James Kestrel | Bis in alle Endlichkeit
Um eine Millionenerbin zu ermorden, war ich zu sehr damit beschäftigt gewesen, einen Zeugen der Bundesanwaltschaft einzuschüchtern. Was die mögliche Gefängnisstrafe anging, würde ich wahrscheinlich besser dastehen, wenn ich zugab, sie im Vollrausch vom Dach gestürzt zu haben. (Auszug Seite 188)
Leland Crowe, der Protagonist in James Kestrels aktuellem Thriller arbeitet als Privatdetektiv in San Francisco, seit er seine Anwaltslizenz verloren hat. In dem heruntergekommenen Viertel Tenderloin hat er sich in einem schäbigen Hotel einquartiert, um für den Strafverteidiger Jim Gardner in einem spektakulären Fall eines Drogenkartellchefs zu recherchieren. Als er in den frühen Morgenstunden seine Runde um den Block dreht, stolpert er über einen Rolls Royce, der definitiv nicht in diese Gegend gehört. Auf dem eingedrückten Dach entdeckt er die Leiche einer schönen, jungen Frau in einem Cocktail-Kleid, die offenbar aus großer Höhe herabgestürzt ist.
Anstatt die Polizei zu verständigen, das wäre aufgrund seiner illegalen Tätigkeit suboptimal, macht er sich aus dem Staub. Aber nicht, ohne vorher einige Fotos zu schießen, die er meistbietend an Zeitungen verhökert. Geld ist immer knapp, deshalb nimmt er auch den nächsten Auftrag an, den ihm Gardner vermittelt. Die Klientin ist ausgerechnet Olivia Gravesend, einflussreiche Millionärin und Mutter des Opfers. Geld spielt keine Rolle, er soll nur herausfinden, was mit ihrer geliebten Tochter Claire passiert ist. Die Polizei hat den Fall bereits als Suizid zu den Akten gelegt. Das kann sich die verzweifelte Olivia nicht vorstellen, auch wenn sie seit einem halben Jahr nichts mehr von ihrer Tochter gehört hatte.
Die Welt der Reichen und Schönen
Eine erste Spur führt Crowe nach Boston, wo Claire studierte. Hier findet er im Tresor ihres Hauses einen Schlüssel zu einem anderen Haus in San Francisco. Bevor er sich auf den Weg machen kann, wird er von einem maskierten Mann angegriffen, es kommt zu einem brutalen Kampf auf Leben und Tod. Unser Protagonist fragt sich, in was für Machenschaften Claire verwickelt war und was hat es mit den zahlreichen Narben an ihrer Wirbelsäule auf sich? Am neuen Ziel angekommen, findet der Ermittler eine junge und äußerst lebendige Frau vor, die genauso aussieht wie die verstorbene Claire Gravesend einschließlich der seltsamen Narben auf dem Rücken. Nachdem in Crowes Wohnung eingebrochen und sein Büro verwanzt wurde, hat er das Gefühl, in ein Wespennest gestochen zu haben und einer viel größeren Sache auf der Spur zu sein.
Lee Crowe arbeitet als privater Ermittler, seit er seine Zulassung als Anwalt und auch seine Ehefrau verloren hat. Nur am Rande erfährt man, dass er handgreiflich gegenüber dem Obersten Richter wurde, mit dem seine Exfrau Juliette nun zusammen ist. Es spielt für die Geschichte auch keine große Rolle. Typisch für eine Detektivstory wird aus der Ich-Perspektive des Privatschnüfflers erzählt. Dieser hat kein Problem damit, sich auch mal die Hände schmutzig zu machen, geht der Polizei gerne, einer Schlägerei dagegen nie aus dem Weg. Crowe ist ein cleverer Typ, der sich meistens zu helfen weiß, wenn auch oft am Rande der Legalität. Kestrel zeigt uns hier die klassische Figur eines coolen Einzelgängers, immer einen lässigen Spruch auf den Lippen, mitunter zynisch, illusionslos aber auch total einsam.
„Er hat mir gesagt, dass Sie einen flexiblen Umgang mit Regeln pflegen“, sagte Olivia. „Dass Sie einen verbissener Dreckskerl sind. Jetzt weiß ich, was er gemeint hat.“ „Von wem reden Sie?“ „Von Jim Gardner.“ „Das hat Jim gesagt? So nett redet er sonst nie über mich.“ (Auszug Seite 328)
Das düstere Cover mit der Golden Gate Bridge fällt sofort ins Auge und erinnert in seiner Gestaltung an den Vorgänger, ein wahres Krimi-Juwel des letzten Jahres. Dabei ist „Bis in alle Endlichkeit“ im Original unter dem Titel „Blood Relations“ bereits 2019 erschienen und gar nicht mit dem epischen und mehrfach ausgezeichneten Werk „Fünf Winter“ zu vergleichen sowie auch einem ganz anderen Genre zugehörig. Wir haben es hier mit einem klassischen Hardboiled zu tun. Dabei hat der Autor die traditionelle Detektivfigur in die Gegenwart und damit in ein modernes Setting transferiert.
Meine Meinung
Obwohl man früh ahnt, wohin die Reise geht, hatte mich James Kestrel durch seinen flüssigen und bildhaften Schreibstil von der ersten Seite an am Haken. Besonders gut gefallen hat mir der Witz in den rotzig-geschliffenen Dialogen. Als Leserin verfolgte ich atemlos die nachvollziehbaren Ermittlungsarbeiten, staunte über falsche Fährten und überraschende Twists, genoss die Verfolgungsjagden per Auto und Hubschrauber, fieberte mit bei den Kampfszenen und Explosionen. Ein düsterer Pageturner, knapp und mit viel Tempo erzählt, der mich bestens unterhalten hat.
Das Ende und auch das Nachwort deuten weitere Fälle um Leland Crowe an. Ich würde mich freuen, denn das Zeug zum Serienermittler hat er auf jeden Fall.
Foto und Rezension von Andy Ruhr.
Bis in alle Endlichkeit | Erschienen am 09. September 2024 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-51847-435-8
430 Seiten | 20,- Euro
Originaltitel: Blood Relations | Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Stefan Lux
Bibliografische Angaben & Leseprobe
Weiterlesen: Andys Rezension zu „Fünf Winter“ von James Kestrel