Kategorie: Kriminalroman

Ron Corbett | Cape Diamond (Band 2)

Ron Corbett | Cape Diamond (Band 2)

Springfield, eine fiktive kanadische Großstadt im Landesinneren an der nördlichen Wasserscheide. An einem Zaun eines Sportplatzes am Rande einer Hochhaussiedlung wird übel zugerichtet Augustus Morissey, Boss des heimischen Gangsterclans der Shiners, ermordet aufgefunden. Besonderes Detail: In seinem Mund wird ein äußerst wertvoller ungeschliffener Diamant gefunden. Detective Frank Yakabuski stößt bei seinen Ermittlungen auf viel Schweigen und wenig Interesse. Der Verdacht fällt auf die rivalisierende, kriminelle Truppe der North Shore Travellers. Auch von diesen wird kurz darauf jemand an der gleichen Stelle aufmordet aufgefunden. Es kommt zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, die Stadt gleicht einem Pulverfass, man erwartet täglich einen blutigen Bandenkrieg.

Die Shibers sind eine ursprünglich irische Schmugglerbande, die seit der ersten Besiedlung der Region (nach den Indigenen) mit den Travellers, die als Nachfahren von Sinti und Roma nach Kanada kamen, einen blutigen Bandenkrieg liefert. Beide Gruppen haben mittlerweile ihre kriminellen Aktivitäten diversifiziert. Durch den Diamantenfund kommt aber noch eine ganz andere Wendung in den Fall: Nicht allzuweit entfernt von Springfield befindet sich Cape Diamond, eine äußerst lukrative Diamantenmine. Allerdings auch mit äußerst strengen Sicherheitsvorkehrungen, sodass die Leitung der Mine es ausschließt, dass der Diamant entwendet worden sein kann.

Zudem kommt ein weiterer Erzählstrang hinzu: Von den Akteuren in Springfield unbemerkt, begleitet der Leser die Fahrt eines Killers aus Mexiko Richtung Kanada. Der kühle, rationale Mann fährt mit einem Campervan Richtung Norden und ist für alle Eventualitäten gut ausgerüstet. Bald schon zieht er eine Blutspur hinter sich her, da er alle Personen, die ihn an die Behörden verraten könnten, ausschaltet. Was der Leser bald weiß: Er hat einen Auftrag in Springfield. Doch wie hängt das mit den sonstigen Ereignissen zusammen?

Yakabuski fühlte sich wie der unter Zeitdruck geratene Künstler. Weil er das Bild einfangen wollte, bevor es ganz verschwand. Inzwischen war er überzeugt, dass in diesem Fall nichts so war, wie es auf den ersten Blick schien. Die Ermittlungen erinnerten an einen Stummfilm auf Zelluloid, als genug fürs Museum, ein Streifen in Schwarz-Weiß, ohne Anfang und Ende, sondern lediglich einem mysteriösen Mittelteil und ätzenden chemischen Emulsionen anstelle des Vor- und Abspanns. (E-Book Pos. 1842-1851)

Der zweite Teil der Reihe um den einzelgängerischen Detective Yakabuski führt wieder in die rauen, kargen Gegenden Kanadas am Rande des borealen Nadelwalds, obwohl Autor Ron Corbett mit Springfield eine großstädtisches Setting ebenfalls erschafft. Yakabuski ist ähnlich wie im ersten Roman „Preisgegeben“ eher als einsamer Wolf unterwegs, ein Ermittler, der sich wenig um Hierarchien und Polizeitaktiken schert. Von seiner Vergangenheit als Soldat mit Auslandseinsatz im Bosnienkrieg und als Untercover-Cop, der eine berüchtigte Motorradgang erfolgreich infiltriert hat, ist Yakabuski geprägt und handelt eher spontan und intuitiv, um dem Bösen die Stirn zu bieten. Gleichzeitig ist er bereit, bei seinen Ermittlungen nicht nur die ausgetretene Pfade zu benutzen und das Offensichtliche anzunehmen, sondern in die tieferen Hintergründe vorzudringen.

Der Roman erzählt viel von der Vergangenheit der Region mit Siedlern, Holzfällern, fahrendem Volk und wie sich Konflikte aus der damaligen Zeit bis in die Gegenwart erhalten haben. Der Autor erschafft einen auf Gewalt basierenden Gründungsmythos seiner fiktiven Stadt Springfield, der allerdings an echte Geschichten und Konflikten anknüpft. Interessant dabei sind auch die Wetterverhältnisse während der Handlung: Am Ende des Herbstes und zu Winterbeginn erwartet man in Springfield eigentlich Frost und Schnee. Stattdessen herrschen warme, fast sommerliche Temperaturen, die die Geschehnisse vor Ort buchstäblich nochmal anheizen.

Insgesamt hat Ron Corbett einen harten Krimi mit brutalen Gestalten und groben Gewalttaten geschrieben, der mich an manchen Stellen an James Lee Burkes Robicheaux-Romane erinnert haben, z.B. Bei den Geschichten aus der Vergangenheit und diesem Killer, der aus dem Nichts kommend auf den Plan tritt. Ein Dave Robicheaux ist Frank Yakabuski trotz ein paar Ähnlichkeiten nicht ganz. Allerdings ist auch er ein Ermittler, der die ganze Zeit versucht, auf die Zwischentöne zu achten und herauszufinden, ob hinter der ganzen Gewalt nicht noch mehr dahintersteckt. Und so viel sei gesagt – er wird recht behalten in diesem hartgesottenen kanadischen Krimi. Insgesamt eine wirklich gelungene Fortsetzung der Reihe.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Cape Diamond | Erschienen am 12.02.2024 im Polar Verlag
ISBN 978-3-948392-92-5
320 Seiten | 17,- €
Originaltitel: Cape Diamond | Übersetzung aus dem kanadischen Englisch von Harriet Fricke
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Gunnars Rezension zu Band 1 „Preisgegeben“

Arne Dahl | Stummer Schrei

Arne Dahl | Stummer Schrei

Von einer Anhöhe wid durch ein Fernglas das zweite Überholmanöver verfolgt. Vor allem, was mit dem Wagen auf der linken Spur passiert. Er fängt Feuer, der Fahrer verliert die Kontrolle und schert in der Kurve in die falsche Richtung aus, rast von der Autobahn und pflügt wie ein Feuerball durch das goldgelbe Rapsfeld. […]
Das Fernglas senkt sich in der einen Hand, der Fernzünder in der anderen.
Das Universum hört einen tiefen Atemzug.
Es hat begonnen. (Auszug E-Book Pos.77-85)

Es beginnt mit zwei Sprengstoffanschlägen. Zum einen auf den Wagen eines hohen Managers eines Stahlkonzerns, zum anderen eine Paketbombe auf den Chef einer renommierten Werbeagentur, der gerade eine Kampagne für mehrere Konzerne mit dem Schwerpunkt auf fossile Energien vorbereitete. Dann erhält Eva Nyman, Leiterin der kleinen Spezialeinheit NOVA in der schwedischen Kriminalpolizei, eine Art Bekennerbrief. In diesem wird auf die Zerstörung der Umwelt und des Klimas hingewiesen, verklausuliert sich der beiden Anschläge bekannt und weitere angekündigt. Doch was Eva Nyman sofort stutzig macht, ist der Duktus des Schreibens und eine bestimmte Formulierung. „Die Ruinen des Verfalls“ war eine der Lieblingsformulierungen ihres ehemaligen Vorgesetzten Lukas Frisell.

Frisell war bis vor etwa 15 Jahren im Dienst der Kripo, doch im Zuge eines fehlgeschlagenen Einsatzes, bei dem eine Geisel aufgrund seiner falschen Entscheidungen verstarb, hatte er den Dienst quittiert. Frisell arbeitete später als Dozent für Umwelt- und Klimaforscher an einer Fachhochschule, bevor er dann als Prepper in die Wälder ging und seitdem von der Bildfläche verschwunden ist. Nyman und ihr vierköpfiges Team fragen sich, ob Frisell sich weiter radikalisiert hat und nun als Klimaterrorist aktiv wird. Sie nehmen seine Spur auf und müssen tief in die schwedischen Wälder, um seiner habhaft zu werden. Doch gerade als sie ihn zur Verhör haben und er alles von sich weist, geschieht ein dritter Anschlag auf eine Serverfarm eines globalen Versandhändlers.

Arne Dahl ist schon einer der Veteranen der schwedischen Krimiszene. 1999 begann er seine Karriere als Krimiautor mit dem ersten Band der Serie um die Sondereinheit „A-Gruppe“ mit insgesamt elf Romanen, an die er auch in seiner zweiten Reihe um eine Europol-Ermittlungsgruppe anknüpfte. Nun beginnt er mit „Stummer Schrei“ wieder eine Reihe mit einer kleinen, hochintelligenten Ermittlungseinheit. Im Zentrum steht neben Eva Nyman und ihrer Einheit vor allem der ehemalige Polizist, ehemalige Forscher und Dozent, Spezialist für Überlebenstraining und Prepper Lukas Frisell. Ein undurchsichtiger Typ, intelligent, ignorant, Einzelgänger, lebt einerseits als Eremit im Wald, hat schon immer gegen den Raubbau an der Natur doziert, aber entsagt keinesfalls aller Technologie oder sonstigen Bedürfnissen. Was hat er mit den Anschlägen zu tun? Für meinen Geschmack kann der erfahrene Leser zu schnell seine Rolle in dem Ganzen erraten.

Ansonsten bietet Dahl eine souveräne Vorstellung. Die Figuren sind interessant (auch wenn das NOVA-Team schon übertrieben gute Polizisten sind), der Spannungsaufbau stimmt, das Ganze liest sich gut weg. Auch die Schauplätze sind gut gewählt, neben Stockholm geht der Autor auch in die Provinz und in die Tiefe der schwedischen Wälder. Dieses „Zurück zur Natur“ als eines der zentralen Themen des Romans ist gut gemacht, führt aber auch zu meinem größten Kritikpunkt am Roman. Das eigentliche Motiv (Vorsicht Spoiler) der Anschläge führt wieder von diesem Thema weg und ist für meinen Geschmack viel zu übertrieben und aufgeblasen. So gibt es von mir doch noch am Ende ein paar Abzüge. Insgesamt erhält der Leser aber souveräne Krimikost aus dem hohen Norden.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Stummer Schrei | Erschienen am 01.02.2023 im Piper Verlag
ISBN 978-3-492-07241-0
464 Seiten | 17,- €
Als E-Book: EAN 978-3-492-60641-7 | 14,99 €
Originaltitel: I cirkelns mitt | Übersetzung aus dem Schwedischen von Kerstin Schöps
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Stephen King | Holly

Stephen King | Holly

Holly Gibney, Privatermittlerin und Inhaberin der Detektei Finders Keepers bekommt den Auftrag, eine vermisste junge Frau zu finden. Penny Dahl, die Mutter, hat ihre Tochter Bonnie seit drei Wochen nicht mehr gesehen, die Polizei ist wegen der anhaltenden Corona-Pandemie überlastet. Holly beginnt ohne ihren Partner, den an Corona erkrankten ehemaligen Polizistin Pete Huntley, mit den Ermittlungen. Sie recherchiert in der Nähe des Ortes, an dem Bonnie zuletzt gesehen wurde und an dem nur ihr Fahrrad gefunden wurde. Am Sattel klebte lediglich ein Zettel: „Ich habe genug“. Holly befragt Zeugen, findet Hinweise und stößt in der Gegend auf weitere Vermisstenfälle in den letzten Jahren, welche ein ähnliches Muster aufweisen. Beweisen kann sie es noch nicht, weswegen sie auch erst mal die Polizei aus dem Spiel lässt und den Großteil der Ermittlungen allein erledigt.

Sie weiß, wer sie beide sind und dass Roddy und Em sie nicht gehen lassen können, weil man sie sonst wegen Entführung verhaften würde (was nur einer von vielen Anklagepunkten wäre), aber trotzdem hat sie weder zu verhandeln versucht noch gebettelt. Nur dieser Hungerstreik. Wie sie Em gesagt hat, würde sie breitwillig einen Salat essen, aber das kommt absolut nicht infrage. Ein Salat, ob mit oder ohne Dressing, ist kein Sakrament. Fleisch ist ein Sakrament. Leber ist ein Sakrament. (Auszug Seite 83)

Als Leser*in weiß man allerdings von Anfang an, was passiert ist. Denn jedes zweite Kapitel des 630 Seiten starken Romans ist aus der Sicht eines bereits emeritierten Professorenpaares geschrieben. Emily und Rodney Harris sind ein altes Ehepaar, als Akademiker gehören sie der bürgerlichen Oberschicht an. Miteinander gehen sie sehr liebevoll um. Aber die durchgeknallte Professorin für Englische Literatur und der Biowissenschaftler sind Rassisten und homophob. Sie geben sich als hilflose alte Menschen, die ein Problem mit dem Rollstuhl haben. Gutmütige Helfende finden sich bald im Keller der Harris in einem Stahlkäfig wieder. Der Autor macht von Anfang an klar, um was es geht. Ich möchte das aber hier nicht spoilern. Die Entführungen der Opfer spielen sich immer wieder in der gleichen Weise ab, es gibt keine Überraschungen, keine Twists.

„Holly“ ist bereits der sechste Roman, in dem die Protagonistin Holly Gibney vorkommt. Wir begegneten ihr zuerst 2014 in „Mr. Mercedes“ als beliebte Nebenfigur. Stephen King scheint sich in die eigentlich als schrullige Statistin gedachte Figur verliebt zu haben. Nach der gesamten Bill-Hodges-Trilogie hatte sie Auftritte in „Der Outsider“ sowie in dem Kurzgeschichten-Band „Blutige Nachrichten“. Jetzt ist die Neurotikerin mit Zwangsstörungen und Marotten die Hauptfigur in einem Crime-Thriller, der ganz ohne übernatürliche Elemente auskommt. Dabei befindet sie sich in ihrer Spleenigkeit und ihren Verhaltensauffälligkeiten in guter alter Detektivtradition. In dieser klassischen Ermittlergeschichte baut sich der Schrecken allmählich auf, die Spannung entsteht, zu verfolgen, wie Holly Spuren findet und die ganze Dimension des Grauens erkennt.

Stephen King glänzt auch hier wieder mit seinen schriftstellerischen Qualitäten, findet in knappen Worten beeindruckend plastische Bilder in vielen stimmigen Passagen und hat seine Charaktere immer fest im Blick. Was ich nicht so gelungen fand, war das simplifizierte Bild von Gut und Böse. Seine Welt ist einfach strukturiert ohne jegliche Grautöne. Wenig subtil gibt es die Covidleugner, die Trump-Wähler, die alle rassistisch oder zumindest dumm sind. Dagegen die Guten, die mindestens doppelt geimpft sind und ständig Maske tragen und Körperkontakte vermeiden.

Der amerikanische Autor hat den Roman 2021 während des Lockdowns geschrieben und deshalb fehlt auch nicht der für King typische Blick aufs Weltgeschehen. Die Handlung spielt sich während der Pandemie ab, dominiert jedes Kapitel und thematisiert auch die tiefen Gräben zwischen Impfgegnern und Befürwortern. Das muss man mögen, mich hat es nicht groß gestört, es war vielleicht noch zu früh. Die Menschen begrüßen sich mit Ellbogencheck, stellen sich mit Namen vor und mit welchen Impfstoff sie versehen sind. Hollys Mutter, auch eine Corona-Leugnerin ist an Covid verstorben und der Roman beginnt mit ihrer Beerdigung in Form einer Zoom-Konferenz.

Dann gibt es noch eine Nebenhandlung, in der die junge Barbara Robinson ihren Weg von der unbekannten Verfasserin von Gedichten zur Preisträgerin amerikanischer Lyrik macht, während ihr Bruder Jerome zeitgleich zum Bestsellerautor aufsteigt. Dieses rührende Künstlermärchen war nicht nur dramaturgisch total entbehrlich sondern auch teilweise sehr kitschig garniert mit Phrasen. Und was ist eigentlich mit „Show, don’t tell“? Die Analogie zu Amanda Gorman, um nur ein Beispiel zu nennen, wird selbst angesprochen, ohne dass wir diese selbst ziehen können. Als wenn King diese Schlussfolgerungen seinen Leser*innen nicht zutraut. 2024 soll tatsächlich der nächste Roman erscheinen, wieder mit Holly Gibney und ihrer Gang.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Holly | Erschienen am 20.09.2023 im Heyne Verlag
ISBN 978-3-45327-433-4
640 Seiten | 28,- €
Originaltitel: Holly | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Bernhard Kleinschmidt
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Weitere Rezensionen zu Romanen von Stephen King auf Kaliber.17

Doug Johnstone | Eingefroren (Band 2)

Doug Johnstone | Eingefroren (Band 2)

„Wenn man immer in dem Universum endet, in dem man überlebt, bedeutet das nicht, dass man alles tun kann, was man will?“
„Ich glaube, das bringt uns nicht weiter.“
„Vielleicht ist es das, was mein Dad dachte“, sagte Hannah. „Vielleicht glaubte er, er könnte einfach alles tun, worauf er Bock hätte, und käme damit durch.“
Rita seufzte. „Männer brauchen keine Quantenphysik, um zu meinen, sie kämen mit allem durch.“ (Auszug S.21)

Beim letzten Mal sind sie noch gerade davongekommen, die Skelfs. Dorothy, die Großmutter, Jenny, die Mutter und Hannah, die Enkelin. Bestattungsunternehmerinnen in Edinburgh und gleichzeitig – interessante Kombination – Inhaberinnen einer Detektei. Im ersten Band „Eingeäschert“ (Vorsicht: Spoiler) werden die drei Frauen von Craig, Jennys Ex und Hannahs Vater und ein Mörder und Psychopath, attackiert und teilweise schwer verletzt. Jetzt, ein halbes Jahr später ist zumindest oberflächlich etwas Ruhe eingekehrt, doch sie haben noch ganz schön dran zu knapsen. Doch die Ruhe ist nicht von langer Dauer, denn auch aus dem Gefängnis heraus, kann Craig das Seelenleben der Frauen attackieren.

Daneben belastet sich dieses Frauen-Trio aber auch noch mit anderen Dingen. Direkt der Beginn ist spektakulär, als während einer Bestattung sich ein Auto auf dem Friedhof mit der Polizei eine Verfolgungsjagd liefert, Dorothy beinahe überfährt und schließlich in ein offenes Grab stürzt. Der Fahrer, ein Autodieb, überlebt nicht, allerdings sein Hund auf der Rückbank. Dorothy nimmt sich des Tieres an und recherchiert nach dessen verstorbenen Herrchen, den niemand identifizieren kann und den scheinbar niemand vermisst. Gleichzeitig macht sie sich Sorgen um eine ihrer Schülerinnen beim Schlagzeug-Unterricht, die offenbar von zuhause ausgerissen ist. Hannah hingegen ist noch stark von den Ereignissen aus „Eingeäschert“ angegriffen und gerät erneut aus dem Tritt, als sich ein Professor an der Uni das Leben nimmt und sich keiner das so recht erklären kann. Somit will Hannah überdingt die Hintergründe aufklären.

„Ich muss es einfach verstehen.“
Edward gestikulierte über den leeren Hörsaal. „Es gibt so vieles, was wir nicht verstehen.“
„Was das Universum betrifft. Aber was ist mit hier?“ Hannah klopfte auf ihre Brust. „Sicher müssen wir uns doch verstehen, oder nicht?“ (Auszug S.188)

Die verschiedenen Handlungsstränge werden parallel erzählt und immer wieder mischt sich Craig ein, der die Frauen in der Familie immer noch nicht in Ruhe lassen will. Dieser Strang bedient die vertikale Erzählweise in dieser Serie und dient immer wieder als Bindeglied zwischen den anderen kleinen Dramen, die die Skelfs umgeben. Doug Johnstone wechselt von Kapitel zu Kapitel die Perspektiven zu Dorothy, Jenny und Hannah und nimmt uns mit in ihr Seelenleben. Drei starke Frauen, vom Leben angeknockt, aber nicht gebrochen, sondern eine warme Menschlichkeit aussendend. Johnstone versteht es, seinen Figuren eine enorme Tiefe und Authentizität zu geben, auch den Nebenfiguren, wie etwa Hannahs Partnerin Indy, die sich bei den Skelfs zur Bestatterin ausbilden lässt, der Polizist Thomas, der zu der verwitweten Dorothy eine enge Beziehung aufzubauen scheint, oder Archie, Angestellter mit großem Talent, versehrte Leichen wieder zur Bestattung ansehnlich herzurichten und dabei unter dem Cotard-Syndrom leidend, d.h. dass er nicht an die eigene Existenz glaubt.

Auch Anspielungen auf die moderne Physik kommen hier nicht zu kurz, schließlich ist der Autor von normalem Beruf Atomphysiker. Der Originaltitel „The Big Chill“ verweist dann auch auf eine Theorie zum Ende des Universums. Jetzt steht natürlich die Frage im Raum, ob das hier überhaupt noch ein Krimi ist. Es ist auch ein Krimi, schon allein mit der Story um Craig, die hier in diesem Roman weiter eskaliert. Aber es ist vor allem auch ein starkes Buch über komplexe Familiensituationen, um den Umgang mit dem Tod und über drei starke Frauen. Und das lässt mich auf den nächsten Band mit den Skelfs freuen.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Eingefroren | Erschienen am 01.11.2023 im Polar Verlag
ISBN 978-3-948392-87-1
384 Seiten | 26,- €
Originaltitel: The Big Chill | Übersetzung aus dem Englischen von Jürgen Bürger
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Gunnars Rezensionen zu Doug Johnstones „Eingeäschert“ und „Der Bruch“

William Boyle | Shoot The Moonlight Out

William Boyle | Shoot The Moonlight Out

Sie sehen nicht zurück. Bobby hat keine Angst, dass ihnen jemand folgt, er hat Angst, dass hinter ihnen etwas Schreckliches passiert sein könnte. Es war doch nur Spaß. Nicht erst gemeint. … Auf so jemand hatten sie es nicht abgesehen. Sie ist keins von diesen Arschlöchern. (Auszug Seite 18)

Bobby Love Santovasco und sein Freund Zeke, 14 und 13 Jahre alt, sind dumme Jungs. Aus Langeweile werfen sie 1996 in Bay Ridge, einem Stadtteil im Süden Brooklyns irgendwelche Sachen von einer Brücke auf Autos. Angefangen mit Ketchup, Senf und Wasserballons sind es irgendwann Steine. Als ein Stein durch das offene Fenster Amelia Cornacchia trifft, die in ihrem verlotterten kirschroten Toyota Corolla vom Caesar’s Bay Shopping Center auf den Bay Parkway abfährt, überlebt die Neunzehnjährige den Anschlag nicht.

Fünf Jahre nach der Tat
Die beiden Jungs kommen davon, auch fünf Jahre später ist die Tat immer noch nicht aufgeklärt. Eine Tragödie für Amelias Vater Jack Cornacchia, einem Witwer, der auch seine Frau viel zu früh verloren hat. Verbittert kann er sich nicht damit abfinden, dass seine Tochter so sinnlos sterben musste, während die Täter ungestraft davonkommen. Er lässt sich fürs Geldeintreiben bezahlen oder sorgt als Rächer kleiner Leute aus der Nachbarschaft, denen Schlimmes widerfahren ist, für Gerechtigkeit. Als er fünf Jahre später bei einem Schreibkurs Lily Murphy kennenlernt, erinnert sie ihn an seine Tochter und sein Leben bekommt wieder einen Sinn. Lily ist nach einem College-Abschluss in Englisch nach vier Jahren wieder bei ihrer Mutter eingezogen. In ihrem ehemaligen Kinderzimmer träumt sie davon, Schriftstellerin zu werden. Sie lässt sich treiben, will aber eigentlich, wie alle jungen Menschen weg aus dem schäbigen Brooklyn. Um ein bisschen Geld zu verdienen, gibt sie einmal die Woche im Keller der Kirche einen Schreibkurs für die Gemeinde.

Lily ist die Stiefschwester von Bobby, aus dem auch zwischenzeitlich nichts Rechtes geworden ist. Er arbeitet für den schmierigen Anlageberater Max Berry, der mit einem betrügerischen Schneeballsystem kleine Leuten im Viertel um ihre Ersparnisse bringt und gerüchteweise für die Mafia arbeitet, den ganzen Tag Milch aus kleinen Kartons trinkt und noch bei seinen Eltern wohnt. In seinem heruntergekommenen Büro bunkert er im Tresor eine Tasche von Mafiosi Charlie French mit jeder Menge Geld und Drogen. Ausgerechnet jetzt raubt Bobby den Safe aus, um mit seiner Freundin Francesca aus Brooklyn abzuhauen. Aber da hat er sich mit dem Falschen angelegt, denn Charlie, ein gefährlicher Gangster geht über Leichen, um an sein Geld zu kommen. Als Jack den Auftrag bekommt, Max das Handwerk zu legen, der es vornehmlich auf ältere Menschen aus der Arbeiterklasse und Sozialhilfeempfänger abgesehen hat, trifft er auf Bobby, ohne zu wissen, dass er dem Verantwortlichen am Tod seiner Tochter gegenübersteht.

Manhattan ist weit weg
Auch in seinen fünften Roman erzählt William Boyle, der literarische Chronist Brooklyns, von den kleinen Leuten seiner Heimat. Der Autor ist hier geboren und aufgewachsen, lebt aber mittlerweile in Oxford, Mississippi. Dabei portraitiert er die Bewohner, meistens italienischstämmige Menschen, die der unteren Mittelklasse angehören, mit sehr viel Mitgefühl und Empathie. Es sind Figuren, die große Träume und Sehnsüchte haben, die rauskommen wollen aus der Tristesse, aus dem kleinstädtischen Mief, wo die globale Urbanität noch nicht angekommen ist. Er erzählt von Selbstzerstörung und Selbstjustiz, lässt ihnen aber ihre Würde. Es geht um Menschen, die Schuld auf sich geladen oder einfach falsche Entscheidungen getroffen haben. Und es geht um Vergebung. Gekonnt verknüpft er die einzelnen Schicksale, jedoch war es mir an einigen Stellen ein wenig zu konstruiert.

Die Grenzen des Genres Kriminalroman werden deutlich überschritten. Seine Figuren, die Alltagssorgen und deren Gefangenheit in ihrem Milieu sind ihm wichtiger als eine spannende, actionreiche Handlung. Obwohl auch hier gemordet, geprügelt, geschossen und geliebt wird und es eine spannende Dramaturgie bis zum bluttriefendem, gewalttätigem Finale gibt, ist „Shoot the Moonlight out“ mehr ein überzeugendes amerikanisches Sittengemälde. Wenn der Autor mit seinen Charakteren durch die Straßen Südbrooklyns streift, Bars und Kneipen, Kirchen und Häusern besucht, schwebt über allem eine Melancholie der Hoffnungslosigkeit, jedoch mit trockenem Humor versehen.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Shoot The Moonlight Out | Erschienen am 17. Juli 2023 im Polar Verlag
ISBN 978-3-94839-277-2
380 Seiten | 26,- Euro
Originaltitel: Shoot The Moonlight Out | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Andrea Stumpf
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Rezension zu „Eine wahre Freundin“ von William Boyle