Kategorie: noir | hardboiled

Ron Corbett | Cape Diamond (Band 2)

Ron Corbett | Cape Diamond (Band 2)

Springfield, eine fiktive kanadische Großstadt im Landesinneren an der nördlichen Wasserscheide. An einem Zaun eines Sportplatzes am Rande einer Hochhaussiedlung wird übel zugerichtet Augustus Morissey, Boss des heimischen Gangsterclans der Shivers, ermordet aufgefunden. Besonderes Detail: In seinem Mund wird ein äußerst wertvoller ungeschliffener Diamant gefunden. Detective Frank Yakabuski stößt bei seinen Ermittlungen auf viel Schweigen und wenig Interesse. Der Verdacht fällt auf die rivalisierende, kriminelle Truppe der North Shore Travellers. Auch von diesen wird kurz darauf jemand an der gleichen Stelle aufmordet aufgefunden. Es kommt zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, die Stadt gleicht einem Pulverfass, man erwartet täglich einen blutigen Bandenkrieg.

Die Shivers sind eine ursprünglich irische Schmugglerbande, die seit der ersten Besiedlung der Region (nach den Indigenen) mit den Travellers, die als Nachfahren von Sinti und Roma nach Kanada kamen, einen blutigen Bandenkrieg liefert. Beide Gruppen haben mittlerweile ihre kriminellen Aktivitäten diversifiziert. Durch den Diamantenfund kommt aber noch eine ganz andere Wendung in den Fall: Nicht allzuweit entfernt von Springfield befindet sich Cape Diamond, eine äußerst lukrative Diamantenmine. Allerdings auch mit äußerst strengen Sicherheitsvorkehrungen, sodass die Leitung der Mine es ausschließt, dass der Diamant entwendet worden sein kann.

Zudem kommt ein weiterer Erzählstrang hinzu: Von den Akteuren in Springfield unbemerkt, begleitet der Leser die Fahrt eines Killers aus Mexiko Richtung Kanada. Der kühle, rationale Mann fährt mit einem Campervan Richtung Norden und ist für alle Eventualitäten gut ausgerüstet. Bald schon zieht er eine Blutspur hinter sich her, da er alle Personen, die ihn an die Behörden verraten könnten, ausschaltet. Was der Leser bald weiß: Er hat einen Auftrag in Springfield. Doch wie hängt das mit den sonstigen Ereignissen zusammen?

Yakabuski fühlte sich wie der unter Zeitdruck geratene Künstler. Weil er das Bild einfangen wollte, bevor es ganz verschwand. Inzwischen war er überzeugt, dass in diesem Fall nichts so war, wie es auf den ersten Blick schien. Die Ermittlungen erinnerten an einen Stummfilm auf Zelluloid, als genug fürs Museum, ein Streifen in Schwarz-Weiß, ohne Anfang und Ende, sondern lediglich einem mysteriösen Mittelteil und ätzenden chemischen Emulsionen anstelle des Vor- und Abspanns. (E-Book Pos. 1842-1851)

Der zweite Teil der Reihe um den einzelgängerischen Detective Yakabuski führt wieder in die rauen, kargen Gegenden Kanadas am Rande des borealen Nadelwalds, obwohl Autor Ron Corbett mit Springfield eine großstädtisches Setting ebenfalls erschafft. Yakabuski ist ähnlich wie im ersten Roman „Preisgegeben“ eher als einsamer Wolf unterwegs, ein Ermittler, der sich wenig um Hierarchien und Polizeitaktiken schert. Von seiner Vergangenheit als Soldat mit Auslandseinsatz im Bosnienkrieg und als Untercover-Cop, der eine berüchtigte Motorradgang erfolgreich infiltriert hat, ist Yakabuski geprägt und handelt eher spontan und intuitiv, um dem Bösen die Stirn zu bieten. Gleichzeitig ist er bereit, bei seinen Ermittlungen nicht nur die ausgetretene Pfade zu benutzen und das Offensichtliche anzunehmen, sondern in die tieferen Hintergründe vorzudringen.

Der Roman erzählt viel von der Vergangenheit der Region mit Siedlern, Holzfällern, fahrendem Volk und wie sich Konflikte aus der damaligen Zeit bis in die Gegenwart erhalten haben. Der Autor erschafft einen auf Gewalt basierenden Gründungsmythos seiner fiktiven Stadt Springfield, der allerdings an echte Geschichten und Konflikten anknüpft. Interessant dabei sind auch die Wetterverhältnisse während der Handlung: Am Ende des Herbstes und zu Winterbeginn erwartet man in Springfield eigentlich Frost und Schnee. Stattdessen herrschen warme, fast sommerliche Temperaturen, die die Geschehnisse vor Ort buchstäblich nochmal anheizen.

Insgesamt hat Ron Corbett einen harten Krimi mit brutalen Gestalten und groben Gewalttaten geschrieben, der mich an manchen Stellen an James Lee Burkes Robicheaux-Romane erinnert haben, z.B. Bei den Geschichten aus der Vergangenheit und diesem Killer, der aus dem Nichts kommend auf den Plan tritt. Ein Dave Robicheaux ist Frank Yakabuski trotz ein paar Ähnlichkeiten nicht ganz. Allerdings ist auch er ein Ermittler, der die ganze Zeit versucht, auf die Zwischentöne zu achten und herauszufinden, ob hinter der ganzen Gewalt nicht noch mehr dahintersteckt. Und so viel sei gesagt – er wird recht behalten in diesem hartgesottenen kanadischen Krimi. Insgesamt eine wirklich gelungene Fortsetzung der Reihe.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Cape Diamond | Erschienen am 12.02.2024 im Polar Verlag
ISBN 978-3-948392-92-5
320 Seiten | 17,- €
Originaltitel: Cape Diamond | Übersetzung aus dem kanadischen Englisch von Harriet Fricke
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Gunnars Rezension zu Band 1 „Preisgegeben“

Les Edgerton | Primat des Überlebens

Les Edgerton | Primat des Überlebens

Das Wörtchen „Noir“ wird manchmal dann doch im Genre etwas inflationär gebraucht, leider auch von mir. Doch nicht alle Romane mit permanentem Nieselregen in heruntergekommenen Großstadtkulissen, in denen für die Hauptfigur ein paar Dinge schiefgehen, sind gleich ein Noir. Man sollte doch etwas engere Maßstäbe anlegen, doch wie genau definiert man „noir“? Im (übrigens sehr zu empfehlenden) Podcast „Abweichendes Verhalten“ (von Sonja Hartl) zitiert Pulp Master-Verleger Frank Nowatzki seinen Autor Jim Nisbet wie folgt: „Noir ist, wenn man auf Seite 1 schon am Arsch ist und dann geht’s nur noch bergab“.

Sehr angenehm natürlich, wenn sich der Verleger dann auch an diese Maxime hält, denn selten passte eine Beschreibung so gut wie auf die aktuelle Neuerscheinung aus dem Hause Pulp Master. Wobei ganz zu Beginn ist Jake Bishop, Ich-Erzähler von „Primat des Überlebens“, noch nicht am Boden. Er ist vielmehr resozialisiert, nach einigen Jahren im Gefängnis wegen Raub und Diebstahls hat er geheiratet. Seine Frau Paris ist schwanger, er arbeitet erfolgreich als Friseur und plant bereits konkret den Aufbau eines eigenen Salons. Seine Knastvergangenheit kennen jedoch nur wenige. Bereits im ersten Kapitel erfolgt der erste Schlag in die Magengrube: Jake erhält einen Telefonanruf von Joy Walker, seinem ehemaligen Zellengenossen, der inzwischen auch draußen ist und ihn zu einem Drink treffen will. Jake schwant Übles und er soll so was von Recht behalten.

Er hielt inne, wandte den Blick von mir weg, starrte hinüber zu den Typen am Pooltisch. „Ich könnte einen Gefallen gebrauchen.“
Ein Gefallen… ich dachte an was Drolliges, was ich mal von jemandem gehört hatte. „Ein Gefallen“, hatte dieser Jemand gesagt, „ist im Französischen ein Ausdruck für ‚lass mich dich ficken‘.“ (S.14)

Aufgrund diverser Umstände im Gefängnis hat Walker noch was gut bei Jake, doch dieser wäre noch bereit, seinem Knastbruder dies auszuschlagen. Dummerweise hat Walker bei seinem neuen Boss, dem zwielichtigen Juwelier Sydney Spencer, einige Anekdoten über sich und Jake ausgeplaudert – Anekdoten, die Jake erneut ins Gefängnis bringen könnten. Das wäre dann zum dritten Male – und dann wäre es beim unbarmherzigen US-Justizsystem lebenslänglich. Zudem kennt Spencer eine weitere Schwachstelle von Jake – dessen kleinen, noch nicht volljährigen Bruder Bobby. So wird Jake in einen Einbruch im Haus eines anderen Juweliers gezwungen. Vermeintlich ein einfacher Job. Ein guter Witz, denn der Leser bekommt nun Murphy’s Law in Reinkultur zu lesen: Der Job geht natürlich nicht glatt und alles, was Jake nun tut, um den Schaden zu begrenzen, reitet ihn nur noch tiefer in den Abgrund.

Dieses verschissene Lebenslänglich beeinflusste alles, was ich tat. Oder nicht tat. (S.124)

Diese Bedrohung, die permanent über Jake schwebt, ist der Knackpunkt für den Lauf der Geschichte. Er wie tausende weitere Verurteilte in den USA stehen unter permanenter Anspannung, dass das kleinste, weitere Delikt sie für ewig hinter Gittern bringen kann. Diese Unfreiheit und Angst macht ihr Leben zu einem Tanz auf der Rasierklinge. Jake treibt dies in einen Zustand, in dem er am Ende Dinge tut, die er zu Beginn weit von sich gewiesen hätte.

Autor Les Edgerton war selbst einmal inhaftiert, ehe er später eine Karriere als Autor einschlug. Bei Pulp Master erschien bislang „Der Vergewaltiger“ von ihm, ein weiterer Roman ist in Vorbereitung. Edgerton starb im August letzten Jahres. In diesem Roman erweist er sich als Meister des Noirs. Durch die Perspektive als Ich-Erzähler bleibt der Leser eng bei Jake Bishop. Anfangs noch durch Rückblenden unterbrochen, wird die Story letztlich erbarmungslos, kompromisslos, zynisch bis zum bitteren Ende in kurzen Kapitel vorangetrieben. Vielleicht packt er die eine oder andere böse Wendung zu viel aus, aber geschenkt. Les Edgerton serviert dem Leser hier noir pur. Kein Kitsch, kein Geplauder, kein Happy End, reiner Noir bis zum wahrhaft-wahnhaft blutigen Ende. Das mag nicht jedem schmecken, ich goutiere das hingegen sehr. Pulp Master bleibt bei Noir das Maß der Dinge.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Primat des Überlebens | Erschienen am 06.12.2023 bei Pulp Master
ISBN 978-3-927734-93-7
342 Seiten | 16,- €
Originaltitel: The Bitch | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Ango Laina und Angelika Müller
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Joe Wilkins | Der Stein fällt, wenn ich sterbe

Joe Wilkins | Der Stein fällt, wenn ich sterbe

Wendell führte sie an die Lippen, das Bier schäumte wild in seinem Mund. Er kam nicht klar damit. Er wusste, dass er glücklich sein sollte, aber er war verlegen. Es erinnerte ihn an Macbeth. Wie gründlich alles schiefgehen konnte. Man zieht nicht ungestraft durch die Nacht und tut, was man will. (Auszug S.74)

Die Bull Mountains im Osten Montanas. Wendell Newman ist 24 Jahre alt und lebt allein im Familientrailer mitten im Nirgendwo. Seine Mutter ist vor kurzem verstorben, sein Vater seit langem vermisst. Wendell arbeitet als Helfer für alles beim Großgrundbesitzer Glen. Plötzlich taucht jemand von der Jugendhilfe bei ihm auf und übergibt ihm den siebenjährigen Rowdy, Sohn seiner Cousine, die zu einer Haftstrafe verurteilt wurde. Wendell ist anfangs arg überfordert, kümmert sich aber bald rührend um den Jungen.
Auch die Lehrerin Gillian und ihre fast erwachsene Tochter Maddie werden auf Rowdy aufmerksam, der anfangs überhaupt nicht sprechen will und sich in der Schule kaum zurechtfindet. Maddie näht sogar Kleidung für Rowdy und lernt Wendell kennen. Beide ahnen nicht, dass ein dunkles Ereignis aus der Vergangenheit sie verbindet.

Autor Joe Wilkins erzählt die Geschichte fast ausschließlich aus drei Blickwinkeln. Zum einen aus Wendells Sicht, zum anderen aus Gillians Sicht. Zuletzt lässt er noch Verl, Wendells Vater, mit einer Art Tagebuch zwischendurch zu Wort kommen. Wie der Leser nach und nach erfährt, hat Verl einen Ranger erschossen, ist in die Berge geflohen und seitdem verschollen. In kurzen Abschnitten richtet er auf der Flucht das Wort an seinen Sohn, zunächst wütend, im weiteren Verlauf versöhnlicher.

Die Geschichte ist eingebettet in einen politisch-gesellschaftlichen Hintergrund. Sie spielt zur ersten Amtszeit von Präsident Obama. In den ländlichen Regionen Amerikas, auch in Montana, formiert sich Widerstand gegen eine progressive Politik aus Washington. Obwohl die strukturschwache Gegend stark durch Bundesmittel alimentiert wird, lehnen viele den Staat und seine Repräsentanten ab. Jetzt ist angeblich ein Wolf aus dem Yellowstone-Nationalpark in die Bull Mountains gewandert und droht, einheimisches Vieh zu reißen. Es bilden sich Bürgerwehren und bewaffnete patriotische Gruppen, teilweise unterstützt von den Großgrundbesitzern. Bislang war das alles nur Säbelrasseln, aber ein Funke könnte eine Tragödie auslösen. Und auf diesen Funken arbeitet Autor Joe Wilkins ganz langsam hin.

Und der Tag verlor sich in seine Tiefen. Wurde zu einem kratzenden und knurrenden, luftholenden Etwas. Ein grosses, muskulöses Tier stellte sich auf seine Hinterbeine, richtete sich zu seiner vollen, schrecklichen Grösse auf und sog die untergehende Sonne, den schwachen Wind und die Abendlieder der Vögel in seine Lungen ein. Es atmete sie alle ein, als wären sie Staub, und atmete sie wieder aus. (Auszug S.278-279).

Der Autor stammt selbst aus der Gegend und lässt das ländliche Montana und seine Berglandschaften eine Hauptrolle in seinem Roman einnehmen. Die Beschreibung der Landschaft und seiner Bewohner – Mensch wie Tier – gelingt für meinen Geschmack herausragend. Überhaupt will Joe Wilkins hier keine schnelle Geschichte erzählen, sondern nimmt sich sehr viel Zeit für das Setting und führt im Stile eines Sozialdramas die beiden Hauptfiguren ein und enthüllt ihre Vergangenheit, ihre Abgründe und Sehnsüchte. Wendell, ein einsamer junger Mann aus schwierigen Verhältnissen, mit der rauen, gewalttätigen Seite der Gegend großgeworden. Er ist aber clever, belesen und lässt sich nicht so leicht vor den Karren spannen, auch nicht von denen, die seinen Vater für einen Märtyrer halten. Auf der anderen Seite Gillian, mittleren Alters, verwitwet, hat den gewaltsamen Tod ihres Mannes noch nicht überwunden, sucht Trost in wechselnden Bekanntschaften und Alkohol. Als Lehrerin aber sehr engagiert und bemüht, zumindest den Kindern dieser Rednecks eine Perspektive aufzuzeigen.

Wilkins‘ Roman birgt viele Facetten, ist zugleich Gesellschaftsroman, Western und Noir. Seine eindringliche Schilderung der Umstände und der Lebenswelt im Westen Montanas ist einerseits scharf und klar, gleitet anderseits auch immer mal wieder ins Lyrische, Poetische, Mystische ab. Der Roman scheint sich irgendwie an seinen Höhepunkt heranzuschleichen, an dem sich dann auch alles verdichtet und explosionsartig entlädt. Das hat mich sehr überzeugt, für mich ist „Der Stein fällt, wenn ich sterbe“ ein absolutes Jahreshighlight.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Der Stein fällt, wenn ich sterbe | Erschienen am 05.09.2023 im Lenos Verlag
ISBN 978-3-03925-029-5
373 Seiten | 26,- €
Originaltitel: Fall Back Down When I Die | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Irma Wehrli
Bibliografische Angaben & Leseprobe

James Lee Burke | Verschwinden ist keine Lösung (Band 23)

James Lee Burke | Verschwinden ist keine Lösung (Band 23)

Es ist geschafft. Mit dem 23. Band endet (vermeintlich) eine der am längsten laufenden Krimireihen. 1987 erschien mit „Neon Rain“ (dt. „Neonregen“) der erste Band um Dave Robicheaux, damals noch beim New Orleans Police Department. James Lee Burke hat die Reihe nun mit „A Private Cathedral“ (die Titel waren schon immer oft schwer zu übersetzen, der deutsche Titel diesmal wirkt etwas unbeholfen) scheinbar abgeschlossen. Mehr oder weniger zumindest, denn offenbar hat Burke bereits einen Titel mit Daves Intimus Cletus „Clete“ Purcel vorbereitet. Mit dem vorliegenden Band endet auch ein verlegerisches Großprojekt. 2015 veröffentlichte Günther Butkus den 15. Band „Sturm über New Orleans“, nachdem mehrere Titel zuvor nicht mehr ins Deutsche übersetzt worden waren. Er traf damit einen Nerv und war Teil eines Comebacks des Autors in Deutschland. Anschließend nahm Butkus die große Aufgabe an, die gesamte Reihe im Pendragon Verlag wiederaufzulegen bzw. als deutsche Erstausgabe zu veröffentlichen.

Zeitlich spielt „Verschwinden ist keine Lösung“ irgendwann vor 9-11 und ist damit in der Chronologie irgendwo mittendrin. Auch wenn es natürlich eine Chronologie gibt und eine gewisse Entwicklung im Leben der Hauptfiguren – allen voran Daves Ehefrauen und seine irgendwann erwachsene Tochter Alafair – es war eigentlich nicht allzu sehr problematisch, einzelne Bände nicht in der richtigen Reihenfolge zu lesen. Für Neueinsteiger bietet es sich allerdings nie an, mit dem letzten Band zu beginnen. Dieses Mal kommt außerdem hinzu, dass dieser Roman sich für meinen Geschmack nochmal sehr an die eingeweihten Kenner des Robicheaux’schen Kosmos richtet. „A Private Cathedrale“ ist eine Quintessenz der gesamten Reihe, in der Dave und Clete als Aufrechte und Gerechtigkeitsfanatiker einen zwar von kleinen Erfolgen gekennzeichneten, aber letztlich scheinbar vergeblichen Kampf gegen „das Böse“ führen, diesmal noch stärker begleitet von metaphysischen, übernatürlichen Elementen, eingebettet in die traumhafte Landschaft Lousianas..

„Willst du dir noch etwas von Seele reden, Streak?“
„Ich habe ‚Warn-Träume‘. Stürmische See, eine Galeere mit Strafgefangenen, die an die Riemen gekettet sind. Sie sehen aus, als wären sie in der Hölle.“
„Du hast mir gerade eine Scheißangst eingejagt.“
„Warum?“
„Ich hatte den gleichen Traum.“
Es fühlte sich an, als hätte er mir in die Magengrube getreten. (Auszug S.71)

Wie die meisten Romane der Reihe ist eine Inhaltsangabe eher schwierig, denn Burke schickt seine Hauptfiguren in einen sehr komplexen Plot, in dem die Suche nach der Quelle der menschlichen Grausamkeit sich als rote Faden durch die Seiten zieht. Durch eine zufällige Begegnung an einem Pier in Texas lernt Dave die junge Isabell Belangie kennen, Tochter eines Mafiaso, die angeblich an den rivalisierten Clan um den skrupellosen Mark Shondell als Faustpfand „abgegeben“ wurde. Dies ruft Dave auf den Plan, der diesen „Menschenhandel“ hinterfragt und in ein Nest von Soziopathen stößt. Es geht um kriminelle Machenschaften, Grausamkeiten und ein Wiedererstarken rassistischer Politik. Und dann taucht der noch ein „Zeitreisender“ auf, Gideon Richetti, ein grausamen Rächer, allerdings auf der Suche nach Erlösung. Das klingt nicht nur biblisch-mystisch, sondern ist es auch. Das Fantastische, das den traumatisierten Dave (und auch Cletus) immer wieder mal in den Romanen begegnet, wird hier auf die Spitze getrieben, steht aber immer im Kontext zum zentralen Thema des Romans.

Ich hatte ihn für jemanden gehalten, der von grausamen Kräften angetrieben wurde, doch in Wirklichkeit war er eher Opfer als Täter; und meine weltliche Erfahrung hatte mich meiner Meinung nachder Erkenntnis kein Stück nähergebracht, warum die Menschen so eine Vorliebe für Unmenschlichkeit hatten. Unabhängig von Gesellschaft oder geschichtlicher Epoche scheinen sich der Sukkubus und Inkubus ihren Weg in unsere Mitte zu bahnen oder waren latent oder als Keim von Beginn an in uns vorhanden. (Auszug S.279)

„Verschwinden ist keine Lösung“ ist ein brutaler, harter Thriller und zugleich ein zutiefst philosophisch-ethisch-religiös geprägter Roman. Autor James Lee Burke schickt seine Protagonisten auf eine finale Tour de Force, einen letzten, wütenden Kampf gegen die Sklavenhalter, Menschenschänder, Rassisten und Faschisten dieser Welt. Und auch wenn manches Bild und manches Übernatürliche den Leser verwirren mag, halte ich es letztlich mit Kritiker Tobias Gohlis, der zu diesem Buch meinte: „Man muss nicht alles verstehen, um dieses Meisterwerk großartig zu finden.“ Ein Lob verdienen zudem Übersetzer Jürgen Bürger und Jochen König für sein sehr lesenswertes Nachwort, in dem er diesen Roman nochmal in die Gesamtreihe einordnet.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Verschwinden ist keine Lösung | Erschienen am 26.07.2023 im Pendragon Verlag
ISBN 978-3-86532-755-0
466 Seiten | 24,- €
Originaltitel: A Private Cathedral | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Jürgen Bürger
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen I: Alle Rezensionen zur Robicheaux-Reihe auf Kaliber.17
Weiterlesen II: Beitrag zu „Verschwinden ist keine Lösung“ und Rückblick auf die Reihe von Hanspeter Eggenberger im Crimemag

Abgehakt | Kurzrezensionen Juni 2023

Abgehakt | Kurzrezensionen Juni 2023

Kurzrezensionen Juni 2023

 

 

Chris Offutt | Ein dreckiges Geschäft (Band 2)

Mick Hardin ist eigentlich Militärpolizist und Ermittler bei der US Army in Deutschland. Doch eine landwierige Verletzung an seinem Bein kuriert er in seiner alten Heimat aus, in den Kentucky Hills. Dort ist seine Schwester Linda Sheriff und gerade im Wahlkampf. Als ein bekannter Drogendealer, Barney Kissick, ermordet aufgefunden wird, vermutet die Polizei Rivierkämpfe unter Dealern und schenkt dem Fall keine große Aufmerksamkeit. Shifty Kissick, die Mutter des Toten, bittet Mick, sich mal umzuhören und herauszufinden, wer Ihren Sohn getötet hat. Micks heimliche Ermittlungen bleiben nicht verborgen und bald bleibt es nicht bei Barney als einzigem Toten.

„Ein dreckiges Geschäft“ ist der zweite Band mit dem rauen, unnahbaren Ermittler Mick Hardin, den eine Art Midlife Crisis wieder in die Heimat verschlagen hat, wohl auch weil seine Frau, die längst mit einem anderen zusammenlebt, endlich die Scheidung will. Hardin passt damit aber wunderbar in dieses bergige Kentucky, wo die Menschen eher schweigsam sind und nicht viel von sich preisgeben. Auf den Figuren und der Porträtierung dieses Menschenschlags konzentriert sich Autor Chris Offutt in seinem hartgesottenen Provinznoir, dies gelingt ihm wirklich hervorragend. Für mich fällt der Plot, der etwas schematisch nur in der Mikroperspektive bleibt und am Ende in eine Vendetta mündet, dafür etwas ab. Die starken Figuren entschädigen aber für vieles.

 

Ein dreckiges Geschäft | Erschienen am 28.10.2022 bei Tropen
ISBN 978-3-608-50186-5
268 Seiten | 17,- €
Originaltitel: Shifty’s Boys | Übersetzung aus dem Englischen von Anke Caroline Burger
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3 von 5
Genre: noir/hardboiled

 

 

James Lee Burke | Angst um Alafair (Band 20)

Die Robicheaux‘ nehmen eine Auszeit in Montana, als Alafair nur knapp einem Mordanschlag entkommt. Kurz darauf wird die Leiche der Adoptivtochter des lokalen Ölbarons Love Younger ermordet aufgefunden. Alafairs Verdacht fällt auf den brutalen Serienmörder Asa Surrette, doch der ist angeblich bei einem Unfall eines Gefangentransports ums Leben gekommen. Als weitere Gewalttaten geschehen, glaubt auch Dave Robicheaux so langsam, dass Surrette seine Finger im Spiel haben könnte. Doch auch Love Younger ist kein Unschuldslamm. In den Bergen Montanas spitzt sich die Lage langsam zu, und Dave und Clete Purcel stehen wieder vor der Zerreißprobe, wie viel eigene Gewalt die Gerechtigkeit rechtfertigt.

Auf James Lee Burkes unverwüstlichen Ermittler Dave Robicheaux lasse ich eigentlich nichts kommen, wenn man diese Reihe liest, bekommt man kraftvolle Prosa mit beeindruckenden Naturbeschreibungen und tief ausgeleuchteten Figuren mit allerlei Grauschattierungen. Das ist hier im 20. Band auch der Fall, nur treibt Burke das arg auf die Spitze und hätte sich auch etwas kürzer fassen können. Interessant an diesem Band ist der große Raum, den Robicheaux‘ und Purcels Töchter, Alafair und Gretchen, erhalten. Aber aufgrund gewisser Längen diesmal leichte Abzüge, aber die Reihe bleibt trotzdem sehr empfehlenswert. Im Juli 2023 erhält die Reihe übrigens mit Erscheinen von „Verschwinden ist keine Lösung“, Band 23, einen (vorläufigen) Abschluss. Ein großes Lob an den Pendragon Verlag.

 

Angst um Alafair | Erschienen am 27.02.2023 im Pendragon Verlag
ISBN 978-3-944751-22-1
672 Seiten | 24,- €
Originaltitel: The Light of the World | Übersetzung aus dem Englischen von Jürgen Bürger
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3,0 von 5,0
Genre: noir/hardboiled

 

 

Liz Nugent | Kleine Grausamkeiten

Die Drumms sind eine irische Familie aus Dublin mit drei Söhnen. Zu Beginn erfährt der Leser, dass zwei der Brüder den dritten beerdigen. Und man schwant schon, dass die beiden Überlebenden nicht ganz unschuldig am Tod des Dritten sein dürften. Wie es nun dazu kam, folgt nun auf knapp vierhundert ziemlich unterhaltsamen Seiten.

Immer abwechselnd erzählt die Autorin Liz Nugent aus der Perspektive eines der drei Brüder William, Brian und Luke. Dabei folgt sie keinem stringenten Plot, sondern springt in der Perspektiven, in der Zeit. Die Abschnitte werden von den Brüdern tagebuchartig selbst kommentiert, manche Szenen werden mehrfach aus verschiedenen Blickwinkeln wiederholt erzählt. William, der älteste der Brüder, ist Filmproduzent, macht- und selbstbewusst, nimmt sich, was ihm vermeintlich zusteht. Brian, der mittlere, versucht immer wieder in der Familie zu vermitteln, ist aber, wie sich bald herausstellt, vorwiegend auf seinen Vorteil bedacht. Der jüngste Bruder Luke ist der labile Nachzügler, leidet unter der lieblosen Mutter, macht dennoch als Popstar Karriere, ist aber permanent vorm nächsten psychischen und physischen Absturz bedroht.

Der Leser erhält Einblicke in eine sehr dysfunktionale Familie, in der sich immer wieder kleine (und große) Grausamkeiten angetan werden. Eifersucht, Gier und Egoismus speisen ein lange währendes toxisches Familienverhältnis. Das ist sehr klug, böse und durchaus auch amüsant erzählt. Ob es auch ein Krimi ist, darüber kann man streiten, aber man will am Ende ja schon wissen, welcher der Bruder da am Anfang zu Grabe getragen wird.

Kleine Grausamkeiten | Erschienen am 15.11.2021 im Steidl Verlag
Die aktuelle Taschenbuchausgabe erschien am 15.06.2023
ISBN 978-3-96999-202-9
400 Seiten | 16,- €
Originaltitel: Our Little Cruelties | Übersetzung aus dem Englischen von Kathrin Razum
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 4 von 5
Genre: Krimi

 

Rezensionen 1-3 und Fotos von Gunnar Wolters.

 

 

Amy Achterop | Die Hausboot-Detektei – Tödlicher Genuss (Band 1)

Mit großer Lust auf eine humorvolle, lockere Cosy-Crime Geschichte griff ich zu dem Roman. Auch das altmodisch gestaltete Cover und Amsterdam als Location versprachen amüsante Lesestunden mit skurrilen Charakteren. Der ehemalige Polizist Arie schart vier Mitstreiter um sich, die alle schon mal mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind. Fünf Personen mit Ecken und Kanten, ein bunt zusammengewürfelter Haufen von Pechvögeln, gründen gemeinsam eine Detektei mangels Büro auf einem Hausboot inmitten der Amsterdamer Grachtenidylle.

Der erste Fall führt in die Welt der Haute Cuisine. Zwei renommierte Cateringunternehmen wettstreiten um die Ausrichtung der Hochzeit des Jahres. Voraussetzung ist ein Gericht, das eine sensationelle Neuheit darstellt. Einer der Sterneköche erhofft sich von dem Auftrag den bitter nötigen Erfolg und heuert die Detektei an, um das Rezept seiner Rivalin auszuspionieren. Nach und nach wird man in die dunklen Geheimnisse der konkurrierenden Starköche eingeweiht.

Leider hatte ich nicht das Vergnügen am Cast, auf das ich gehofft hatte, da mir keiner der Figuren wirklich nahe kam, die viel zu oberflächlich gezeichnet waren und blass blieben. Aus der Idee, Ermittler mit kriminellem Hintergrund in den Mittelpunkt zu stellen, die es aus unterschiedlichen Gründen im Leben oft schwer haben und ausgegrenzt werden, wurde viel zu wenig gemacht. Es werden einige soziale Themen angesprochen, aber alle nur angerissen. Auch der Kriminalfall entwickelt sich sehr gemächlich, konnte mich nicht wirklich fesseln und aufgrund der Längen musste ich mich zum Weiterlesen zwingen. Dabei hat mich gar nicht gestört, dass die Ermittlungen höchstens marginal zu bezeichnen sind. Vielmehr fand ich einige Aktionen sehr konstruiert und die Dialoge gestelzt. Beispielsweise werden erst mal, um sich auf die Detektivarbeit vorzubereiten, zusammen alte Miss Marple-Filme geguckt und seitenlang wird sich um ein verletztes Eichhörnchen gekümmert. Das war mir leider zu albern. Die Findungsphase der Detektive nimmt, auf Kosten des Crime-Aspektes, zu viel Raum und Zeit in Anspruch. Ein bisschen Spannung entsteht, als die Leiche des Sommeliers, ein Meister seines Fachs, der sich eigentlich um die Weine für die Hochzeit kümmern sollte, aus dem Wasser gefischt wird.

Amy Achterops Schreibstil ist flüssig aber ohne jede Raffinesse. Es gibt inzwischen zwei weitere Teile, mich hat es leider nicht überzeugt.

 

Rezension und Foto von Andy Ruhr.

Die Hausboot-Detektei | Erschienen am 29. März 2023 im S. Fischer-Verlag
ISBN 978-3-59670-670-9
352 Seiten | 12,- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 2,5 von 5
Genre: Krimi