Kategorie: Science Fiction

Tom Hillenbrand | Thanatopia

Tom Hillenbrand | Thanatopia

Im Dezember 2095 taucht in der Donau eine weibliche Wasserleiche auf. Nichts Ungewöhnliches für den erfahrenen und mit seinen fast 75 Jahren dienstältesten Kommissar Wenzel Landauer von der Wiener Polizei. Doch in der Pathologie dann die Überraschung in Form einer zweiten Frauenleiche, die nicht nur identisch aussieht, sondern auch dieselbe DNA aufweist. Beide Tote waren sogenannte Quants, bei denen das organische Gehirn durch einen Computer ersetzt wurde. Dadurch ist es möglich, seinen Verstand in Gefäße hochzuladen und für einige Wochen ein anderes Leben zu führen. Doch Gefäße müssten eigentlich gekennzeichnet sein, was hier nicht der Fall ist.

Landauer kommt mit seiner Assistentin Tish Turquois einer Gruppe von Deathern auf die Spur, die sich illegal in Avatarkörper transferieren, um den Tod zu erforschen. Ich muss dabei immer an „Flatliners“ denken, den Film aus den 1990ern, in dem fünf befreundete Medizinstudenten herausfinden wollen, wie sich ein Hirntod anfühlt. Mit modernster Technik lassen sie sich in den klinischen Tod versetzen und nach einiger Zeit wieder zurückholen.

In einem weiteren Handlungsstrang versucht der internationale Ermittler Carpentras Skyes derweil, den wiederaufgetauchten Galahad Singh zu verhören, der als erster und einziger die sogenannte Knossos-Anomalie betreten hat. Und die indische Astrophysikerin Sahana Chandra Kapoor fliegt nach London, um an einem mysteriösen Kongress teilzunehmen. Anschließend wird sie in einen Autounfall mit einem sogenannten Crasher verwickelt.

Wie der Titel dieses Bandes schon verrät, liegt der Fokus auf den Thanatonauten. Diese erforschen illegal die Grenze zwischen Leben und Tod. Stasja Tschernow ist so eine Thanatonautin, die mehr über ein mögliches Leben nach dem Tod erfahren möchte. Dabei durchläuft sie immer wieder ein Procedere, um sich selbst zu töten. Für das Verfahren nutzt sie Klonkörper, aus denen sie ihr Bewusstsein anschließend immer wieder neu herunterlädt, um mögliche Erkenntnisse für weitere Trips zu gewinnen.

So oft schon war sie hier gewesen, an der Schwelle zwischen Leben und Tod, im Land der Kimmerer, in den Nebligen Gestaden. Was der seiner weltlichen Sinne beraubte, sterbende Verstand dort erblickte, war eine Halluzination, behaupteten einige. Andere verglichen es mit einem Traum. Beides waren metaphorische Krücken und keine besonders guten. (Auszug E-Book Pos. 1363 von 5495)

Das Worldbuilding wurde bereits in den vorherigen Bänden „Hologrammatica“ und „Qube“ vorgestellt und wird nicht weiter erläutert. Immer noch werden Landstriche mit Hologrammen verschönert, die Grenzen zwischen Leben und Tod verschwimmen, gesteuert durch KI-basierte Programme. Zugleich ist die Menschheit durch ein Virus um die Hälfte reduziert, der Klimawandel konnte nicht aufgehalten werden und der überlebende Rest ächzt unter Hitze und Dürren. Viele Zonen sind unbewohnbar geworden, da die Temperaturen regelmäßig über 50 Grad klettern. Die Klima-KI „Aether“ hat sich selbstständig gemacht und das hat wenige Jahre zuvor zum digitalen Zusammenbruch der Gesellschaft geführt.

Im Prolog erleben wir, wie der zwölfjährige Percival Singh (der Bruder von Galahad Singh, dem Protagonisten aus Band 1) mit seinem Vater eine kleine griechische Insel in der Nähe des Lichtdoms besucht. Geheimnisvoll geht es dort vor und Percy beobachtet seinen Vater und versteht nicht recht, was der dort treibt.

Sein Vater, das hat er inzwischen verstanden, unterhält sich per Holocall mit irgendjemand – auf Chittagonisch, auf einer einsamen Insel, nachdem er zuvor das Vaterunser gebetet hat. Und irgendwie geht es um Weihnachtsbäume. Selbst für Dad ist das arg verrückt. (Auszug E-Book Position 287 von 5495)

Der komplexe Thriller wird aus vier bzw. fünf verschiedenen Perspektiven erzählt, die sich zunächst kaum überschneiden. Das macht es für den Leser nicht leicht, im Lesefluss zu bleiben und die Lektüre gestaltet sich recht anspruchsvoll. Ohne die Kenntnisse der beiden vorherigen Bände würde ich es nicht empfehlen. Durch die vielen Sprünge und Personen erreichen die Figuren nicht genug Tiefe. Man wird in eine Szene hineingeschmissen und ist gleich wieder raus und fühlt sich als Leser außen vor.

Auf der Habenseite stehen ein vielversprechender Prolog, ein Wiedersehen mit Galahad Singh und das, was den Autor für mich auszeichnet. Die Fähigkeit, einen brillant konstruierten Science-Fiction-Thriller mit immensen Einfallsreichtum derart rasant zu erzählen und dann noch lässig und wie selbstverständlich die großen philosophischen Themen der Menschheit zu thematisieren. Und ich genieße immer wieder die filmreifen Action-Szenen und den trockenen Humor in den Dialogen.

Es tauchen viele Fragen auf, die Tom Hillenbrand allerdings unbeantwortet lässt. So bleibt es dem Leser überlassen, welcher Ethik er folgt. Und auch das Ende, in dem die verschiedenen Handlungsstränge miteinander verwoben werden und auf ein spannendes Finale zulaufen, bietet noch viel Potential für weitere Geschichten aus dem Hologrammatica-Kosmos.

 

Fotos und Rezension von Andy Ruhr.

Thanatopia | Erschienen am 13. März 2025 bei Kiepenheuer & Witsch
ISBN 978-3-462-00872-2
384 Seiten | 18.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Andys Rezensionen zu Hillenbrands Romanen „Hologrammatica“ und „Qube

Tade Thompson | Fern vom Licht des Himmels

Tade Thompson | Fern vom Licht des Himmels

Das Raumschiff „Ragtime“ soll knapp 1000 Menschen zur Kolonie auf dem Planeten Bloodroot bringen. Michelle „Shell“ Campion die frisch ausgebildete erste Maat auf dem Schiff und für die Passagiere verantwortlich. Doch eigentlich übernimmt eine KI das Schiff vollständig auf der knapp zehnjährigen Reise durchs All. Somit werden alle Passagiere, auch Shell, in einen künstlichen Schlaf versetzt. Als Shell schließlich im Orbit von Bloodroot wach wird und alles kontrolliert, stellt sie entsetzt fest, dass 31 Passagierkapseln leer sind. Sie findet schließlich einen großen Haufen zerstückelter Leichen. Auch die KI des Schiffs verhält sich merkwürdig, führt nicht alle Befehle aus. Auf Shells Notruf hin begibt sich der Ermittler Rasheed Fin mit seinem künstlichen Ermittler Salvo von Bloodroot aus zur „Ragtime“.

Fin ermittelt offen, verdächtigt auch Shell. Oder ist noch jemand an Bord? Während der Ermittlungen geschehen weitere seltsame Dinge, sie werden sabotiert, von Bots angegriffen. Von der Raumstation „Lagos“ gelangen schließlich noch Shells Patenonkel Larry, ein erfahrener Raumfahrer, und seine Tochter Joké, halb Mensch, halb Alien, zur „Ragtime“. Die Unfälle und Attacken an Bord häufen sich, die „Ragtime“ wird zunehmend instabil. Irgendjemand will die Aufklärung der Ereignisse um jeden Preis verhindern. Bald kämpfen die fünf ums nackte Überleben.

Fin fürchtet, dass er im Tumult des Überlebens etwas übersehen wird. Noch dazu sind sie im All. Am Abgrund. Möglich, dass er tatsächlich sterben wird. Der üble Scheiß, dass weiß Fin auf einer instinktiven, molekularen Ebene, kommt auf ihn zu wie ein Drecksasteroid oder ein Herzinfarkt oder so. Auf diese Art wird er sterben. Im All. Er wird inmitten von Fremden und Robotern ersticken. (Auszug S.112)

Zu Beginn des Jahres hatte ich bereits mit „Athos 2643“ von Nils Westerboer einen spannenden Science Fiction-Roman gelesen. Nun habe mit Tade Thompson einen äußerst erfolgreichen Autor des Genres ausprobiert. Thompson ist in London geboren, in Nigeria aufgewachsen, Arzt und Psychiater, und hat schon mehrere renommierte Science Fiction-Preise gewonnen, vor allem für seine „Wormwood Trilogy“. Diese Romanreihe ist allerdings auf der Erde in der Zukunft angesiedelt, mit „Fern vom Licht des Himmels“ begibt er sich in fiktive Weiten des Weltraums und hat dabei einen interessanten Genre-Mix aus klassischer Science Fiction, Thriller, Afrofuturismus und Krimi geschaffen. In Sachen Krimi wagt sich Thompson an die hohe Kunst des Locked-Room Mystery. Ausgehend von der vermeintlich ersten und berühmtesten dieser Geschichten, „Der Doppelmord in der Rue Morgue“ von Edgar Allen Poe, haben sich viele AutorInnen dem Mysterium eines Mordes im verschlossenen Raum gewidmet. Thompson übernimmt diesen Ansatz nun in den Weltraum, in ein jahrelang reisendes Raumschiff ohne Zugang von außen.

Der Autor bleibt dabei nicht nur auf der „Ragtime“, sondern wechselt ab und an den Schauplatz nach Bloodroot und vor allem nach Lagos, um die politischen Hintergründe um das Drama aufzuzeigen. Daneben beleuchtet er vor allem die beiden Protagonisten Shell und Fin intensiver. Dennoch bleibt einiges gewollt mysteriös, vor allem das Verhältnis zwischen Menschen und Aliens sowie künstlichen Personen oder Hybriden. Vermutlich hat Tade Thompson seine Aufgaben gut gemacht und zahlreiche Referenzen auch des Science Fiction-Genres eingebaut, da bin ich allerdings zu wenig bewandert, um das alles zu identifizieren.

Der Plot ist über weite Strecken abwechslungsreich und spannend, allerdings muss ich gestehen, dass für mich ab der Auflösung ein kleiner Bruch drin war. Die Geschichte kann nur noch kurz die Spannung halten, wechselt auch in die Perspektive des Täters und kann die Intensität nicht mehr halten. Auch die Auflösung selbst war für mich nicht der große Wurf, geradezu irdisch und für den Weltraum etwas banal, wie es mir schien. In der Hinsicht hatte das philosophisch geprägte „Athos 2643“ mir mehr zu bieten. Interessant ist die Konstellation, dass die Transitstation Lagos überwiegend von nigerianischen Kolonisten bewohnt wird. So bleibt es aber ein weitgehend gelungener Weltraumkrimi mit verschiedenen interessanten, auch gesellschaftskritischen Versatzstücken, bei dem mich der Plot aber zum Schluss nicht vollständig überzeugt hat.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Fern vom Licht des Himmels | Erschienen am 27.10.2022 im Golkonda Verlag
ISBN 978-3-96509-059-0
381 Seiten | 20,- €
Original: Far from the light of heaven | Übersetzung aus dem Englischen von Jakob Schmidt
Bibliografische Angaben & Leseprobe