Rebecca Makkai | Ich hätte da ein paar Fragen an Sie

Rebecca Makkai | Ich hätte da ein paar Fragen an Sie

Und dann die Art, wie Thalia starb – wie ihr Körper misshandelt worden war – und ins Wasser geworfen – jedes Mädchen bloß ein Körper, den man benutzen und entsorgen konnte – einen Körper zu haben schon genug, um von ihnen begrapscht zu werden – einen Körper zu haben schon genug, um von ihnen vernichtet zu werden – (Auszug Pos. 5064)

Vor über zwanzig Jahren wurde in einem Internat in New Hampshire die Schülerin Thalia Keith ermordet, der mutmaßliche Täter sitzt seitdem in Haft. Bodie Kane, die die Tragödie hautnah miterlebte, ist mittlerweile eine erfolgreiche Medienwissenschaftlerin. Zusammen mit einem Co-Moderator betreibt sie einen bekannten Podcast, in dem sie sich mit Frauen im Filmgeschäft beschäftigt, die einem Verbrechen zum Opfer gefallen sind. Als sie eingeladen wird, an ihrem ehemaligen College als Gastdozentin zwei Wochen lang einen Kurs übers Podcasten zu geben, tut sie das mit gemischten Gefühlen. Anfang der 90er Jahre war sie 4 Jahre in dem elitären Internat Granby. Diese Zeit war von schrecklichen Ereignissen überschattet. Da sie nicht zur Upperclass der US-Gesellschaft oder zu den wohlhabenden Auslandsstudenten gehörte, hatte sie es als Außenseiterin mit DocMartens und schwarz umrandeten Augen nicht leicht und wurde von einigen Jungs gemoppt. Trotzdem war das tief in den Wäldern gelegene Internat auch eine Heimat in Zeiten schwerer privater Krisen. Erinnerungen kommen hoch an den Mord an ihrer Zimmergenossin Thalia Keith, als eine ihrer Schülerinnen sich genau diesen Mord als Thema ihres Podcasts aussucht.

Unschuldig im Gefängnis?
Trotz dünner Beweislage wurde damals der schwarze Sporttrainer Omar Evans festgenommen. Sein Geständnis, scheinbar erzwungen, nahm er nach einigen Tagen zurück, doch da war es schon zu spät. Er wurde verurteilt und sitzt seit 20 Jahren hinter Gittern. Die Ereignisse werden auch durch ein Video wieder aufgewühlt, das Thalia Keith während einer Schulaufführung des Musicals Camelot zeigt. Es ist das letzte Mal, dass die beliebte Schönheit lebend zu sehen sein wird, denn kurz darauf wird sie ermordet im Schwimmbad aufgefunden. Bodie gerät zunehmend in einen Sog, der sie über die vergangenen Ereignisse nachdenken lässt. Sie vermutet, dass bei der Aufklärung nicht alle Details geklärt wurden. Sie hinterfragt auch ihre eigene Rolle bei den Befragungen im Umfeld des Opfers nach der Tat, denn eventuell hat sie durch ihre Aussage die Ermittlungen in eine falsche Richtung gelenkt. Zweifel werden geweckt, ob der richtige Täter verurteilt wurde und ihre Schüler*innen wollen das Verbrechen in dem Podcast neu aufrollen und beweisen, dass der Inhaftierte unschuldig einsitzt. Bodie ermutigt ihre Schüler*innen dabei und wird wieder mit ihrer Schulzeit konfrontiert, die sie als scharfe Beobachterin verbracht hat.

True-Crime-Podcasts
Die Geschichte wird allein aus Bodies Blickwinkel erzählt. Wir erfahren nur, was Bodie weiß oder uns wissen lässt. Das macht die Geschichte zu einer sehr persönlichen Angelegenheit, denn sie rechnet erbarmungslos mit ihrer Zeit im College ab. In unregelmäßigen Abständen spricht sie einen ihrer ehemaligen Lehrer in direkter Rede an. Dieser Dennis Bloch war ein bei allen beliebter Musiklehrer, doch in der Rückschau bekommt sein Verhalten für die erwachsene Bodie eine andere Bedeutung und sie findet sein Verhalten im Nachhinein teilweise verdächtig. Bloch ist der Angesprochene im Titel, den Bodie immer wieder in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit rückt. Da ich das oft sehr spät erkannte, wurde ich immer wieder durch diese Anrede aus dem Lesefluss gerissen. Ein interessantes Stilmittel, das für mich leider nicht ganz funktionierte. Auch wenn sie spekulative Szenarien durchspielt, die jeden möglichen Verdächtigen, inklusive ihrer selbst, als Mörder dastehen lassen, bedeutete das für mich hohe Konzentration. Alte Fotos, zeitliche Abläufe und Einträge in Planers werden betrachtet und neu bewertet und wechseln sich ab mit Szenen aus dem Gefängnis und Einblicke, wie Omars Familie seinen Verlust erlebt und für seine Rehabilitation kämpft.

Ich habe eine Meinung zu ihrem Tod, eine Meinung, die mir nicht zusteht. Gleichzeitig ist mir etwas mulmig dabei zumute, dass die Frauen zum Gemeingut geworden sind, der kollektiven Fantasie ausgeliefert. Dass die Frauen, mit deren Tod ich mich beschäftige, zumeist schön und reich waren. Dass die meisten jung waren, wie uns Opferlämmer am liebsten sind. Dass ich mit dieser Fixierung nicht alleine bin. (Auszug Pos. 370)

Von der Autorin Rebecca Makkai hatte ich vor einiger Zeit „Die Optimisten“ gelesen. Der für den Pulitzer Preis und den National Book Award nominierte Roman war für mich ein Lebenshighlight. Umso gespannter war ich auf den vorliegenden Roman. „Ich hätte da ein paar Fragen an Sie“ befasst sich nur vordergründig mit einem Cold Case in einem verschneiten amerikanischen Campussetting. Vielmehr thematisiert die Autorin aktuelle sozialkritische Themen, die von sexueller Belästigung, Misogynie über Rassismus bis hin zum längst veralteten amerikanischen Klassensystem reichen. Dabei kritisiert sie auch die Ausbeutung echter Menschen zur reißerischen Unterhaltung und dass Opfer zu öffentlichem Eigentum werden.

Ich habe Makkais literarischen Schreibstil bis zum überraschenden Ende sehr genossen, auch wenn die vielen Themen den Spannungsroman grade im Mittelteil etwas überfrachten. Kein Werk, das man schnell weg lesen kann.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Ich hätte da ein paar Fragen an Sie | Erschienen am 28. September 2023 im Eisele Verlag
ISBN 978-3-9616-1173-7
560 Seiten | 28.- Euro
Originaltitel: I Have Some Questions For You | Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Bettina Arbabanell
Bibliografische Angaben & Leseprobe

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