Kategorie: Spannungsroman

Rebecca F. Kuang | Yellowface

Rebecca F. Kuang | Yellowface

In der Nacht, in der ich Athena Liu sterben sehe, feiern wir ihren Vertrag mit Netflix. (Auszug Anfang)

Die beiden, die hier feiern, sind zwei junge Autorinnen, June Hayward und Athena Liu, die sich noch aus Studientagen in Yale kennen. Eng befreundet sind sie nicht, sie verbindet eine lockere Bekanntschaft. Im Gegensatz zu June ist Athena sehr erfolgreich. Die schöne Sino-Amerikanerin ist eine Bestseller-Autorin und der aktuelle Shooting-Star der Verlagswelt. Junes Debütroman floppte, sie ist neidisch auf Athena, die alles hat, was sie auch gerne hätte. Missgünstig reduziert sie Athenas Erfolg auf deren gutes Aussehen und vermutet, dass ihre chinesische Herkunft für den Erfolg nicht irrelevant sei.

In Athenas Wohnung feiern sie den neuesten Erfolg, als diese tragisch verunfallt und stirbt. Kurz vorher hatte sie June noch ihr grade zu Ende gebrachtes Romanmanuskript gezeigt, wie immer typisch für Athena, auf einer klassischen Schreibmaschine geschrieben. Ohne groß nachzudenken, steckt June das noch nicht veröffentlichte Manuskript ein. Es ist die Geschichte chinesischer Arbeiter, die von der britischen und französischen Armee im Ersten Weltkrieg an die alliierte Front geschickt wurden. Obwohl erst nur eine Rohfassung, erkennt June sofort, welches Meisterwerk sie in den Händen hält. Viel zu gut um nicht veröffentlicht zu werden, und es zu überarbeiten fällt June leichter als eine ganz neue Geschichte zu schreiben. June überarbeitet den Text und gibt ihn schließlich als ihren aus. Über ihren Agenten verkauft sie „Die letzte Front“ für einen schwindelerregend hohen Vorschuss an einen kleinen aber renommierten Verlag namens Eden. Einige Änderungen werden vorgenommen, um es für den großen Markt lesbarer zu machen. June ist nicht zimperlich und streicht chinesische Namen oder kulturelle Anspielungen und baut sogar eine kleine Liebesgeschichte ein. Auch als der Verlag ihr vorschlägt, unter dem Namen Juniper Song zu veröffentlichen, da dieser Name ambivalenter wahrgenommen wird als Hayward, ist sie nicht zögerlich.

Und schon entsteht, wie aus dem Nichts, meine öffentliche Persona. Mach’s gut, June Hayward, unbekannte Autorin von Jenseits der Bäume. Hallo Juniper Song, Autorin des größten Literaturhits der Saison – geistreich, enigmatisch, die beste Freundin der verstorbenen Athena Liu. (Auszug Seite 88, 89)

„Die letzte Front“ wird ein Bestseller und zu Junes großem Durchbruch. Alle reißen sich um sie und den Roman. June, die immer nach literarischer Anerkennung strebte, kann endlich den Ruhm genießen. Sie ist der neue Stern am Autorenhimmel, ist wochenlang in den Bestsellerlisten und verteilt Autogramme auf Lesungen.

Bis dann plötzlich die Stimmung kippt. Es werden erste Vorwürfe laut und es mehren sich Kritiker in den sozialen Medien, die ihr vorwerfen, als weiße Frau mit der Geschichte vom Leid der chinesischen Arbeiter zu profitieren. Dann tauchen erste Verdächtigungen auf, die ihr Plagiat vorwerfen. June verfolgt beinahe obsessiv die Diskussion, die online stattfindet. Es ist eine Zusammenballung von Tweets, Memes, Shitstorms, YouTube Videos, Hassnachrichten und sogar Todesdrohungen. Nach dem Bestseller sind die Erwartungen an ihr nächstes Werk groß. Dadurch entsteht neuer Druck, denn ihr fällt gar nichts ein. June gerät immer tiefer in die Abwärtsspirale und die Erzählung wird immer temporeicher. Irgendwann fühlt sie sich sogar von Athinas Lius Geist verfolgt bis hin zu Wahnvorstellungen.

Zum ersten Mal seit ich das Manuskript abgegeben habe, überkommt mich ein tiefes Schamgefühl. Das ist nicht meine Geschichte, mein Erbe. Das ist nicht meine Community. Ich bin eine Außenseiterin, die sich ihre Liebe erschwindelt. Athena sollte hier sitzen, mit diesen Leuten lachen, Bücher signieren und sich die Geschichte ihrer Ältesten anhören. (Auszug Seite 146)

Ist es den Hype wert?
Yellowface ist eine klug beobachtete Satire auf den Literaturbetrieb aber auch ein rasanter, dynamischer sowie kluger Verlagswelt-Thriller, mit einigen Momenten witziger Überzeichnung, den ich kaum aus der Hand legen konnte. Kuang schreibt in klaren, schnörkellosen Sätzen, pointiert, scharfzüngig und in umgangssprachlichem Ton. Die aktuellen Themen und Debatten, Alltagsrassismus in der elitären Verlagswelt, Aneignung fremder Werke werden noch um die ethische Komponente erweitert und es geht auch um kulturelle Aneignung im Buchmarkt. Dabei fand ich die Einblicke in die Buchindustrie hochinteressant, zum Beispiel den Einsatz von Sensitivity Readern, um problematische Darstellungen anderer Kulturen zu vermeiden. Oder die Mechanismen und für mich besonders spannend die Rezensionskultur in den Sozialen Medien. Die Ich-Perspektive funktioniert dabei richtig gut, denn anhand von June fühlen wir mit, wie sich Misserfolg aber auch Einsamkeit in dieser hart umkämpften Branche anfühlt. Ganz klassisch ist June dabei eine unzuverlässige Erzählerin, die sich und uns was vormacht. Sie bereichert sich an einer fremden Geschichte und trotz einiger Gewissensbisse wird sie nicht müde, die Realität mit selbstgerechten Rechtfertigungen zu verdrehen oder eiskalt Athenas trauernde Mutter zu belügen. Wenn June nach Chinatown fährt mit Pfefferspray in der Tasche wird klar, dass die vermeintlich liberale Mittelschicht vielleicht doch nicht so reflektiert ist, wie sie denkt. Aber auch die glorifizierte Athena Liu entpuppt sich als doch nicht so heilig. Auch sie scheute sich nicht vor rücksichtslosen Methoden bei der Beschaffung von schriftstellerischem Material zurück. Im Mittelteil wiederholen sich einige Motive, bevor es zum Schluss wieder temporeicher mit ganz traditionellen Spannungselementen wird.

Autorin
Rebecca F. Kuang ist der aktuelle Shooting Star der amerikanischen Buchlandschaft. In ihrem aktuellen Roman „Yellowface“ verlässt die erfolgreiche Fantasy-Autorin ihren bisherigen Bereich und kombiniert unterschiedliche Genres. Ein kluger Schachzug, dass die Amerikanerin mit chinesischen Wurzeln, die Geschichte aus einer weißen Perspektive erzählen lässt.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Yellowface| Erschienen am 29.02.2024 im Eichborn Verlag
ISBN 978-3-84790-162-4
384 Seiten | 24,- €
Originaltitel: Yellowface | Übersetzung aus dem Englischen von Jasmin Humburg
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Laurent Binet | Eroberung

Laurent Binet | Eroberung

Nein, Alternativweltromane gibt es nicht nur mit Nazis. Auch wenn das manchmal so aussieht, denn das NS-Regime bietet natürlich allerhand faszinierende Denkspiele, wie wohl die Geschichte des 20.Jahrhunderts anders verlaufen wäre. Aber es gibt auch andere historische Romane mit postfaktischem Plotansatz. Einen besonders interessanten Ansatz hat der französische Autor Laurent Binet gewählt. Binet ist Historiker und Dozent und wurde international erstmals durch seinen Roman „HHhH“ bekannt, für den er unter anderem mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde. Thema darin: Das Attentat auf Reinhard Heydrich 1942 in Prag. Bereits sein zweiter in Deutsche übersetzte Roman, „Die siebte Sprachfunktion“ spielt mit alternativen historischen Abläufen. In seinem zuletzt veröffentlichten Roman „Eroberung“ hat er erneut eine Alternativweltgeschichte verfasst und geht dazu einige Jahrhunderte zurück.

Binet beginnt den Roman mit einer Reise der Wikingerin Freydis, einer Tochter von Erik dem Roten über die bekannten Anlegeplätze der Wikinger in Kanada hinaus nach Süden. Die Wikinger vermischen sich mit den einheimischen Stämmen, bringen das Eisenschmieden nach Amerika und die Ureinwohner bilden irgendwann Antikörper gegen die Viren, die die Wikinger aus Europa mitbringen. Jahrhunderte später wird Kolumbus nach Amerika segeln und nicht zurückkehren, Amerika bleibt für Europa ein so gut wie dunkler Fleck auf den Landkarten. Schließlich kommt es um das Jahr 1530 zum einem Machtkampf zwischen zwei Brüdern im Inkareich. Der unterlegene Bruder Atahualpa flüchtet mit seinem letzten verbliebenem Hofstaat zunächst nach Kuba und von dort macht er sich 1531 auf gen Europa.

Was dann passiert, dazu möchte ich an dieser Stelle gar nicht mehr groß spoilern. Allerdings stoßen die Inkas in eine sehr wilde Zeit, Kaiser Karl V. des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation und König von Spanien bekriegt sich mit dem französischen König Franz I., die Reformation Luthers sorgt für unklare Machtverhältnisse und Glaubenskriege, die heilige Inquisition verfolgt gnadenlos Un- und Andersgläubige und die Türken unter Süleyman I. bedrohen das Habsburgerreich. In dieses fragile, komplexe System stoßen nur die Inkas mit wenigen Mann, nicht mit allen europäischen Erfindungen vertraut, aber clever, wissbegierig, in macht- und militärtaktischen Dingen den Europäern überlegen und mit einer Menge Gold und Silber in der Heimat in der Hinterhand. Wie die Inkas in diese politisch komplexe Lage hineinstoßen und den europäischen Kontinent quasi „erobern“, davon erzählt Binet mit viel Lust und Spaß an einer historischen Alternativerzählung.

Doch die Geschichte lehrt uns, dass wenige Ereignisse es der Mühe wert erachten, sich rechtzeitig anzukündigen, darunter manche, die sich jeglicher Vorhersage entziehen, und dass letztendlich die allermeisten sich damit begnügen, einfach einzutreten. (Auszug S.104)

Dabei gliedert Binet den Roman in vier Teile. Drei kürzere, nämlich zunächst die Saga von Freydis Eriksdottir, danach Fragmente aus dem Tagebuch von Christoph Kolumbus und zuletzt Cervantes Abenteuer. Als dritten und mit Abstand größten Teil fungieren die Atahualpa-Chroniken. Dabei ist das wörtlich zu nehmen, ein allwissender Erzählern berichtet als Chronist von Atahualpa und seinen als Quiteños bezeichneten Inka. Der Stil ist demnach auch eher nüchtern, chronistisch, weitgehend ohne Dialog. Dadurch verzichtet Binet auf eine allzu große Tiefe bei den Hauptfiguren, diese bleiben nur wenig mehr als oberflächlich skizziert. Es gelingt andererseits aber auch, diese wahnwitzige Geschichte auf unter 400 Seiten zu erzählen.

Und dies war für mich als Leser zumeist sehr unterhaltsam und vermutlich hatte auch der Autor großen Spaß. Ein bißchen Hintergrundwissen sollte vorhanden sein, aber dann kann man den Einfallsreichtum des Autors genießen, der den Inkaherrscher sich über die Religion des Angenagelten Gottes wundern lässt, ihm sehr schnell die Schriften eines gewissen Macchiavelli zukommen lässt, ihn mit einigen interessanten Persönlichkeiten der Zeit zusammenbringt (wie etwa einem ziemlich abstoßend antisemitischen Luther) oder einen Briefwechsel zwischen Thomas Morus und Erasmus von Rotterdam fingiert. Dabei betreibt er ein wenig prä-koloniale Studien und zeigt auf, wie sehr die Eroberer aus Südamerika (bei aller Härte und allem Machtanspruch) den Europäern in der Organisation und Schaffung der Prosperität eines Staatswesens überlegen waren. Laurent Binet gelingt trotz ein paar Schwächen ein wirklich unterhaltsames Werk, das aus dem Subgenre auf jeden Fall heraussticht.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Eroberung | Die Taschenbuchausgabe erschien 2022 im Rowohlt Verlag
ISBN 978-3-499-00346-2
384 Seiten | 14,- €
Originaltitel: Civilations | Übersetzung aus dem Französischen von Kristian Wachinger
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Diese Rezension erscheint im Rahmen des Genrespezials Alternativweltgeschichten.

Carl Nixon | Kerbholz

Carl Nixon | Kerbholz

Am Anfang steht ein Verkehrsunfall. „Das Auto mit den drei schlafenden Kindern verließ die Erde“, so der beeindruckende erste Satz. Am 4.April 1978 kommt der Wagen der Chamberlains in einer einsamen Gegend auf Neuseelands Südinsel vom Weg ab und stürzt in eine Schlucht. Die Familie hatte erst vor Kurzem England verlassen, der Vater soll in zwei Wochen seinen neuen Job in Wellington antreten. Bis dahin wollen die Chamberlains die neue Heimat erkunden. Bis sie in einer regnerischen Nacht vom Weg abkommen und in eine Schlucht stürzen. Vater, Mutter und das jüngste Kind Emma, noch ein Baby kommen beim Absturz, den Nixon in seiner ganzen Ausführlichkeit beschreibt, ums Leben. Drei Kinder überleben: Der 14jährige Maurice, die 12jährige Katherine und der siebenjährige Tommy. Doch der Unfall bleibt unbemerkt und bis zum Dienstantritt des Vaters wird sie auch von niemandem vermisst.

32 Jahre später erhält Suzanne Taylor, die Tante der Kinder, einen Anruf aus der neuseeländischen Vertretung in London. Vor kurzem wurden an der Westküste Neuseelands die menschlichen Überreste ihres Neffen Maurice gefunden. Für Suzanne folgt die größte Überraschung aus dem Obduktionsbericht. Demnach war Maurice zum Zeitpunkt seines Todes 17 oder 18 Jahre alt.

Beim Sprung zurück ins Jahr 1978 erfährt der Leser das Schicksal der Kinder, die teilweise schwer verletzt, nach wenigen Tagen vom Jäger Peters gefunden werden. Er nimmt die Kinder mit in ein einsames Tal, wo er und eine weitere Einsiedlerin, Martha, leben. Die beiden versorgen die Kinder und Martha heilt den schwer verletzten Maurice. Doch als die Zeit vergeht, müssen die Kinder feststellen, dass Martha und Peters sie nicht gehen lassen wollen. Martha präsentiert Maurice und Katherine ein Kerbholz, auf dem ihre Schulden eingekerbt sind, die sie begleichen müssen, bevor sie gehen dürften.

Auf mehreren zeitlichen Ebenen begleitet der Autor nun in der Folgezeit die weitere Entwicklung der Kinder im Tal und Suzanne im Jahr 2010 sowie ihre mehrfachen Reisen 1978 und in den Folgejahren nach Neuseeland, um irgendeine Spur der Familie ihrer Schwester zu finden. Es entwickelt sich ein Drama, das eher effizient als ausschmückend erzählt wird, allerdings ein wenig mystisch-schaurig. Dieses Tal mitten im wilden, bergigen Waldland wird für die Kinder zu einem abgeschlossenen Raum. Das Verbot, diesen Raum zu verlassen, wird von der beflissenen, empathischen Katherine befolgt, die sich zunehmend mit der Situation arrangiert, während der wütende, zornige Maurice alles daran setzt, sein Gefängnis zu verlassen. Dabei verhalten sich Peters und Martha hart und unerbittlich, wenngleich sie die Kinder nicht vernachlässigen.

Doch eines Tages würde er den König fangen. Er würde lachen, während er ihn tötete, und er würde seinen Kopf herbringen und zu den anderen legen. Danach würde er keinen Grund mehr haben, weiterhin Rache zu nehmen. Von diesem Tag an würde er sich besser fühlen, davon war er überzeugt. (Auszug E-Book Pos. 2472)

Die Geschichte hat viele interessante Facetten, die Carl Nixon manchmal nur anreißt und nie überdehnt. Im Vordergrund steht sicherlich das Wesen von Familie und menschlichen Beziehungen. Die Frage, was man einem anderen schuldet oder nicht. Ebenso Überlebenswille, Widerstand, Anpassung und Transformation in Extremsituationen. Aber auch Dinge wie Identität und (Post-)Kolonialismus werden ebenso angerissen. Daneben gibt es wirklich großartige Beschreibungen der neuseeländischen, von menschlichem Einfluss noch wenig berührten Landschaft.

Im Vorwort weist der Autor selbst darauf hin, dass er die Story der drei Kinder, die plötzlich auf sich allein gestellt, unter widrigen Bedingungen zurechtkommen müssen, als „Spiegelbild der Geschichte Neuseelands“ begreift. „Kerbholz“ überzeugt als kleiner, feiner Roman, der auf nicht allzu vielen Seiten eine dramatische, berührende und dabei psychologisch-ausgefeilte Geschichte erzählt.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Kerbholz | Erschienen am 08.05.2023 im Culturbooks Verlag
ISBN 978-3-95988-156-2
304 Seiten | 24,- €
Originaltitel: The Tally Stick | Übersetzung aus dem Englischen von Jan Karsten
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Rezension zu „Rocking Horse Road“ von Carl Nixon

Stephen King | Fairy Tale

Stephen King | Fairy Tale

Charlie Reade ist ein ganz normaler 17-jähriger Teenager, eine Sportskanone mit guten Noten in der High-School. Er lebt in der Nähe Chicagos allein mit seinem Vater, seit seine Mutter vor Jahren bei einem Autounfall auf der „verfluchten Brücke“, der Sycamore Street Bridge ums Leben kam. George Reade, ein Versicherungsangestellter hatte den Verlust nie verwunden und seinen Kummer in Alkohol ertränkt. Schon früh musste Charlie für sich und seinen Vater Verantwortung übernehmen und sich um das alltägliche Leben der beiden kümmern. Inzwischen hat George sich wieder gefangen, die Treffen bei den Anonymen Alkoholikern geben ihm Sicherheit und Charlie ist froh um dieses Wunder, für das er gebetet und versprochen hat, Gutes zu tun.

Diese Gelegenheit bietet sich, als er eines Tages klägliches Hundejaulen vom Grundstück am Ende der Straße vernimmt. Ausgerechnet vom als „Psychohaus“ verschriene Anwesen am Sycamore Hill von Howard Bowditch, einem grummeligen Eigenbrötler. Trotz seiner Angst vor der „Bestie“, einer deutschen Schäferhündin namens Radar eilt er zur Hilfe. Er rettet dem schwer verletzten Mr. Bowditch nicht nur das Leben, sondern kümmert sich auch, ganz der hilfsbereite Kerl, der er nun mal ist, während der langwierigen Rekonvaleszenz um den alten Mann und die betagte Hündin. Schnell werden Charlie und Radar unzertrennlich und auch mit dem alten Misanthropen freundet er sich langsam an. Dieser vertraut dem Jungen schließlich, lässt ihn verschiedene Arbeiten am Haus verrichten und verrät ihm sogar einige Geheimnisse. Nur was es mit dem alten Schuppen in seinem Garten auf sich hat, aus dem gruselig kratzende und schabende Geräusche dringen, will er nicht sprechen.

Dieser Erzählstrang in der realen Welt nimmt bereits ein Drittel des Buches ein, mit den für King typisch ausschweifenden und detaillierten Beschreibungen. Hier ist der Roman mehr eine Coming-of-Age-Geschichte, die sich um eine intensive Vater-Sohn-Beziehung dreht. Die Charaktere sind glaubhaft gelungen, allen voran natürlich Charlie und der liebenswerte Vierbeiner. Stephen King spielt hier seine Stärken aus und ich fand diesen Teil sehr berührend und unterhaltsam.

Das Abenteuer beginnt

Erst ab Seite 300 überschlagen sich die Ereignisse, die Geschichte bekommt märchenhafte Züge und das Abenteuer beginnt. In dem Schuppen öffnet sich ein Portal in eine andere Welt und Charlie bekommt Zugang zu einem Paralleluniversum. Diese magische Welt namens Empis ist in großer Gefahr, denn eine finstere Kreatur hat die Macht an sich gerissen und die geknechtete Bevölkerung mit einem Fluch belegt, bei der die Menschen langsam ihre Sinnesorgane einbüßen. Charlie begegnet Menschen mit ausradierten Gesichtern, mit Narben an Stellen, wo früher Augen, Mund und Ohren waren. Eine graue Welt, in der zwei Monde über dem Himmel ziehen, mit einer Königsfamilie, die verbannt wurde, eine magische Sonnenuhr, welche die Zeit zurückdrehen kann, sprechenden Pferden, schlauen Insekten und anderen überdimensionierten Tieren, Monstern und Riesen.

Hört sich nach überbordender Fantasie und umfangreichem Worldbuilding an? War es aber für mich nicht. Mir gelang es nicht, in diesen Teil der Geschichte richtig einzutauchen. Während ich die ersten 300 Seiten genossen habe und gerne so weitergelesen hätte, verlor ich beim Betreten der Märchen-Welt immer mehr das Interesse.  Ich wurde nicht verzaubert, es fehlte mir an Originalität, dafür bietet King hier nur ausgetretene Erzähl-Pfade. Der jugendliche Held bewegt sich in der Fantasy-Welt ohne große Plot-Twists von einer Aufgabe zur nächsten. Während er gegen das Grauen kämpft und die unterdrückte Bevölkerung von dem Bösen befreit, wächst er über sich hinaus.

Meerjungfrauen und die Tribute von Panem

Auf den noch fast 600 folgenden Seiten werden derart viele Referenzen an Märchenklassiker eingebaut, dass es mir irgendwann zu viel wurde. Das fängt schon mit der Mutter an, die mit einem roten Mantel auf der Brücke von einem Wolf äh LKW erwischt wird. Außerdem werden uns diese Vergleiche mit Werken aus Literatur und Film ständig von Charlie serviert, ohne dass wir sie selbst entdecken können. Alles schien mir schon mal dagewesen zu sein. Es gibt Prinzessinnen, Meerjungfrauen und Spiele, bei denen sich die Menschen in einer Arena auf Leben und Tod bekämpfen müssen. Das erinnert an Tribute von Panem und bin ich die Einzige, die bei dem Wort Empis immer an Mumpitz dachte? Ich konnte mit den Figuren in Empis nicht mitfiebern, sie waren mir leider egal und die finale Konfrontation mit dem Bösewicht konnte ich kaum erwarten, passierte dann aber relativ unspektakulär. Natürlich kann man in der Beschreibung des Märchenlandes Bezüge zu Kings Heimat und seine Befürchtungen für die Zukunft erkennen.

Ein unterhaltsamer, gut geschriebener Spannungsroman mit einem großartigen Anfang, der ganz ohne phantastische Elemente und märchenhafte Inhalte auskommt und einem zu aufgeblähtem Mittelteil mit einigen Schwachpunkten.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Fairy Tale | Erschienen am 14.09.2022 im Heyne Verlag
ISBN 978-3-45327-399-3
880 Seiten | 28,- €
Originaltitel: Fairy Tale | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Bernhard Kleinschmidt
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Weitere Rezensionen zu Romanen von Stephen King auf Kaliber.17

Abgehakt | Kurzrezensionen März 2023

Abgehakt | Kurzrezensionen März 2023

Kurzrezensionen März 2023

 

Friedrich Ani | Bullauge

Kay Oleander ist Polizist bei der Schutzpolizei in München. Bei einer Demonstration von „besorgten Bürgern“ eskaliert die Lage leicht, er wird von einer Glasflasche am Kopf getroffen, in der Folge verliert er ein Auge. Immer noch krank geschrieben, traumatisiert, allein stehend, verschafft er sich Zugang zu den Ermittlungsakten. Ein Täter wurde bislang nicht ermittelt, allerdings einige Zeugen vernommen, die sich verdächtig verhalten haben. Eine davon ist Silvia Glaser, auf die Oleander vor ihrem Haus trifft. Beide kommen ins Gespräch. Glaser offenbart ihm, dass sie in den Dunstkreis einer extremen Partei geraten ist, und bittet ihn, ihr dort herauszuhelfen.

Friedrich Ani ist der Mann der leisen Zwischentöne, der psychologischen Profile. Das zelebriert er hier auch ausgiebig. Sowohl Oleander als auch Glaser verbindet einiges, beide sind nach einem Unfall versehrt, noch etwas traumatisiert, ähnlich einsam und vom Leben enttäuscht. Das ist ohne Frage gut geschrieben, erschien mir von der Figurenkonstellation zu konstruiert und war mir auch irgendwie deutlich zu langatmig und spannungsarm. Doch im letzten Drittel bringt Ani dann einen Drive in die Story und am Ende noch einen bösen Twist, der den Leser nicht kalt lässt. Das hat mich dann doch überzeugt. Insofern ein Roman, bei dem man trotz der wenigen Seiten ein wenig dranbleiben muss, das Ende entschädigt dann aber für vieles.

 

Bullauge | Erschienen am 28.10.2022 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-7857-2811-6
366 Seiten | 16,99 €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3,5 von 5
Genre: Krimi

 

Kim Young-ha | Aufzeichnungen eines Serienmörders

Byongsu Kim ist pensionierter Tierarzt, verbringt seine Zeit inzwischen mit Literatur, schreibt selbst gerne Gedichte. Der Siebzigjährige hat allerdings auch eine Vergangenheit als Serienmörder. Bis zum Alter von 45 Jahren hat er gemordet und wurde nie gefasst. Seit einem schweren Verkehrsunfall hat er dies beendet und die kleine Tochter seines letzten Opfers adoptiert und großgezogen. Zuletzt wurde bei ihm Demenz diagnostiziert, die stetig voranschreitet. Bei einer zufälligen Begegnung trifft Kim auf einen Mann, in dem er ebenfalls einen Serienmörder erkennt. Kurz danach kommt seine Tochter ausgerechnet mit diesem Mann als Verlobtem nach Hause. Kim versucht nun fieberhaft bei fortschreitender Demenz seine Tochter zu beschützen und wenn er bei diesem Mann nochmal selbst zum Mörder werden muss.

„Aufzeichnungen eines Serienmörders“ war in Korea ein Bestseller, auch die Verfilmung war erfolgreich und auch in der deutschen Übersetzung für den auf ostasiatische, insbesondere japanische Literatur spezialisierten Cass Verlag ein großer Erfolg. Der Titel ist dabei wörtlich zu nehmen. Byongsu Kim erzählt aus der Ich-Perspektive in kurzen, knappen Absätzen, in denen sich aktuelle Ereignisse, Erinnerungen aus naher oder ferner Vergangenheit und philosophische und lyrische Einschübe abwechseln. Dabei bringt der Erzähler auch immer blitzlichthaft wieder Einsichten in die koreanische Gesellschaft, vor allem der Vergangenheit. Der Reiz des Romans liegt zum großen Teil in der Person des Byongsu Kim, dem man zunehmend mitleidvoll beim „Verschwinden“ zusieht. Das Thema Demenz ausgerechnet bei einem ein Serienmörder ohne Reue durchzuspielen, ist eine ungemein pfiffige Idee, sehr virtuos umgesetzt. Aber Vorsicht an die Leser: Ob ein dementer Siebzigjähriger ein so zuverlässiger Erzähler ist? Mit weniger als 200 Seiten ein ziemlich schmaler, aber dafür aber umso feiner und nachhallender Roman.

 

Aufzeichnungen eines Serienmörders | Erschienen am 27.09.2020 im Cass Verlag
ISBN 978-3-944751-22-1
152 Seiten | 20,- €
Die gelesene Ausgabe erschien 2022 bei der Büchergilde Gutenberg
Originaltitel: Sakinja-ui gieok-beob | Übersetzung aus dem Koreanischen von Inwon Park
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 4,5 von 5,0
Genre: Spannungsroman

 

 

Peter Papathanasiou | Steinigung

Cobb ist eine vergessene, heruntergekommene Kleinstadt im heißen Outback Australiens. Landflucht, Alkohol, Drogen, Armut nagen am Gemeinwohl, die Installierung eines Internierungslagers für Asylsuchende hat zudem auch nicht wirklich neue Jobs gebracht, stattdessen zusätzliche Probleme. Da wird Cobb von einer brutalen Gewalttat erschüttert. Molly Abbott, beliebte Grundschullehrerin, wird brutal gesteinigt aufgefunden. Aus der Großstadt kommt der Detective George Manolis, um die Dorfpolizisten zu unterstützen. Manolis ist selbst in Cobb aufgewachsen, ehe seine Familie überstürzt den Ort verlassen hat. Manolis sieht sich einer widerwilligen, feindseligen Atmosphäre ausgesetzt. Für viele Bewohner steht fest: Der Mörder kommt aus dem Internierungslager, dem „Braunenhaus“, in dem die Tote Englischunterricht gegeben hat – was vielen allerdings nicht gefallen hat.

Der Debütroman des australischen Autors Peter Papathanasiou führt den Leser tief in die gesellschaftlichen Probleme Australiens. Sehr spannend konstruiert er ein Setting, in dem Nachfolger der Ureinwohner (Constable Sparrow), der ersten Siedler (man erinnert sich: Das waren vor allem Strafgefangene), der Einwanderer im 20.Jahrhundert (Detective Manolis) und die Flüchtlinge von heute aufeinander treffen. Dabei kreiert der Autor eine Reihe interessanter Figuren.

Manolis muss gegen eine Reihe von Widerständen ankämpfen, ihm begegnet Hass, Aggression, verhüllter und offener Rassismus. Am Erschütterndsten erscheint aber der bürokratisch-unterdrückende Umgang des Staates mit den Asylsuchenden, denen keine echte Perspektive geboten wird und die im Lager von Wachpersonal umgeben sind, die allzu gerne ihre Macht missbrauchen. Insgesamt ein lohnendes Debüt mit stark gesellschaftskritischem Unterton aus Australien.

 

Steinigung | Erschienen am 15.03.2023 im Polar Verlag
ISBN 978-3-492-06345-6
304 Seiten | 17,- €
Als E-Book: ISBN 978-3-498392-70-3 | 12,99 €
Originaltitel: The Stoning | Übersetzung aus dem Englischen von Sven Koch
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3,5 von 5
Genre: Gesellschaftskritischer Krimi

Rezensionen 1-3 und Fotos von Gunnar Wolters.

 

Kathleen Kent | Der Weg ins Feuer

„Der Weg ins Feuer“ ist der zweite Thriller um die junge Polizistin Betty Rhyzyk vom Dallas Police Department und schließt einige Monate nach den traumatischen Erlebnissen aus dem ersten Band an. Betty, die immer noch unter den körperlichen wie psychischen Verletzungen leidet, darf endlich wieder ihren Dienst im Drogendezernat aufnehmen, wird von ihrem neuen Chef, dem ehemaligen Mordermittler Marshall Maclin erst mal in den Innendienst gesetzt. Auf die Straße darf sie erst wieder, wenn sie einige Therapiestunden beim Polizeipsychiater abgesessen hat. Doch Betty will sich keine Schwäche eingestehen, dabei hat sie auch den Freitod ihres Bruders noch nicht wirklich verarbeitet. Mit ihrer schroffen Art, die man schon aus dem ersten Band kennt, stößt sie auch ihrer geliebten Frau Jackie immer wieder vor den Kopf.

Im Fokus des ganzen Buches steht Betty und die Kriminalgeschichte gerät fast in den Hintergrund. In Dallas rivalisieren Drogenkartelle mitaneinander und Dealer werden auf offener Straße erschossen. Als ein Informant und Junkie ermordet wird und Gerüchte auftauchen, ein Cop wäre involviert, beginnt Betty auf eigene Faust zu ermitteln. Als Leser*in sind wir immer dicht bei ihr, wenn sie sich in die einschlägigen Clubs der Szene oder auch in den Untergrund und damit erneut in große Gefahr begibt. Ihre Kollegen werden von ihr genau beobachtet und es ist ausgerechnet ihr Freund und Kollege Seth, der scheinbar etwas zu verbergen hat. Wenn Betty wiederholt Maclins Anordnungen missachtet und Verdachtsmomente vorenthält, Sitzungen beim Psychologen absagt oder einen Tatort betritt, ohne Verstärkung anzufordern, ist das teilweise schwer zu ertragen. Dabei zeigt sie auch oft ihr weiches Herz, mischt sich in Fällen häuslicher Gewalt ein und nimmt Obdachlose auf.

Man kann diesen zweiten Teil ohne Vorkenntnisse des ersten Teils lesen, ich würde aber dazu raten, sie in der richtigen Reihenfolge zu lesen. Trotz einiger Thriller-Klischees, die bedient werden, ist der Autorin ein spannender und temporeicher Thriller um eine außergewöhnliche Ermittlerin gelungen, der einen Blick in die Abgründe der Drogenkriminalität bietet. „Der Weg ins Feuer“ wird von den starken Charakterisierungen seiner Figuren getragen und zieht seine Intensität aus dem Drama in Bettys Leben, die zum Vorgänger eine glaubhafte Entwicklung durchmacht.

 

Rezension und Foto von Andy Ruhr.

Der Weg ins Feuer | Erschienen am 13.02.2023 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-47296-5
359 Seiten | 16,95 €
Originaltitel: The Burn | Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Andrea O’Brien
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 4 von 5
Genre: Thriller