternimmt, um den Tod zu melden. Währenddessen nimmt Coach Powers Billy bei sich zuhause auf, um ihn auf den rechten Pfad zu bringen. Doch damit bringt er zusätzlich noch seine Tochter Lorna, etwa gleichalt wie Billy, mit ins Spiel.

Ich nicke und lass den Kopf hängen. Will, dass sie glaubt, sie hätte mich erwischt. Ich hör, wie Lorna ausatmet, als ob sie auch nicht glaubt, dass ich das Buch gelesen hab. Ich schau hoch und guck nur Lorna an, will, dass sie mir bis in mein Herz guckt und weiß, dass sie mir vertrauen kann. Dass ich alles Mögliche bin – aber kein Lügner. (Auszug S. 196)

Mit diesem Roman gewann Eli Cranor als Debütant 2023 den Edgar Award. „Bis aufs Blut“ ist einer dieser typischen Country Noirs, die dem Leser vom abgehängten Teil der USA erzählen. Vom White Trash, von Trailerparks, Alkoholabhängigkeit, Perspektivlosigkeit. Von Rednecks, Rassismus, Konservatismus. Von Gegenden, in denen Leute schief angeguckt werden, wenn sie den Müll trennen oder ein Elektroauto fahren. Wie die Powers zum Beispiel, eine kalifornische Familie, die ein Jobangebot als Footballcoach für den bis dahin erfolglosen Trent in die Ozarks verschlagen hat und die am liebsten heute als morgen dort wieder wegwollen. Dafür ist aber eine erfolgreiche Footballsaison vonnöten. Insbesondere Trents Frau Marley ist bereit, einiges zu tun, um die Familie zu schützen und Denton bald hinter sich zu lassen. Wie viel, wird der Leser im Laufe des Romans herausfinden. Doch das betrifft auch Billys Mutter Tina. Wieder einmal sind es die Frauen, die der Geschichte nochmal eine entscheidende Wendung geben.

Der Roman erzählt aus mehreren Perspektiven, darunter aus Billys als Ich-Erzähler, eine Story von Wut, Perspektivlosigkeit und fehlendem Vertrauen. Dabei setzt Autor Eli Cranor auch auf den Kontrast zwischen den Lowes als Unterschicht und der Powers als (noch) gut situierte Familie. Dabei bewegt sich Cranor für meinen Geschmack an einigen Stellen hart am Schema F. Denn so mache der Figuren und manches im Plot glaubt man wiederzuerkennen. Dennoch ist „Bis aufs Blut“ bei allen (kleineren) Schwächen kraftvoll und stringent erzählt, besonders eindringlich in den Ich-Erzähler-Passagen von Billy. Insofern ist der Roman für alle Liebhaber dieses Genres sicherlich einen Blick wert.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Bis aufs Blut | Erschienen am 17.04.2024 im Atrium Verlag
ISBN 978-3-85535-179-4
304 Seiten | 24,- €
Originaltitel: Don’t Know Tough | Übersetzung aus dem Englischen von Cornelius Hartz
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Hervé Le Corre | Durch die dunkelste Nacht

Hervé Le Corre | Durch die dunkelste Nacht

Es ist dunkel und man sieht keine Bäume. Man sieht nichts außerhalb des Lichts der Straßenlaternen. Es ist Nacht, aber man sieht nicht mal die Nacht. (Auszug Seite 84)

Der Titel „Durch die dunkelste Nacht“ ist hier Programm. Es ist nicht das pittoreske, von Touristen für seinen Wein geliebte Bordeaux. Wir begleiten Commandante Jourdan von der Police Judicaire in die dunkelsten Ecken, finster und unwirtlich, es könnte jede Großstadt sein. Von der ersten Seite an regnet es ununterbrochen. Gleich am ersten Tatort findet die Polizei drei tote Kinder, noch im Schlafanzug, erschossen von ihrem Vater, die Mutter liegt im Bad, das Auge ausgeschossen. Der mörderische Vater ist auf der Flucht. Jourdan ist zutiefst erschüttert, unterdrückt nur mühsam seine Wut. Der desillusionierte Polizist zerbricht langsam an dem Elend, dass er täglich sieht, macht aber trotzdem fast zombiehaft immer weiter. Während er seiner Truppe Halt bietet, stürzt er immer mehr in Düsternis und Depressionen. Er ist der typische ausgebrannte Cop, später wird ihn seine schöne sowie kluge Frau Marlène verlassen, die Tochter Barbara geht mit. Als Marlène mit gepackten Koffern vor ihm steht, ist er nicht in der Lage, etwas zu sagen.

Dann machten sie sich wieder an die Arbeit. Jourdan hatte manchmal das Gefühl, der Tod schaute ihnen zu und glitt mit eisiger Präsenz umher, um sie am Arbeiten zu hindern, verstimmt, weil sie versuchten, Licht in das von ihm gesäte Dunkel zu bringen. (Auszug Seite 83)

Aber da ist der Frauenmörder, den er kriegen will. Und Jourdan ist gut in seinem Job. Ihm sind die gleichen Stichverletzungen bei mehreren weiblichen Opfern aufgefallen, die auf einen Serienmörder hindeuten. Weiter bringt die DNA eines Toten auf dem Trottoir vor dem Polizeigebäude die Polizei auf eine heiße Spur. Und auch der hektische Polizeialltag mit drogensüchtigen Zwangsprostituierten, Minderjährigen, die einen anderen Jungen wegen 100 Euro Schulden zu Tode prügelten sowie einer weiteren Frauenleiche, die seit vier Tagen in einem Abrisshaus liegt, geht unerbittlich weiter.

In einem zweiten Handlungsstrang lernen wir den Serienkiller kennen. Christian, ein Psychopath und ehemaliger Elitesoldat im Tschad wurde jahrelang von seiner Mutter missbraucht. Tagsüber arbeitet er als Lastwagenfahrer, nachts geht er mit dem Messer auf die Jagd nach Prostituierten und anderen Frauen. Man spürt, wie hier etwas aus dem Ruder läuft, wie Christian immer mehr eskaliert und die Kontrolle verliert.

Die dritte Perspektive besetzt Louise, eine junge alleinerziehende Mutter eines 8-jährigen Sohnes mit einem Händchen für die falschen Männer. Die junge Frau war nach dem Unfalltod ihrer Eltern in die Drogen- und Alkoholszene abgerutscht. Doch für ihren kleinen Jungen, ihren Sonnenschein, hatte sie sich aus dem Sumpf von Drogen, Sex und Gewalt herausgekämpft und schlägt sich als Haushaltshilfe für Senioren durch. Wäre da nicht ihr Ex-Freund, der sie immer wieder belästigt und schwer misshandelt. Louises angsterfülltes Leben setzt der Leserin zu, besonders die Weigerungen der Polizei, ihre Beschwerden ernst zu nehmen. Erst als Sam, ihr kleiner Sohn mit in die Gewaltspirale reingezogen wird, zieht Louise die Reißleine.

Jourdan versucht, in alldem einen Sinn zu erkennen: diese Verbrechen, die Täter, die Arbeit als Polizist. Festnehmen, verurteilen und bestrafen? Wozu, wo doch die Toten nicht wieder lebendig werden? (Auszug Seite 200)

Drei Menschen, deren Schicksale sich im Laufe der Seiten kreuzen. Jeder von ihnen geht durch seine eigene schauerliche Nacht, mit einem kurz auf blitzenden Hoffnungsschimmer, als sich Jourdan und Louise begegnen, der aber schnell wieder in der Dunkelheit versinkt. Erträglich wird diese beklemmende Geschichte durch die intensive fast poetische Sprache. Ganz großes Lob an die Übersetzerin Anne Thomas. Hervé Le Corre breitet seine Geschichte sehr wortreich aus, mit gnadenlosen Worten voll finsterer Schönheit, die die Verzweiflung einfühlsam beschreibt und einem Realismus, der nicht verschont. Hervé le Corre ist ein scharfsinniger Beobachter kleinster Gesten, ein Dialogschreiber von höchster Präzision, jedes Detail ist wichtig und trotzdem ist kein Wort zu viel. Von Anfang an zieht dieser desillusionierte Polizeiroman die Leserin in den Bann, in einen Strudel von Gewalt, Sprachlosigkeit und Schmerz. Ein außergewöhnlicher atemberaubender Roman, den man immer weiter liest, weil man stets auf einen Lichtblick hofft, der diese Nacht zu erhellen verspricht.

Hervé Le Corre ist schon länger einer der großen Namen des französischen Noir, und „Traverser la nuit“ ist nicht sein erster mit einem Krimipreis ausgezeichneter Roman, aber sein erster ins Deutsche übersetzter.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Durch die dunkelste Nacht | Erschienen am 15.01.2024 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-51847-369-6
339 Seiten | 17,- €
Originaltitel: Traverser la nuit | Übersetzung aus dem Französischen von Anne Thomas
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Ron Corbett | Cape Diamond (Band 2)

Ron Corbett | Cape Diamond (Band 2)

Springfield, eine fiktive kanadische Großstadt im Landesinneren an der nördlichen Wasserscheide. An einem Zaun eines Sportplatzes am Rande einer Hochhaussiedlung wird übel zugerichtet Augustus Morissey, Boss des heimischen Gangsterclans der Shiners, ermordet aufgefunden. Besonderes Detail: In seinem Mund wird ein äußerst wertvoller ungeschliffener Diamant gefunden. Detective Frank Yakabuski stößt bei seinen Ermittlungen auf viel Schweigen und wenig Interesse. Der Verdacht fällt auf die rivalisierende, kriminelle Truppe der North Shore Travellers. Auch von diesen wird kurz darauf jemand an der gleichen Stelle aufmordet aufgefunden. Es kommt zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, die Stadt gleicht einem Pulverfass, man erwartet täglich einen blutigen Bandenkrieg.

Die Shibers sind eine ursprünglich irische Schmugglerbande, die seit der ersten Besiedlung der Region (nach den Indigenen) mit den Travellers, die als Nachfahren von Sinti und Roma nach Kanada kamen, einen blutigen Bandenkrieg liefert. Beide Gruppen haben mittlerweile ihre kriminellen Aktivitäten diversifiziert. Durch den Diamantenfund kommt aber noch eine ganz andere Wendung in den Fall: Nicht allzuweit entfernt von Springfield befindet sich Cape Diamond, eine äußerst lukrative Diamantenmine. Allerdings auch mit äußerst strengen Sicherheitsvorkehrungen, sodass die Leitung der Mine es ausschließt, dass der Diamant entwendet worden sein kann.

Zudem kommt ein weiterer Erzählstrang hinzu: Von den Akteuren in Springfield unbemerkt, begleitet der Leser die Fahrt eines Killers aus Mexiko Richtung Kanada. Der kühle, rationale Mann fährt mit einem Campervan Richtung Norden und ist für alle Eventualitäten gut ausgerüstet. Bald schon zieht er eine Blutspur hinter sich her, da er alle Personen, die ihn an die Behörden verraten könnten, ausschaltet. Was der Leser bald weiß: Er hat einen Auftrag in Springfield. Doch wie hängt das mit den sonstigen Ereignissen zusammen?

Yakabuski fühlte sich wie der unter Zeitdruck geratene Künstler. Weil er das Bild einfangen wollte, bevor es ganz verschwand. Inzwischen war er überzeugt, dass in diesem Fall nichts so war, wie es auf den ersten Blick schien. Die Ermittlungen erinnerten an einen Stummfilm auf Zelluloid, als genug fürs Museum, ein Streifen in Schwarz-Weiß, ohne Anfang und Ende, sondern lediglich einem mysteriösen Mittelteil und ätzenden chemischen Emulsionen anstelle des Vor- und Abspanns. (E-Book Pos. 1842-1851)

Der zweite Teil der Reihe um den einzelgängerischen Detective Yakabuski führt wieder in die rauen, kargen Gegenden Kanadas am Rande des borealen Nadelwalds, obwohl Autor Ron Corbett mit Springfield eine großstädtisches Setting ebenfalls erschafft. Yakabuski ist ähnlich wie im ersten Roman „Preisgegeben“ eher als einsamer Wolf unterwegs, ein Ermittler, der sich wenig um Hierarchien und Polizeitaktiken schert. Von seiner Vergangenheit als Soldat mit Auslandseinsatz im Bosnienkrieg und als Untercover-Cop, der eine berüchtigte Motorradgang erfolgreich infiltriert hat, ist Yakabuski geprägt und handelt eher spontan und intuitiv, um dem Bösen die Stirn zu bieten. Gleichzeitig ist er bereit, bei seinen Ermittlungen nicht nur die ausgetretene Pfade zu benutzen und das Offensichtliche anzunehmen, sondern in die tieferen Hintergründe vorzudringen.

Der Roman erzählt viel von der Vergangenheit der Region mit Siedlern, Holzfällern, fahrendem Volk und wie sich Konflikte aus der damaligen Zeit bis in die Gegenwart erhalten haben. Der Autor erschafft einen auf Gewalt basierenden Gründungsmythos seiner fiktiven Stadt Springfield, der allerdings an echte Geschichten und Konflikten anknüpft. Interessant dabei sind auch die Wetterverhältnisse während der Handlung: Am Ende des Herbstes und zu Winterbeginn erwartet man in Springfield eigentlich Frost und Schnee. Stattdessen herrschen warme, fast sommerliche Temperaturen, die die Geschehnisse vor Ort buchstäblich nochmal anheizen.

Insgesamt hat Ron Corbett einen harten Krimi mit brutalen Gestalten und groben Gewalttaten geschrieben, der mich an manchen Stellen an James Lee Burkes Robicheaux-Romane erinnert haben, z.B. Bei den Geschichten aus der Vergangenheit und diesem Killer, der aus dem Nichts kommend auf den Plan tritt. Ein Dave Robicheaux ist Frank Yakabuski trotz ein paar Ähnlichkeiten nicht ganz. Allerdings ist auch er ein Ermittler, der die ganze Zeit versucht, auf die Zwischentöne zu achten und herauszufinden, ob hinter der ganzen Gewalt nicht noch mehr dahintersteckt. Und so viel sei gesagt – er wird recht behalten in diesem hartgesottenen kanadischen Krimi. Insgesamt eine wirklich gelungene Fortsetzung der Reihe.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Cape Diamond | Erschienen am 12.02.2024 im Polar Verlag
ISBN 978-3-948392-92-5
320 Seiten | 17,- €
Originaltitel: Cape Diamond | Übersetzung aus dem kanadischen Englisch von Harriet Fricke
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Gunnars Rezension zu Band 1 „Preisgegeben“