Kategorie: noir | hardboiled

Eli Cranor | Bis aufs Blut

Eli Cranor | Bis aufs Blut

Am Ende einer unbefestigten Straße kommen sie an den Arkansas River. Der Fluss entspringt in Colorado, dort ist das Wasser frisch und kühl wie in einer Bierwerbung. Nachdem er die Ozarks passiert hat, wo er durch ausrangierte Matratzen und Geschirrspüler fließt und den ganzen übrigen Müll, den die Rednecks in den Bergen abladen, hat der Fluss die Farbe von Kakao und riecht wie abgestandenes Bier. (Auszug S. 138)

Denton ist ein Kaff in Arkansas, in den Hügeln der Ozarks. Irgendwo im Nirgendwo, im abgehängten Teil der USA. Größtes Aushängeschild des Ortes sind die Denton Pirates, das örtliche High School Footballteam. Die Pirates befinden sich nach langen harten Jahren auf Play Off-Kurs. Hoffnungsträger der Mannschaft ist Running Back Billy Lowe. Ein sehr talentierter junger Mann, der allerdings aus sehr schwierigen Verhältnissen kommt. Er wächst im einem Trailer mit seiner alkoholabhängigen Mutter und seinem gewalttätigen Stiefvater auf. In Billy brodelt es. Nur beim Football gibt hat er Gelegenheit, seine angestaute Wut und Aggressivität herauszulassen, was dazu führt, dass er die Grenzen nicht immer einhält. Als er beim Training einen Mitspieler verletzt, gerät eine tragische Spirale in Gang.

Mehrere Eltern und auch der Schulleiter fordern vom Footballcoach Trent Powers Konsequenzen. Doch dieser zögert, denn zum einen ist der Erfolg der Mannschaft stark von Billys Leistung abhängig und zum anderen erkennt er sich selbst in diesem wütenden und frustrierten Heranwachsenden wieder, da Powers als Kind durch verschiedene Pflegefamilien gereicht wurde. Dennoch droht Billy eine interne Sperre beim ersten Play off-Spiel. Zuhause kommt es zum einem Streit, Billy Mutter Tina verlässt mit Billys kleinem Bruder den Wohnwagen, der Stiefvater Travis bedroht Billy. Dieser schlägt ihn nieder und verlässt den Trailerpark. Später wird Travis von Tina tot aufgefunden, auch wenn sie zunächst nichts unternimmt, um den Tod zu melden. Währenddessen nimmt Coach Powers Billy bei sich zuhause auf, um ihn auf den rechten Pfad zu bringen. Doch damit bringt er zusätzlich noch seine Tochter Lorna, etwa gleichalt wie Billy, mit ins Spiel.

Ich nicke und lass den Kopf hängen. Will, dass sie glaubt, sie hätte mich erwischt. Ich hör, wie Lorna ausatmet, als ob sie auch nicht glaubt, dass ich das Buch gelesen hab. Ich schau hoch und guck nur Lorna an, will, dass sie mir bis in mein Herz guckt und weiß, dass sie mir vertrauen kann. Dass ich alles Mögliche bin – aber kein Lügner. (Auszug S. 196)

Mit diesem Roman gewann Eli Cranor als Debütant 2023 den Edgar Award. „Bis aufs Blut“ ist einer dieser typischen Country Noirs, die dem Leser vom abgehängten Teil der USA erzählen. Vom White Trash, von Trailerparks, Alkoholabhängigkeit, Perspektivlosigkeit. Von Rednecks, Rassismus, Konservatismus. Von Gegenden, in denen Leute schief angeguckt werden, wenn sie den Müll trennen oder ein Elektroauto fahren. Wie die Powers zum Beispiel, eine kalifornische Familie, die ein Jobangebot als Footballcoach für den bis dahin erfolglosen Trent in die Ozarks verschlagen hat und die am liebsten heute als morgen dort wieder wegwollen. Dafür ist aber eine erfolgreiche Footballsaison vonnöten. Insbesondere Trents Frau Marley ist bereit, einiges zu tun, um die Familie zu schützen und Denton bald hinter sich zu lassen. Wie viel, wird der Leser im Laufe des Romans herausfinden. Doch das betrifft auch Billys Mutter Tina. Wieder einmal sind es die Frauen, die der Geschichte nochmal eine entscheidende Wendung geben.

Der Roman erzählt aus mehreren Perspektiven, darunter aus Billys als Ich-Erzähler, eine Story von Wut, Perspektivlosigkeit und fehlendem Vertrauen. Dabei setzt Autor Eli Cranor auch auf den Kontrast zwischen den Lowes als Unterschicht und der Powers als (noch) gut situierte Familie. Dabei bewegt sich Cranor für meinen Geschmack an einigen Stellen hart am Schema F. Denn so mache der Figuren und manches im Plot glaubt man wiederzuerkennen. Dennoch ist „Bis aufs Blut“ bei allen (kleineren) Schwächen kraftvoll und stringent erzählt, besonders eindringlich in den Ich-Erzähler-Passagen von Billy. Insofern ist der Roman für alle Liebhaber dieses Genres sicherlich einen Blick wert.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Bis aufs Blut | Erschienen am 17.04.2024 im Atrium Verlag
ISBN 978-3-85535-179-4
304 Seiten | 24,- €
Originaltitel: Don’t Know Tough | Übersetzung aus dem Englischen von Cornelius Hartz
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Hervé Le Corre | Durch die dunkelste Nacht

Hervé Le Corre | Durch die dunkelste Nacht

Es ist dunkel und man sieht keine Bäume. Man sieht nichts außerhalb des Lichts der Straßenlaternen. Es ist Nacht, aber man sieht nicht mal die Nacht. (Auszug Seite 84)

Der Titel „Durch die dunkelste Nacht“ ist hier Programm. Es ist nicht das pittoreske, von Touristen für seinen Wein geliebte Bordeaux. Wir begleiten Commandante Jourdan von der Police Judicaire in die dunkelsten Ecken, finster und unwirtlich, es könnte jede Großstadt sein. Von der ersten Seite an regnet es ununterbrochen. Gleich am ersten Tatort findet die Polizei drei tote Kinder, noch im Schlafanzug, erschossen von ihrem Vater, die Mutter liegt im Bad, das Auge ausgeschossen. Der mörderische Vater ist auf der Flucht. Jourdan ist zutiefst erschüttert, unterdrückt nur mühsam seine Wut. Der desillusionierte Polizist zerbricht langsam an dem Elend, dass er täglich sieht, macht aber trotzdem fast zombiehaft immer weiter. Während er seiner Truppe Halt bietet, stürzt er immer mehr in Düsternis und Depressionen. Er ist der typische ausgebrannte Cop, später wird ihn seine schöne sowie kluge Frau Marlène verlassen, die Tochter Barbara geht mit. Als Marlène mit gepackten Koffern vor ihm steht, ist er nicht in der Lage, etwas zu sagen.

Dann machten sie sich wieder an die Arbeit. Jourdan hatte manchmal das Gefühl, der Tod schaute ihnen zu und glitt mit eisiger Präsenz umher, um sie am Arbeiten zu hindern, verstimmt, weil sie versuchten, Licht in das von ihm gesäte Dunkel zu bringen. (Auszug Seite 83)

Aber da ist der Frauenmörder, den er kriegen will. Und Jourdan ist gut in seinem Job. Ihm sind die gleichen Stichverletzungen bei mehreren weiblichen Opfern aufgefallen, die auf einen Serienmörder hindeuten. Weiter bringt die DNA eines Toten auf dem Trottoir vor dem Polizeigebäude die Polizei auf eine heiße Spur. Und auch der hektische Polizeialltag mit drogensüchtigen Zwangsprostituierten, Minderjährigen, die einen anderen Jungen wegen 100 Euro Schulden zu Tode prügelten sowie einer weiteren Frauenleiche, die seit vier Tagen in einem Abrisshaus liegt, geht unerbittlich weiter.

In einem zweiten Handlungsstrang lernen wir den Serienkiller kennen. Christian, ein Psychopath und ehemaliger Elitesoldat im Tschad wurde jahrelang von seiner Mutter missbraucht. Tagsüber arbeitet er als Lastwagenfahrer, nachts geht er mit dem Messer auf die Jagd nach Prostituierten und anderen Frauen. Man spürt, wie hier etwas aus dem Ruder läuft, wie Christian immer mehr eskaliert und die Kontrolle verliert.

Die dritte Perspektive besetzt Louise, eine junge alleinerziehende Mutter eines 8-jährigen Sohnes mit einem Händchen für die falschen Männer. Die junge Frau war nach dem Unfalltod ihrer Eltern in die Drogen- und Alkoholszene abgerutscht. Doch für ihren kleinen Jungen, ihren Sonnenschein, hatte sie sich aus dem Sumpf von Drogen, Sex und Gewalt herausgekämpft und schlägt sich als Haushaltshilfe für Senioren durch. Wäre da nicht ihr Ex-Freund, der sie immer wieder belästigt und schwer misshandelt. Louises angsterfülltes Leben setzt der Leserin zu, besonders die Weigerungen der Polizei, ihre Beschwerden ernst zu nehmen. Erst als Sam, ihr kleiner Sohn mit in die Gewaltspirale reingezogen wird, zieht Louise die Reißleine.

Jourdan versucht, in alldem einen Sinn zu erkennen: diese Verbrechen, die Täter, die Arbeit als Polizist. Festnehmen, verurteilen und bestrafen? Wozu, wo doch die Toten nicht wieder lebendig werden? (Auszug Seite 200)

Drei Menschen, deren Schicksale sich im Laufe der Seiten kreuzen. Jeder von ihnen geht durch seine eigene schauerliche Nacht, mit einem kurz auf blitzenden Hoffnungsschimmer, als sich Jourdan und Louise begegnen, der aber schnell wieder in der Dunkelheit versinkt. Erträglich wird diese beklemmende Geschichte durch die intensive fast poetische Sprache. Ganz großes Lob an die Übersetzerin Anne Thomas. Hervé Le Corre breitet seine Geschichte sehr wortreich aus, mit gnadenlosen Worten voll finsterer Schönheit, die die Verzweiflung einfühlsam beschreibt und einem Realismus, der nicht verschont. Hervé le Corre ist ein scharfsinniger Beobachter kleinster Gesten, ein Dialogschreiber von höchster Präzision, jedes Detail ist wichtig und trotzdem ist kein Wort zu viel. Von Anfang an zieht dieser desillusionierte Polizeiroman die Leserin in den Bann, in einen Strudel von Gewalt, Sprachlosigkeit und Schmerz. Ein außergewöhnlicher atemberaubender Roman, den man immer weiter liest, weil man stets auf einen Lichtblick hofft, der diese Nacht zu erhellen verspricht.

Hervé Le Corre ist schon länger einer der großen Namen des französischen Noir, und „Traverser la nuit“ ist nicht sein erster mit einem Krimipreis ausgezeichneter Roman, aber sein erster ins Deutsche übersetzter.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Durch die dunkelste Nacht | Erschienen am 15.01.2024 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-51847-369-6
339 Seiten | 17,- €
Originaltitel: Traverser la nuit | Übersetzung aus dem Französischen von Anne Thomas
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Ron Corbett | Cape Diamond (Band 2)

Ron Corbett | Cape Diamond (Band 2)

Springfield, eine fiktive kanadische Großstadt im Landesinneren an der nördlichen Wasserscheide. An einem Zaun eines Sportplatzes am Rande einer Hochhaussiedlung wird übel zugerichtet Augustus Morissey, Boss des heimischen Gangsterclans der Shiners, ermordet aufgefunden. Besonderes Detail: In seinem Mund wird ein äußerst wertvoller ungeschliffener Diamant gefunden. Detective Frank Yakabuski stößt bei seinen Ermittlungen auf viel Schweigen und wenig Interesse. Der Verdacht fällt auf die rivalisierende, kriminelle Truppe der North Shore Travellers. Auch von diesen wird kurz darauf jemand an der gleichen Stelle aufmordet aufgefunden. Es kommt zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, die Stadt gleicht einem Pulverfass, man erwartet täglich einen blutigen Bandenkrieg.

Die Shibers sind eine ursprünglich irische Schmugglerbande, die seit der ersten Besiedlung der Region (nach den Indigenen) mit den Travellers, die als Nachfahren von Sinti und Roma nach Kanada kamen, einen blutigen Bandenkrieg liefert. Beide Gruppen haben mittlerweile ihre kriminellen Aktivitäten diversifiziert. Durch den Diamantenfund kommt aber noch eine ganz andere Wendung in den Fall: Nicht allzuweit entfernt von Springfield befindet sich Cape Diamond, eine äußerst lukrative Diamantenmine. Allerdings auch mit äußerst strengen Sicherheitsvorkehrungen, sodass die Leitung der Mine es ausschließt, dass der Diamant entwendet worden sein kann.

Zudem kommt ein weiterer Erzählstrang hinzu: Von den Akteuren in Springfield unbemerkt, begleitet der Leser die Fahrt eines Killers aus Mexiko Richtung Kanada. Der kühle, rationale Mann fährt mit einem Campervan Richtung Norden und ist für alle Eventualitäten gut ausgerüstet. Bald schon zieht er eine Blutspur hinter sich her, da er alle Personen, die ihn an die Behörden verraten könnten, ausschaltet. Was der Leser bald weiß: Er hat einen Auftrag in Springfield. Doch wie hängt das mit den sonstigen Ereignissen zusammen?

Yakabuski fühlte sich wie der unter Zeitdruck geratene Künstler. Weil er das Bild einfangen wollte, bevor es ganz verschwand. Inzwischen war er überzeugt, dass in diesem Fall nichts so war, wie es auf den ersten Blick schien. Die Ermittlungen erinnerten an einen Stummfilm auf Zelluloid, als genug fürs Museum, ein Streifen in Schwarz-Weiß, ohne Anfang und Ende, sondern lediglich einem mysteriösen Mittelteil und ätzenden chemischen Emulsionen anstelle des Vor- und Abspanns. (E-Book Pos. 1842-1851)

Der zweite Teil der Reihe um den einzelgängerischen Detective Yakabuski führt wieder in die rauen, kargen Gegenden Kanadas am Rande des borealen Nadelwalds, obwohl Autor Ron Corbett mit Springfield eine großstädtisches Setting ebenfalls erschafft. Yakabuski ist ähnlich wie im ersten Roman „Preisgegeben“ eher als einsamer Wolf unterwegs, ein Ermittler, der sich wenig um Hierarchien und Polizeitaktiken schert. Von seiner Vergangenheit als Soldat mit Auslandseinsatz im Bosnienkrieg und als Untercover-Cop, der eine berüchtigte Motorradgang erfolgreich infiltriert hat, ist Yakabuski geprägt und handelt eher spontan und intuitiv, um dem Bösen die Stirn zu bieten. Gleichzeitig ist er bereit, bei seinen Ermittlungen nicht nur die ausgetretene Pfade zu benutzen und das Offensichtliche anzunehmen, sondern in die tieferen Hintergründe vorzudringen.

Der Roman erzählt viel von der Vergangenheit der Region mit Siedlern, Holzfällern, fahrendem Volk und wie sich Konflikte aus der damaligen Zeit bis in die Gegenwart erhalten haben. Der Autor erschafft einen auf Gewalt basierenden Gründungsmythos seiner fiktiven Stadt Springfield, der allerdings an echte Geschichten und Konflikten anknüpft. Interessant dabei sind auch die Wetterverhältnisse während der Handlung: Am Ende des Herbstes und zu Winterbeginn erwartet man in Springfield eigentlich Frost und Schnee. Stattdessen herrschen warme, fast sommerliche Temperaturen, die die Geschehnisse vor Ort buchstäblich nochmal anheizen.

Insgesamt hat Ron Corbett einen harten Krimi mit brutalen Gestalten und groben Gewalttaten geschrieben, der mich an manchen Stellen an James Lee Burkes Robicheaux-Romane erinnert haben, z.B. Bei den Geschichten aus der Vergangenheit und diesem Killer, der aus dem Nichts kommend auf den Plan tritt. Ein Dave Robicheaux ist Frank Yakabuski trotz ein paar Ähnlichkeiten nicht ganz. Allerdings ist auch er ein Ermittler, der die ganze Zeit versucht, auf die Zwischentöne zu achten und herauszufinden, ob hinter der ganzen Gewalt nicht noch mehr dahintersteckt. Und so viel sei gesagt – er wird recht behalten in diesem hartgesottenen kanadischen Krimi. Insgesamt eine wirklich gelungene Fortsetzung der Reihe.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Cape Diamond | Erschienen am 12.02.2024 im Polar Verlag
ISBN 978-3-948392-92-5
320 Seiten | 17,- €
Originaltitel: Cape Diamond | Übersetzung aus dem kanadischen Englisch von Harriet Fricke
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Gunnars Rezension zu Band 1 „Preisgegeben“

Les Edgerton | Primat des Überlebens

Les Edgerton | Primat des Überlebens

Das Wörtchen „Noir“ wird manchmal dann doch im Genre etwas inflationär gebraucht, leider auch von mir. Doch nicht alle Romane mit permanentem Nieselregen in heruntergekommenen Großstadtkulissen, in denen für die Hauptfigur ein paar Dinge schiefgehen, sind gleich ein Noir. Man sollte doch etwas engere Maßstäbe anlegen, doch wie genau definiert man „noir“? Im (übrigens sehr zu empfehlenden) Podcast „Abweichendes Verhalten“ (von Sonja Hartl) zitiert Pulp Master-Verleger Frank Nowatzki seinen Autor Jim Nisbet wie folgt: „Noir ist, wenn man auf Seite 1 schon am Arsch ist und dann geht’s nur noch bergab“.

Sehr angenehm natürlich, wenn sich der Verleger dann auch an diese Maxime hält, denn selten passte eine Beschreibung so gut wie auf die aktuelle Neuerscheinung aus dem Hause Pulp Master. Wobei ganz zu Beginn ist Jake Bishop, Ich-Erzähler von „Primat des Überlebens“, noch nicht am Boden. Er ist vielmehr resozialisiert, nach einigen Jahren im Gefängnis wegen Raub und Diebstahls hat er geheiratet. Seine Frau Paris ist schwanger, er arbeitet erfolgreich als Friseur und plant bereits konkret den Aufbau eines eigenen Salons. Seine Knastvergangenheit kennen jedoch nur wenige. Bereits im ersten Kapitel erfolgt der erste Schlag in die Magengrube: Jake erhält einen Telefonanruf von Joy Walker, seinem ehemaligen Zellengenossen, der inzwischen auch draußen ist und ihn zu einem Drink treffen will. Jake schwant Übles und er soll so was von Recht behalten.

Er hielt inne, wandte den Blick von mir weg, starrte hinüber zu den Typen am Pooltisch. „Ich könnte einen Gefallen gebrauchen.“
Ein Gefallen… ich dachte an was Drolliges, was ich mal von jemandem gehört hatte. „Ein Gefallen“, hatte dieser Jemand gesagt, „ist im Französischen ein Ausdruck für ‚lass mich dich ficken‘.“ (S.14)

Aufgrund diverser Umstände im Gefängnis hat Walker noch was gut bei Jake, doch dieser wäre noch bereit, seinem Knastbruder dies auszuschlagen. Dummerweise hat Walker bei seinem neuen Boss, dem zwielichtigen Juwelier Sydney Spencer, einige Anekdoten über sich und Jake ausgeplaudert – Anekdoten, die Jake erneut ins Gefängnis bringen könnten. Das wäre dann zum dritten Male – und dann wäre es beim unbarmherzigen US-Justizsystem lebenslänglich. Zudem kennt Spencer eine weitere Schwachstelle von Jake – dessen kleinen, noch nicht volljährigen Bruder Bobby. So wird Jake in einen Einbruch im Haus eines anderen Juweliers gezwungen. Vermeintlich ein einfacher Job. Ein guter Witz, denn der Leser bekommt nun Murphy’s Law in Reinkultur zu lesen: Der Job geht natürlich nicht glatt und alles, was Jake nun tut, um den Schaden zu begrenzen, reitet ihn nur noch tiefer in den Abgrund.

Dieses verschissene Lebenslänglich beeinflusste alles, was ich tat. Oder nicht tat. (S.124)

Diese Bedrohung, die permanent über Jake schwebt, ist der Knackpunkt für den Lauf der Geschichte. Er wie tausende weitere Verurteilte in den USA stehen unter permanenter Anspannung, dass das kleinste, weitere Delikt sie für ewig hinter Gittern bringen kann. Diese Unfreiheit und Angst macht ihr Leben zu einem Tanz auf der Rasierklinge. Jake treibt dies in einen Zustand, in dem er am Ende Dinge tut, die er zu Beginn weit von sich gewiesen hätte.

Autor Les Edgerton war selbst einmal inhaftiert, ehe er später eine Karriere als Autor einschlug. Bei Pulp Master erschien bislang „Der Vergewaltiger“ von ihm, ein weiterer Roman ist in Vorbereitung. Edgerton starb im August letzten Jahres. In diesem Roman erweist er sich als Meister des Noirs. Durch die Perspektive als Ich-Erzähler bleibt der Leser eng bei Jake Bishop. Anfangs noch durch Rückblenden unterbrochen, wird die Story letztlich erbarmungslos, kompromisslos, zynisch bis zum bitteren Ende in kurzen Kapitel vorangetrieben. Vielleicht packt er die eine oder andere böse Wendung zu viel aus, aber geschenkt. Les Edgerton serviert dem Leser hier noir pur. Kein Kitsch, kein Geplauder, kein Happy End, reiner Noir bis zum wahrhaft-wahnhaft blutigen Ende. Das mag nicht jedem schmecken, ich goutiere das hingegen sehr. Pulp Master bleibt bei Noir das Maß der Dinge.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Primat des Überlebens | Erschienen am 06.12.2023 bei Pulp Master
ISBN 978-3-927734-93-7
342 Seiten | 16,- €
Originaltitel: The Bitch | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Ango Laina und Angelika Müller
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Joe Wilkins | Der Stein fällt, wenn ich sterbe

Joe Wilkins | Der Stein fällt, wenn ich sterbe

Wendell führte sie an die Lippen, das Bier schäumte wild in seinem Mund. Er kam nicht klar damit. Er wusste, dass er glücklich sein sollte, aber er war verlegen. Es erinnerte ihn an Macbeth. Wie gründlich alles schiefgehen konnte. Man zieht nicht ungestraft durch die Nacht und tut, was man will. (Auszug S.74)

Die Bull Mountains im Osten Montanas. Wendell Newman ist 24 Jahre alt und lebt allein im Familientrailer mitten im Nirgendwo. Seine Mutter ist vor kurzem verstorben, sein Vater seit langem vermisst. Wendell arbeitet als Helfer für alles beim Großgrundbesitzer Glen. Plötzlich taucht jemand von der Jugendhilfe bei ihm auf und übergibt ihm den siebenjährigen Rowdy, Sohn seiner Cousine, die zu einer Haftstrafe verurteilt wurde. Wendell ist anfangs arg überfordert, kümmert sich aber bald rührend um den Jungen.
Auch die Lehrerin Gillian und ihre fast erwachsene Tochter Maddie werden auf Rowdy aufmerksam, der anfangs überhaupt nicht sprechen will und sich in der Schule kaum zurechtfindet. Maddie näht sogar Kleidung für Rowdy und lernt Wendell kennen. Beide ahnen nicht, dass ein dunkles Ereignis aus der Vergangenheit sie verbindet.

Autor Joe Wilkins erzählt die Geschichte fast ausschließlich aus drei Blickwinkeln. Zum einen aus Wendells Sicht, zum anderen aus Gillians Sicht. Zuletzt lässt er noch Verl, Wendells Vater, mit einer Art Tagebuch zwischendurch zu Wort kommen. Wie der Leser nach und nach erfährt, hat Verl einen Ranger erschossen, ist in die Berge geflohen und seitdem verschollen. In kurzen Abschnitten richtet er auf der Flucht das Wort an seinen Sohn, zunächst wütend, im weiteren Verlauf versöhnlicher.

Die Geschichte ist eingebettet in einen politisch-gesellschaftlichen Hintergrund. Sie spielt zur ersten Amtszeit von Präsident Obama. In den ländlichen Regionen Amerikas, auch in Montana, formiert sich Widerstand gegen eine progressive Politik aus Washington. Obwohl die strukturschwache Gegend stark durch Bundesmittel alimentiert wird, lehnen viele den Staat und seine Repräsentanten ab. Jetzt ist angeblich ein Wolf aus dem Yellowstone-Nationalpark in die Bull Mountains gewandert und droht, einheimisches Vieh zu reißen. Es bilden sich Bürgerwehren und bewaffnete patriotische Gruppen, teilweise unterstützt von den Großgrundbesitzern. Bislang war das alles nur Säbelrasseln, aber ein Funke könnte eine Tragödie auslösen. Und auf diesen Funken arbeitet Autor Joe Wilkins ganz langsam hin.

Und der Tag verlor sich in seine Tiefen. Wurde zu einem kratzenden und knurrenden, luftholenden Etwas. Ein grosses, muskulöses Tier stellte sich auf seine Hinterbeine, richtete sich zu seiner vollen, schrecklichen Grösse auf und sog die untergehende Sonne, den schwachen Wind und die Abendlieder der Vögel in seine Lungen ein. Es atmete sie alle ein, als wären sie Staub, und atmete sie wieder aus. (Auszug S.278-279).

Der Autor stammt selbst aus der Gegend und lässt das ländliche Montana und seine Berglandschaften eine Hauptrolle in seinem Roman einnehmen. Die Beschreibung der Landschaft und seiner Bewohner – Mensch wie Tier – gelingt für meinen Geschmack herausragend. Überhaupt will Joe Wilkins hier keine schnelle Geschichte erzählen, sondern nimmt sich sehr viel Zeit für das Setting und führt im Stile eines Sozialdramas die beiden Hauptfiguren ein und enthüllt ihre Vergangenheit, ihre Abgründe und Sehnsüchte. Wendell, ein einsamer junger Mann aus schwierigen Verhältnissen, mit der rauen, gewalttätigen Seite der Gegend großgeworden. Er ist aber clever, belesen und lässt sich nicht so leicht vor den Karren spannen, auch nicht von denen, die seinen Vater für einen Märtyrer halten. Auf der anderen Seite Gillian, mittleren Alters, verwitwet, hat den gewaltsamen Tod ihres Mannes noch nicht überwunden, sucht Trost in wechselnden Bekanntschaften und Alkohol. Als Lehrerin aber sehr engagiert und bemüht, zumindest den Kindern dieser Rednecks eine Perspektive aufzuzeigen.

Wilkins‘ Roman birgt viele Facetten, ist zugleich Gesellschaftsroman, Western und Noir. Seine eindringliche Schilderung der Umstände und der Lebenswelt im Westen Montanas ist einerseits scharf und klar, gleitet anderseits auch immer mal wieder ins Lyrische, Poetische, Mystische ab. Der Roman scheint sich irgendwie an seinen Höhepunkt heranzuschleichen, an dem sich dann auch alles verdichtet und explosionsartig entlädt. Das hat mich sehr überzeugt, für mich ist „Der Stein fällt, wenn ich sterbe“ ein absolutes Jahreshighlight.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Der Stein fällt, wenn ich sterbe | Erschienen am 05.09.2023 im Lenos Verlag
ISBN 978-3-03925-029-5
373 Seiten | 26,- €
Originaltitel: Fall Back Down When I Die | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Irma Wehrli
Bibliografische Angaben & Leseprobe