Kategorie: noir | hardboiled

Deepti Kapoor | Zeit der Schuld

Deepti Kapoor | Zeit der Schuld

Was sie erkennen, ist Folgendes: Er ist kein reicher Mann, beileibe kein reicher Mann, eher ein Faksimile, er erinnert nur an den Wohlstand, dient ihm. […]
Ja, er ist ein Dienstbote, ein Chauffeur, ein Fahrer, ein „Boy“.
Eine wohlgenährte, stubenreine Version dessen, was da tot auf der Straße liegt.
Und der Mercedes gehört ihm nicht.
Man kann also mit ihm machen, was man will. (Auszug S.11)

Der Roman beginnt mit einer Situation nach einem verheerenden Verkehrsunfall. Fünf tote Obdachlose liegen neben einer Straße in Delhi und die Polizei greift einen jungen Mann am Steuer des Tatwagens auf. Es ist Ajay. Im Anschluss erfahren wir seine Lebensgeschichte. Unter ärmsten Bedingungen in einem Dorf in Uttar Pradesh geboren, wird er mit acht Jahren an ein kinderloses Ehepaar verkauft. Dort wird er nicht schlecht behandelt, aber wächst in seine spätere Rolle als Lakai und Bediensteter hinein. Später als Kellner in einem Lokal erlangt er die Aufmerksamkeit von Sunny Wadia. Sunny ist Sohn von Bunty Wadia, einflussreicher Geschäftsmann in verschiedenen Geschäftsfelder, eng verwoben mit der Politik und dem organisierten Verbrechen. Ajay wird loyaler Handlanger von Sunny, der sich am liebsten weitestgehend aus den schmutzigen Geschäften des Vaters heraushalten will. Sunny tritt als Mäzen auf, umgibt sich mit den schönen Dingen, interessiert sich für Stadtplanungsprojekte. Er lernt die Journalistin Neda kennen und lieben, die kritisch über Machtmissbrauch und Korruption berichtet. Doch der dunkle Einfluss von Bunty Wadia zieht Sunny und Neda in einen Abgrund aus Macht, Gier, Gewalt und Tod – und Ajay schließlich an das Steuer dieses Mercedes.

Indien ist seit letztem Jahr das Land mit den meisten Einwohnern auf der Erde. Überhaupt gilt das Land aufgrund der günstigen Demographie als das Land der Zukunft, auch geopolitisch. Allerdings ist dieses riesige, so heterogene Land voller Gegensätze für viele im Westen noch ein Mysterium. Die Autorin Deepti Kapoor ist 1980 im Bundesstaat Utter Pradesh geboren worden, hat zehn Jahre in der Hauptstadt als Journalistin gearbeitet. Sie ist mit einem Briten verheiratet und lebt mittlerweile in Portugal. „Age of Vice“ ist ihr zweiter Roman und nichts weniger als ein Epos, das offensichtlich auf mehrere Teile angelegt ist.

Der Roman beginnt mit der Geschichte von Ajay, einem Jungen aus den unteren Kasten, seine Jugend gekennzeichnet von Armut, Gewalt, Unterdrückung und harter Arbeit. Sunny entdeckt sein Potenzial als treuer Diener, das Ajay ergeben erfüllt. Sunny hingegen ist ein reicher Sprößling, dem alles zufliegt und dem alle Türen offenstehen, durchaus weltoffen und modern, der sich aber insgeheim vor allem eines wünscht: Die Zuneigung seines skrupellosen Vaters. Doch er als er diese erreicht, führt es zu Selbsthass und Depression. Schließlich Neda, eine junge, moderne Frau aus fortschrittlichem Haus, die das Potenzial in Sunny erkennt, die aber seiner Selbstzerstörung letztlich nichts entgegen setzen kann.

„[…] Ich dachte, dieser Mensch könnte ich für immer bleiben. Aber sieh mich an. Ich kann es nicht. Ich schaffe es nicht mehr. Es geht nicht. Es war alles gelogen… ich liebe Schönheit. Ich möchte schöne Dinge schaffen. Aber das ist das Letzte, was die kapieren. Sie wollen, dass ich an der Oberfläche schön und innen völlig verdorben bin, so wie sie.“ (Auszug S.424)

Die Story ist breit angelegt, mit Orts- und Zeitwechseln. Das Buch ist in drei Teile geteilt, die einen Wechsel der Perspektive zwischen den drei Hauptfiguren beinhaltet. Manche Szenen werden doppelt aus zwei Perspektiven erzählt. Die Autorin hat den Roman überwiegend im Präsens und meist in kurzen, knappen Sätzen verfasst. Dadurch wird der Leser unmittelbar in die Geschichte hereingezogen. Die Struktur des Romans, aber auch sein Thema von Macht, Gewalt, Korruption, Liebe und Verrat – das alles erinnerte mich ungemein an eines meines Lieblingsbücher: „Tage der Toten“. Wie Winslow zeichnet Kapoor ein brutales Bild einer gnadenlosen, brutalen Welt und mehrerer Personen, die vergeblich versuchen, aus diesem Teufelskreis auszubrechen. Bei „Zeit der Schuld“ ist es der Schauplatz Indien, auf dem Papier die größte Demokratie der Welt und die Nation mit dem größten Potenzial, die sich allerdings durch Korruption, Vetternwirtschaft und Kasten- und Klassendenken immer wieder selbst behindert. Das alles ist spannend und zielstrebig erzählt, lediglich im dritten Abschnitt lässt die Autorin für meinen Geschmack etwas die Stringenz vermissen. Nichtsdestotrotz gelingt Deepti Kapoor mit diesem Roman ein schillerndes, aufregendes und mitreißendes Epos. Unbedingt lesenswert.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Zeit der Schuld | Erschienen am 01.03.2023 im Blessing Verlag
ISBN 978-3-89667-707-5
688 Seiten | 28,- €
Originaltitel: Age of Vice | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Astrid Finke
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Jochen Rausch | Im toten Winkel

Jochen Rausch | Im toten Winkel

Marta Milutinovic steht vor einem absoluten Neuanfang, beruflich und privat. Nach der Ermordung ihrer 17jährigen Tochter ist auch ihre Ehe zerbrochen. Als Polizistin ist ihr zuletzt bei einer Festnahme ein Fehler unterlaufen, ein junger Italiener ist seitdem schwer behindert. Weit weg von der Großstadt München übernimmt sie die Leitung der Polizeidienststelle im Provinzort Schwarzbach, nahe des ehemaligen Dreiländerecks BRD, DDR und Tschechoslowakei.

Dort geht es vermeintlich etwas beschaulicher zu. Doch um Martas Nervenkostüm ist es weiterhin nicht allzu gut bestellt, direkt am ersten Tag macht sie Bekanntschaft mit einem unverschämten Autofahrer, bei dem sie sogar ihre Waffe zückt. Danach muss sich mit einem Sexualstraftäter befassen, der sich unter neuem Namen in Schwarzbach niedergelassen hat. Über Social Media wird sie dann auf einen alten Fall aufmerksam gemacht. Im November 1998 verschwand der Abiturient Jens Fritsche spurlos, Monate später wurde seine Leiche gefunden. Der Fall wurde bis heute nicht aufgeklärt und irgendjemand füttert einen Account, der an dieses Verbrechen erinnert und sich an den Mörder richtet, dass dieser noch gefunden werden wird. Martas Interesse an dem Fall ist geweckt, doch viel Hoffnung macht ihr niemand in Schwarzbach. Im Gegenteil schient es einigen eher unangenehm, dass der alte Fall nochmal angefasst wird.

Eine Kleinstadt im Nirgendwo, ein unaufgeklärter Mordfall, eine traumatisierte Kommissarin und zahlreiche Personen in der Stadt, denen lieber wäre, wenn die Polizei eher eine ruhige Kugel schiebt und Vergangenes vergangen sein lässt. Das sind die klassischen Zutaten der aktuellen Kriminalliteratur und speziell Ingredenzien, die vorwiegend amerikanische Autor:innen im Subgenre Country Noir verwenden. Journalist, Musiker und Autor Jochen Rausch, literarisch bislang vor allem durch seinen Roman „Krieg“ bekannt, kennt all diese Zutaten und stellt daraus sehr routiniert einen spannenden Provinznoir zusammen. Allerdings war es für mich schon manchmal zu routiniert und gar ein wenig schematisch wie hier manche Themen abgehakt wurden. Sexualstraftäter, Crystal Meth, Deutsch-deutsche Grenze, Vetternwirtschaft, eine seltsame Religionsgemeinschaft, die italienische Mafia, Sexueller Missbrauch usw. Ein paar Themen hätte der Autor auch für kommende Bände der angekündigten Reihe aufsparen können.

Nein. Sie wird niemanden anrufen. Keine Hundertschaft, keine Hubschrauber, keine Spürhunde. Sie wird es akzeptieren. Es ist ihre Strafe. Ihr Schmerz gegen seinen Schmerz. Aber jetzt hat sie ihre Strafe verbüßt. Hat ihre Strafe bekommen. Es ist genug Strafe.
Genug, genug, genug. (E-Book, Position 1464)

Dass ich trotzdem an der Reihe interessiert bleibe, liegt vor allem an der starken Hauptfigur Marta Milutinovic ist zwar auch eine aus der Reihe der traumatisierten Ermittler:innen, ihre Ermittlerarbeit ist auch eher beharrlich als brillant, aber ihre Krise wird sehr eindrucksvoll beschrieben. Der Mord an ihrer Tochter ist der Schicksalsschlag, der alles überstrahlt. Hinzu kommen die Selbstverwürfe durch den fehlerhaften Waffengebrauch (Wie sich herausstellt, kommen Vorwürfe auch aus anderer, gefährlicher Richtung). Martas Schmerz wird sehr präzise herausgearbeitet. Abgerundet wird das Psychogramm durch ihre Sehnsüchte auf eine glücklichere Zukunft, auf die alten Heimat der Eltern, die slowenische Adriaküste, und ihre ehemalige Teenagerliebe.

Insgesamt also ein Reihenauftakt, der plottechnisch für mich noch Luft nach oben hat, aber schon jetzt mit sehr ausgefeilten Figuren, vor allem bei der Hauptfigur, punkten kann.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Im toten Winkel | Erschienen am 30.03.2023 im Piper Verlag
ISBN 978-3-492-07164-2
304 Seiten | 24,- €
Als E-Book: ISBN 978-3-492-60424-6 | 16,99 €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Johannes Groschupf | Die Stunde der Hyänen

Johannes Groschupf | Die Stunde der Hyänen

An der Brücke lief er hinüber nach Neukölln und bog in die Dunkelheit einer kopfsteingepflasterten Seitenstraße ab. Jetzt ging er aufrecht, ließ sich Zeit, war nichts weiter als ein Spaziergänger. Vor zwei Tagen war er in heller Panik davongerannt, als der Mann aus dem Bulli herausgekrochen kam und plötzlich vor ihm auftauchte. Das würde ihm nicht mehr passieren. (Auszug S.60)

Ein Feuerteufel geht um im Kreuzberg. Nacht für Nacht gehen Autos in Flammen auf, eines Nachts auch der Bulli, in dem Radek Malarczyk schläft, seitdem ihn seine Frau aus der Wohnung geworfen hat. Radek überlebt mit schweren Verbrennungen, doch die Bürger werden zunehmend unruhig. Die Polizistin Romina Winter, zum Branddezernat strafversetzt und dort im Innendienst versauernd, will den Brandstifter unbedingt alleine dingfest machen. Dazu tut sie sich mit der Journalistin Jette Geppert zusammen, die die Ereignisse für eine Berliner Tageszeitung begleitet. Dabei stoßen sie auch auf Maurice Jaenisch, den Postboten, Mitglied einer christlichen Sekte, schwer verliebt in Britta aus seiner Glaubensgemeinschaft, die ihn allerdings hinhält.

Radek, ein ehemaliger Fernfahrer, spätestens nachdem er eine Radfahrerin an der Oberbaumbrücke totgefahren hat, schwer dem Alkohol zugeneigt, gibt sich den seinem Krankenhausaufenthalt geläutert, hat zu Gott gefunden und zieht nun predigend durch die Straßen. Den Täter hat er erkannt, doch er liefert ihn nicht der Polizei aus. Und so brennt es Nacht für Nacht weiter und die Stimmung heizt sich immer weiter auf.

Die Sessel vor den Monitoren waren unbequem, nach einer halben Stunde hatte sie Rückenschmerzen. Kopfschmerzen auch, denn die Bänder der Überwachungskameras zeigten verschneite oder verzerrte Bilder wie einem Amateurfilmer der Sechzigerjahre des letzten Jahrhunderts.
„Wir haben gestochen scharfe Bilder von der Rändern unserer Galaxie“, sagte Romina. „Aber aus Lichterfelde und Reinickendorf schicken sie uns Pixelmatsch.“ (Auszug S.182)

„Die Stunde der Hyänen“ ist der dritte Kriminalroman von Autor Johannes Groschupf, der mich im letzten Jahr mit „Berlin Heat“ sehr begeistert hatte. Der Roman ist keine Fortsetzung, greift mit der Polizistin Romina eine Figur prominent wieder auf. Anders als in „Berlin Heat“ steht aber kein einzelner Protagonist im Vordergrund, sondern es wird aus verschiedenen Perspektiven erzählt. Auch das Tempo ist hier reduzierter, gedämpfter, schließlich gibt es hier viele Szenen zu nachtschlafender Zeit. Johannes Groschupf greift hier verschiedene Themen auf, die er vorwiegend über seine Figuren transportiert. Gewalt gegen, Mißbrauch, Mißachtung von Frauen tauchen hier auf verschiedenen Ebenen auf, zentral auch der Umgang mit Schuld und Scham.

Im einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur stellt Johannes Groschupf heraus, dass er in seinen Romanen seine Menschenbegegnungen in seiner Stadt Berlin verarbeitet, ohne große didaktische Hintergedanken zu haben, was gesellschaftlich relevante Themen betrifft. Das merkt man dem Roman auch an, er streift durch die Milieus, lässt verschiedene Persönlichkeiten aufeinanderprallen, nimmt uns mit durchs nächtliche Berlin. Das wirkt ganz natürlich, organisch – von den Dialogen bis zu den beschriebenen Milieus. Groschupf erschafft wieder mal einen modernen Berlinroman und gleichzeitig einen spannenden Thriller, ganz ohne Leiche. Der Autor hat sich direkt mit seinen ersten Romanen in der ersten Riege deutscher Krimiautoren etabiert und offenbar hat er vor, dort zu verweilen.

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

Die Stunde der Hyänen | Erschienen am 21.11.2022 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-47300-9
265 Seiten | 16,- €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Gunnars Rezension zu „Berlin Heat

David Osborn | Jagdzeit

David Osborn | Jagdzeit

In Jagdzeit geht es nicht […], sondern um die dunkle Seite des Menschen allgemein, die immer und überall zutage tritt. Seit Erscheinen meines Buches hat sich die Menschheit diesbezüglich bedauerlicherweise nicht verändert. (Auszug Vorwort)

Mit diesen Worten aus der Neuauflage des Buches von 2010 stimmt uns Autor David Osborn auf seine dem Werk zugrundeliegende Stimmung ein: Der Mensch ist des Menschen Wolf. In der Originalausgabe von 1974 widmet Osborn das Buch dem noch sehr präsenten Watergate-Skandal. Die pessimistische Grundhaltung des Autors lässt sich auch aus dessen Vita erklären. Hochdekorierter Pilot im Zweiten Weltkrieg, anschließend Autor und PR-Mann am Broadway und in der Werbeindustrie. 1955 gerät er aber in die Kommunistenhatz unter Senator McCarthy. Osborn emigriert nach Frankreich, wird Besitzer eines Steinbruchs und Drehbuchautor für europäische Produktionen (z.B. „16 Uhr 50 ab Paddington“). Anfang der 1970er wird er schließlich Romanautor mit einer Vorliebe für Plots, in denen der Mensch seinen niederen Instinkten wie Machtgier auf persönlicher oder politischer Ebene frönt.

„Jagdzeit“ beginnt mit einem kurzen Prolog etwa zwanzig Jahre vor der Haupthandlung. Im Büro eines Bezirksstaatsanwalts sitzt eine junge Frau mit ihren Eltern, die vom Staatsanwalt die Aufnahme eines Verfahrens verlangen. Die junge Frau wurde nach einem fröhlichen Abend von drei Kommilitonen ihres Colleges brutal vergewaltigt. Doch schnell wird klar, dass der Staatsanwalt ein solches Verfahren nicht anstrebt. Die drei Studenten sind angesehen, gut vernetzt, es steht Aussage gegen Aussage, es gibt angeblich sogar Zeugen für die Vergewaltiger. In einem sehr zynischen Gespräch sehen schließlich auch die Eltern die Aussichtslosigkeit eines Urteils ein und zwingen schließlich ihre Tochter, das entstehende Kind aus der Vergewaltigung einem anderen anzudrehen. Die Namen der Vergewaltiger übrigens sind Ken, Greg und Art.

In der Haupthandlung sind Ken, Greg und Art inzwischen etablierte Stützen der Gesellschaft, gut situiert, Frau und Kinder. Normale obere Mittelklasse. Einmal im Jahr gönnen sich die drei einen längeren Jagdausflug ins ländliche Wisconsin, in eine Waldhütte an einem abgeschiedenen See, mitten in der Wildnis. Ohne Familie, ohne Freunde, da sind sie sehr eigen. Und dafür gibt es auch einen guten Grund.

Das Buch beginnt mit dem Aufbruch der drei. Er herrscht eine unverhohlene Vorfreude, testosterongesättigt. Schnell wird auch dem Leser deutlich gemacht, dass dies nicht nur ein typischer Jagdausflug wird. Die Jagd auf Tiere genügt den dreien nicht mehr. In einem Motel nehmen sie ihre Opfer ins Visier: Nancy und Martin, ein verheiratetes Pärchen – allerdings nicht miteinander, die ihren Seitensprung ein paar Tage länger auskosten wollen. Ken, Greg und Art kidnappen die beiden und nehmen sie mit zu ihrer Jagdhütte. Ihre perversen Spiele können beginnen. Doch diesmal ist etwas anders. Noch ahnen es die drei nicht, aber diesmal hat sich noch jemand zu ihrem Jagdurlaub unangemeldet eingeladen.

Einmal im Jahr durfte er ein wirklicher Mann sein, genetisch, instinktiv und, genötigt durch die trostlosen Ketten der Gesellschaft im Verein mit dem hysterischen Gekeife emanzipierter Weiber, auch psychisch. Er durfte ein wildes, reißendes Tier sein, ein rohes sexuelles Tier und gleichzeitig ein verschwiegener, verdrehter, komplexer, moderner Mann, der sich schamlos jeder noch so krankhaften Perversion hingeben kann, die ihm in den Sinn kommen mag. (Auszug S.55)

Topos und Setting ließen mich direkt die Verbindung zu einem anderen Roman ziehen: „Deliverance“ (dt. Flussfahrt) von James Dickey (als Verfilmung in Deutschland unter dem hübschen Namen „Beim Sterben ist jeder der Erste“ vertrieben). Der Roman erschien einige Jahre zuvor und erzählt die Geschichte von vier Freunden in der Midlife Crisis, die einen Abenteuerurlaub auf Kanus in der Wildnis verbringen und auf die dort plötzlich und ohne ersichtlichen Grund Jagd gemacht wird. In „Deliverance“ erfährt man wenig bis nichts davon, warum auf sie Jagd gemacht wird. In „Jagdzeit“ wiederum verschiebt sich die Perspektive von den Opfern zu den Tätern (obwohl durchaus aus verschiedenen Perspektiven erzählt wird).

Ken, Greg und Art sind Prachtexemplare der amerikanischen Gesellschaft, die in ihrem Inneren ständig Macht- und Sexfantasien hegen und nur auf die passende Gelegenheit warten, diese auszuleben. Der uramerikanische Jagdtrieb auf die Spitze getrieben. Dabei wahren sie die schöne Fassade, hinter der das Haus nur allzu oft verrottet ist. Natürlich können sie es nicht öffentlich ausleben, aber sie kommen damit durch, weil niemand allzu genau hinguckt. Das ist toxische Männlichkeit bis zum Äußersten. Aber auch die anderen Figuren bieten keinen wirklichen positiven Gegenpart. Der geheimnisvolle Mann im Wald – ihm geht es nicht um Gerechtigkeit, sondern bloß um Rache, wie sich bald herausstellt. Martin, ein Ehebrecher, der Nancy offensichtlich hinhält, weil er nie vorhat, seine Ehe zu beenden. Schließlich Nancy, bei der Osborn eine eher merkwürdige Frauenfigur kreiert, die sich frei entfalten will, auch in der Sexualität, die aber dennoch dem Modell der männlichen Dominanz nichts wirklich entgegensetzt.

Die Figuren erhalten trotz der Kürze des Romans und der sich zuspitzenden Handlung ausreichend Tiefe, sind etwas einseitig angelegt und bei Nancy für meinen Geschmack nicht so ganz gelungen. Letztlich dienen sie aber dem Zweck Osborns, der desillusioniert und schonungslos eine Geschichte über die menschlichen Abgründe erzählt. Dabei erweist er sich als versierter Plotter, der Thriller ist ein echter Pageturner, der bis zum Schluss die Spannung hochhält. Am Ende steht, so viel steht natürlich fest, keine Katharsis, keine Erlösung, sondern eine Beobachtung der menschlichen Niedertracht, die wie oben erwähnt, aus Sicht des Autors weiterhin andauert. Dass mag nicht jedem Leser als Erkenntnis schmecken, aber es wird selten so mitreißend und dramatisch inszeniert wie hier von David Osborn.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters

Jagdzeit | Erstmals erschienen 1974
Die gelesene Ausgabe erschien am 2014 als Lizenzausgabe für die Büchergilde Gutenberg
Die zugrundeliegende Ausgabe erschien 2010 im Pendragon Verlag
ISBN 978-3-86532-209-8
280 Seiten | 13,- €
Originaltitel: Open Season | Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Marcel Keller
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Rezension von Jochen König bei krimi-couch.de

William McIlvanney & Ian Rankin | Das Dunkle bleibt

William McIlvanney & Ian Rankin | Das Dunkle bleibt

In Städten wimmelt es von Verbrechen. In allen. Das ist einfach so. Kommen genügend böse Menschen an einen Ort zusammen, macht sich das Böse in irgendeiner Form bemerkbar. Liegt in der Natur der Sache. Und ist den Bürgern meist nur unterschwellig bewusst. (Auszug Anfang)

Anfang der Siebziger in Glasgow. Seit drei Tagen liegt Bobby Carter erstochen in einer Gasse hinter einem Pub. Der korrupte Anwalt war die rechte Hand von Cam Colvin, einer Glasgower Unterweltgröße, die einen Großteil der Arbeiterstadt managt. Sein Konkurrent ist John Rhodes, ein weiterer gefürchteter Gangsterboss und dass der Leichnam in seinem Revier liegt, gerät schnell zu einem Problem. Colvin, ein raubeiniger, ruppiger Schläger betrachtet den Mord als Anschlag seines größten Rivalen auf sein Herrschaftsgebiet. Ein dritter Gangsterboss, Matt Mason mischt auch noch mit, so dass das Glasgow Crime Squad einen erbitterten Bandenkrieg befürchtet. Detective Constable Jack Laidlaw wird mit den Ermittlungen betraut. Der schlaue Einzelgänger im Polizeidienst ist für sein besonderes Gespür für die Straße bekannt, wird aber auch trotz großer kriminalistischer Erfolge aufgrund seiner unangepassten Art gefürchtet. Der Enddreißiger ist ein unkonventioneller Charakter, der aus seiner Verachtung für Intimfeind DI Ernie Milligan, der seiner Meinung nach die falschen Fährten verfolgt, keinen Hehl macht. Sein neuer Partner DS Bob Lilley bekommt dies direkt zu spüren.

„Er ist ein Unikat in einer Welt der Massenproduktion. Kein Polizist, der zufällig auch Mensch ist. Er ist ein Mensch, der zufällig auch Polizist ist, und die Bürde schleppt er überall mit sich herum.“ Auszug Seite 279

Laidlaw nutzt seine Verbindungen zur Glasgower Unterwelt, dessen Machtverhältnisse und Geschäfte ihm vertraut sind, um den ausgesprochen verwickelten Fall zu lösen. Als Ermittler alter Schule löst man seiner Meinung nach Kriminalfälle nicht am Schreibtisch, sondern auf der Straße. Trotz der relativen Kürze der Geschichte tauchen viele Figuren auf, die einen beim Lesen fordern und schnell den Überblick verlieren lassen. Die Ermittlungen halten einige Überraschungen bereit, bis Laidlaw schlussendlich durch seine unorthodoxe Arbeitsweise eine völlig unerwartete, aber schlüssige Lösung für Bobby Carters Ermordung gefunden hat.
Zeitlich spielt die Handlung innerhalb weniger Tage, bietet solide Spannung à la Whodunit aber noch mehr stimmige Milieustudien und eine fesselnde Zeitreise. Es sind die 70er Jahre, Hochzeit des Glasgower Gangstermilieus mit mafiösen Strukturen. Frauen werden bei der Polizei höchstens als Hilfskräfte sprich Tippsen eingesetzt. Das düstere Grundszenario wird durch kurze Kapitel, viele knackige Dialoge mit Sprachwitz zu den Lesenden transportiert.

Laidlaw ist eine sehr widersprüchliche Figur. Aus einer Arbeiterfamilie stammend, beschäftigt er sich gerne mit den großen Philosophen, dessen Bücher in seinem Schreibtisch liegen und die er gerne zitiert. Er liebt es Bus zu fahren, um Menschen und Umgebung zu studieren. Den Tätern gegenüber häufig verständnisvoll und mitfühlend aber ohne große Illusionen, werden seine Ehefrau Ena und die drei kleinen Kinder dagegen sträflich vernachlässigt. Anstatt nach Hause zu seiner Familie zu gehen, trifft er sich nach Dienstschluss lieber mit seinem neuen Partner auf ein Guinness im Pub und sinniert über Recht und Gerechtigkeit. Wenn er über den Verfall der Stadt spricht, blitzt auch immer eine leise Sozialkritik durch. Sobald er an einem großen Fall arbeitet, übernachtet er oft im Burleigh Hotel in der Innenstadt, um mit dem Kopf bei der Sache zu bleiben. Und bei seiner Geliebten, der Empfangsdame Jen vom Burleigh. Die Ehe scheint zerrüttet, aber Ena versucht zumindest verzweifelt, noch irgendwas zu retten und eine Verbindung zum neuen Kollegen Lilley und dessen Ehefrau aufzubauen.

William McIlvanney wurde mit seiner Laidlaw-Trilogie über die schottischen Grenzen hinweg bekannt. Er hat mit der Figur des Jack Laidlaw 1977 den modernen schottischen Kriminalroman begründet und Laidlaw wurde als erster Roman dem schottischen Noir oder besser dem Tartan Noir zugerechnet. Die allgemeine Hochachtung seiner Werke gründet dabei auf der literarischen Sprache und dass immer große moralische und soziale Fragen angegangen sowie ein realistisches Bild einer von sozialen Umbrüchen gekennzeichneten Großstadt der 70er gezeigt wurde. „Das Dunkle bleibt“ ist ein Manuskript aus dem Nachlass des 2015 Verstorbenen, welches von Ian Rankin vollendet wurde. Der schottische Starautor, ein großer Bewunderer seines Landmanns und Autorenkollegen bekennt, ohne das Vorbild Laidlaw hätte es seinen Inspektor Rebus nie gegeben. So entstand ein Prequel, dem man nicht anmerkt, dass hier zwei unterschiedliche Autoren-Ikonen am Werk waren.

Ich kannte die Kult-Trilogie nicht, habe aber im Anschluss den ersten Band gelesen und auch wenn mir „Das Dunkle bleibt“ gut gefallen hat, war „Laidlaw“ sprachlich noch mehr auf den Punkt, strukturierter und die Gangsterbosse und die Figur des Inspektors Jack Laidlaw noch griffiger.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Das Dunkle bleibt | Erschienen am 24. August 2022 im Antje Kunstmann Verlag
ISBN 978-3-956-14508-7
288 Seiten | 25,00 Euro
Originaltitel: The Dark Remains | Übersetzung aus dem Englischen von Conny Lösch
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Gunnars Rezension zu „Laidlaw