Kategorie: Polizeiroman

Arne Dahl | Stummer Schrei

Arne Dahl | Stummer Schrei

Von einer Anhöhe wid durch ein Fernglas das zweite Überholmanöver verfolgt. Vor allem, was mit dem Wagen auf der linken Spur passiert. Er fängt Feuer, der Fahrer verliert die Kontrolle und schert in der Kurve in die falsche Richtung aus, rast von der Autobahn und pflügt wie ein Feuerball durch das goldgelbe Rapsfeld. […]
Das Fernglas senkt sich in der einen Hand, der Fernzünder in der anderen.
Das Universum hört einen tiefen Atemzug.
Es hat begonnen. (Auszug E-Book Pos.77-85)

Es beginnt mit zwei Sprengstoffanschlägen. Zum einen auf den Wagen eines hohen Managers eines Stahlkonzerns, zum anderen eine Paketbombe auf den Chef einer renommierten Werbeagentur, der gerade eine Kampagne für mehrere Konzerne mit dem Schwerpunkt auf fossile Energien vorbereitete. Dann erhält Eva Nyman, Leiterin der kleinen Spezialeinheit NOVA in der schwedischen Kriminalpolizei, eine Art Bekennerbrief. In diesem wird auf die Zerstörung der Umwelt und des Klimas hingewiesen, verklausuliert sich der beiden Anschläge bekannt und weitere angekündigt. Doch was Eva Nyman sofort stutzig macht, ist der Duktus des Schreibens und eine bestimmte Formulierung. „Die Ruinen des Verfalls“ war eine der Lieblingsformulierungen ihres ehemaligen Vorgesetzten Lukas Frisell.

Frisell war bis vor etwa 15 Jahren im Dienst der Kripo, doch im Zuge eines fehlgeschlagenen Einsatzes, bei dem eine Geisel aufgrund seiner falschen Entscheidungen verstarb, hatte er den Dienst quittiert. Frisell arbeitete später als Dozent für Umwelt- und Klimaforscher an einer Fachhochschule, bevor er dann als Prepper in die Wälder ging und seitdem von der Bildfläche verschwunden ist. Nyman und ihr vierköpfiges Team fragen sich, ob Frisell sich weiter radikalisiert hat und nun als Klimaterrorist aktiv wird. Sie nehmen seine Spur auf und müssen tief in die schwedischen Wälder, um seiner habhaft zu werden. Doch gerade als sie ihn zur Verhör haben und er alles von sich weist, geschieht ein dritter Anschlag auf eine Serverfarm eines globalen Versandhändlers.

Arne Dahl ist schon einer der Veteranen der schwedischen Krimiszene. 1999 begann er seine Karriere als Krimiautor mit dem ersten Band der Serie um die Sondereinheit „A-Gruppe“ mit insgesamt elf Romanen, an die er auch in seiner zweiten Reihe um eine Europol-Ermittlungsgruppe anknüpfte. Nun beginnt er mit „Stummer Schrei“ wieder eine Reihe mit einer kleinen, hochintelligenten Ermittlungseinheit. Im Zentrum steht neben Eva Nyman und ihrer Einheit vor allem der ehemalige Polizist, ehemalige Forscher und Dozent, Spezialist für Überlebenstraining und Prepper Lukas Frisell. Ein undurchsichtiger Typ, intelligent, ignorant, Einzelgänger, lebt einerseits als Eremit im Wald, hat schon immer gegen den Raubbau an der Natur doziert, aber entsagt keinesfalls aller Technologie oder sonstigen Bedürfnissen. Was hat er mit den Anschlägen zu tun? Für meinen Geschmack kann der erfahrene Leser zu schnell seine Rolle in dem Ganzen erraten.

Ansonsten bietet Dahl eine souveräne Vorstellung. Die Figuren sind interessant (auch wenn das NOVA-Team schon übertrieben gute Polizisten sind), der Spannungsaufbau stimmt, das Ganze liest sich gut weg. Auch die Schauplätze sind gut gewählt, neben Stockholm geht der Autor auch in die Provinz und in die Tiefe der schwedischen Wälder. Dieses „Zurück zur Natur“ als eines der zentralen Themen des Romans ist gut gemacht, führt aber auch zu meinem größten Kritikpunkt am Roman. Das eigentliche Motiv (Vorsicht Spoiler) der Anschläge führt wieder von diesem Thema weg und ist für meinen Geschmack viel zu übertrieben und aufgeblasen. So gibt es von mir doch noch am Ende ein paar Abzüge. Insgesamt erhält der Leser aber souveräne Krimikost aus dem hohen Norden.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Stummer Schrei | Erschienen am 01.02.2023 im Piper Verlag
ISBN 978-3-492-07241-0
464 Seiten | 17,- €
Als E-Book: EAN 978-3-492-60641-7 | 14,99 €
Originaltitel: I cirkelns mitt | Übersetzung aus dem Schwedischen von Kerstin Schöps
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Vor 45 Jahren: Krimipreisträger 1978 & Lionel Davidson | Tod in Chelsea

Vor 45 Jahren: Krimipreisträger 1978 & Lionel Davidson | Tod in Chelsea

Es ist mal wieder Zeit für einen Blick in unsere Asservatenkammer. Diesmal gehen wir 45 Jahre zurück und werfen einen Blick auf die damaligen Preisträger der wichtigsten Krimipreise. Die Datenlage ist allerdings nicht so üppig wie ich gedacht hätte, gab es doch einige der heute bekannten Krimipreise noch gar nicht.

Renommiert war damals allerdings schon der französische Grand Prix de la Littérature Policière. 1978 gewann ihn in der Kategorie national die Autorin Madeleine Coudray für ihren Roman „Dénouement avant l’aube“, der jedoch nie ins Deutsche übersetzt wurde. Eine Autorin aus dem Agatha Christie-Rätselsegment, deren Bücher erst nach ihrer Pensionierung im hohen Alter heraugegeben wurden und die bereits im gleichen Jahr der Preisverleihung verstarb.

Ebenfalls eine lange Tradition hat naürlich der amerikanische Edgar Award. 1978 gewann dort William H. Hallahan mit „Catch Me, Kill Me“ (dt. „Ein Fall für Diplomaten“). Beides sagte mir bislang nichts, Hallahan war ein Autor, der sich unter anderem auch bei okkulten Romanen und historischen Sachbücher tummelte. Protagonist des Romans ist Ex-CIA-Agent Charlie Bewer, der noch in drei weiteren späteren Werken Hallahans vorkommt. Knapp geschlagen wurde damals übrigens William McIllvanney mit seinem legendären „Laidlaw“.

Kommen wir zuletzt zum britischen Dagger Award. Den „Gold Dagger“ für den besten britischen Kriminalroman gewann vor 45 Jahren Lionel Davidson mit „The Chelsea Murders“ (dt. „Tod in Chelsea“). Davidson ist damit hinter Ruth Rendell auf Platz 2 der AutorInnen mit den meisten Gold Daggern. Bereits 1960 gewann er mit „The Night of Wenceslas“ (dt. „Die Nacht des Wenzel“) und 1966 mit „A Long Way to Shiloh“ (dt. „Das Geheimnis der Menora“). So habe ich mir dann auch seinen Roman mal für diese Rubrik vorgenommen.

Lionel Davidson | Tod in Chelsea

Ein Mörder geht um in Chelsea: Nach mehreren brutalen Morden innerhalb weniger Wochen tappt die Polizei noch ziemlich im Dunkeln, zumal eine Verbindung zwischen den Opfern bislang nicht gefunden wurde. Die Presse schlachtet die Morde genüßlich aus, versucht mit allen Tricks an Hintergrundinformationen zu kommen. Nach dem dritten Mord an einer 25jährigen Frau, die als Modell in der Kunstakademie und als Bardame gearbeitet hatte, gerät eine Filmcrew der Akademie in den Fokus von Chief Superintendant Warton.
Diese Filmcrew aus Studenten und Absolventen der Akademie dreht einen blutigen Independent-Krimi und waren zum Zeitpunkt des dritten Mordes bei Dreharbeiten am anderen Themseufer in Sichtweite des Tatorts. Die treibenden Köpfe des Teams sind Artie Johnson als Produzent, Steve Griffard als Regisseur und Frank Colbert-Greer als Art Director. Permanent klamm hangeln sie sich von Drehtag zu Drehtag und versuchen zwischendurch Sponsoren oder Spender für weitere Kosten des Films aufzutreiben. Immer wieder an ihrer Seite ist die junge Journalistin Mary Mooney, die mit ihnen bekannt ist und die Morde als Chance sieht, ihre journalistische Karriere nach vorne zu bringen.

Der Chinese Chen hatte das Geschäft um zwanzig vor sieben verlassen. Die beiden jungen Männer hatten die Leiche zwanzig vor acht entdeckt.
In dieser einen Stunde war der Chinese ermordet worden. Und für diese Stunde hatten sie Alibis. Warton hatte sie laufen lassen müssen. Er hatte es nur widerwillig getan, weil er Alibis nicht leiden konnte. Wer unschuldig war, hatte selten eines vorzuweisen. In diesem Fall schien jeder ein Alibi zu haben. (Auszug Pos. 2019)

Der britische Autor Lionel Davidson war zunächst als Journalist tätig und arbeitete als Berichterstatter aus ganz Europa für britische Medien. Dabei entwickelte sich die Idee, es auch als Romanautor zu versuchen. Er war – wie oben bereits an den Preisen ersichtlich – in den 1960ern und 1970ern äußerst erfolgreich mit mehreren Thrillern und Spionageromanen. Große Bekanntheit erlangte auch sein 1962 veröffentlichter Abenteuerroman „Die Rose von Tibet“, in dem ein Brite nach Tibet reist, um nach seinem bei einer Everest-Expedition verschollenen Stiefbruder zu suchen. Davidson verstarb 2009 in London. In seinem Werk ist „Tod in Chelsea“ thematisch ein Ausreißer, denn hier setzte Davidson zum ersten Mal auf einen Polizeikrimi mit relativ klassischem Whodunit-Aufbau.

Der Roman beginnt auch relativ bedächtigt. Davidson lässt sich viel Zeit, um sein Personal und die Beziehungen untereinander vorzustellen, was die Spannungskurve nicht gerade erhöht. Doch spätestens, als Mörder beginnt, der Polizei Gedichtsauszüge als Ankündigung und Hinweis auf folgende Taten zuzuschicken und sich das Verdächtigenkarussell immer mehr auf die drei seltsamen und alle nicht unverdächtigen Gestalten von der Filmcrew verengt, greift dieser Whodunit-Reiz und das macht Davidson dann auch ziemlich ordentlich.

Der Roman gibt zudem einen Einblick in die knallharte Medienkultur in Großbritannien und in die Subkultur rund um die Filmcrew, wobei so manche Nebenfigur allerdings am Rande der Karikatur und darüber hinaus skizziert wird. Letztlich also eine Lektüre, die den versierten Leser etwas unentschieden zurücklässt. Positiv verbleibt allerdings die Schilderungen der polizeilichen Bemühungen und das gut gelungene Rätsel um den Mörder bis zum Schluss.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Tod in Chelsea | Erstmals erschienen 1978
Aktuelle Ausgabe als E-Book bei Edel Elements
ASIN: B00R56EW7O | 3,99 €
Originaltitel: The Chelsea Murders | Übersetzung aus dem Englischen von Christine Frauendorf-Mössel

Michael Connelly | Glutnacht (Band 3/22)

Michael Connelly | Glutnacht (Band 3/22)

„Entweder zählt jeder, oder es zählt keiner.“ (Auszug Seite 159)

„Glutnacht“ ist der dritte Band um LAPD Detective Renée Ballard und der zweite, in dem sie mit Harry Bosch zusammenarbeitet (der 22. mit Harry). Harry, seit vier Jahren im Ruhestand und mit gesundheitlichen Problemen belastet, muss seinen ehemaligen Kollegen beim LAPD John Jack Thompson zu Grabe tragen. Thompson war eine Legende, hatte in mehr als vierzig Jahren beim LAPD viele Übeltäter aus dem Verkehr gezogen und galt für Generationen von Detectives als großes Vorbild. Bei der Beerdigung übergibt seine Witwe Harry eine Akte, die ihr verstorbener Mann entwendet und jahrelang unter Verschluss gehalten hatte.

Das Mordbuch
Dieses Mordbuch enthält die gesammelten Ermittlungsdokumente eines ungeklärten Mordes an einem jungen Mann. John Hilton war vor fast drei Jahrzehnten in einer Durchfahrt, die für Drogengeschäfte genutzt wird, erschossen worden, in einer Zeit, in der die Mordrate in der Geschichte von Los Angeles am höchsten war. Bosch lässt das keine Ruhe, Thompson war sein Mentor gewesen und sein Moralkodex, dass jedes Opfer zählt, oder kein Opfer zählt, hatte er von ihm. Harry fragt sich, ob Thompson etwas verbergen oder den Fall im Ruhestand bearbeiten wollte?

Bosch darf offiziell natürlich nicht mehr ermitteln und hier kommt Renée Ballard ins Spiel. Aufgrund ihrer Beschwerde der sexuellen Belästigung gegen ihren Vorgesetzen war sie in die ungeliebte Nachtschicht der Hollywood Division verbannt worden. Mittlerweile hat sie sich damit arrangiert. Allein mit der Tatsache, dass sie immer als erste am Tatort ist, um das Verbrechen aufzunehmen, aber am anderen Morgen an die Kollegen abgeben muss, hadert die ehrgeizige Polizistin. Besonders der Fall des Obdachlosen, der tragischerweise in seinem Zelt verbrannte, und den sie an das Fire Department abgeben muss, geht ihr nicht mehr aus dem Sinn. Auch wenn die Ermittlungen nicht mehr in ihren Zuständigkeitsbereich fallen.

Nachts, wenn die Neonreklamen und der Glitter erloschen, war Hollywood ein anderer Ort. … Dann wurde es ein Ort für Raubtiere und ihre Beute und nichts dazwischen, ein Ort, wo die Besitzenden hinter ihren verriegelten Türen in Sicherheit waren und die Habenichtse frei herumstreifen. (Auszug Seite 18)

Während Bosch und Ballard in dem ungelösten Cold Case ermitteln und überraschenderweise ziemlich schnell Hinweise auf den vermeintlichen Mörder finden, kommt noch ein dritter Fall hinzu, in dem der Lincoln Lawyer auftaucht, eine weitere Figur aus dem Connelly-Universum. Anwalt Mickey Haller verteidigt einen Mann, der des Mordes an einem sehr angesehenen Supreme-Court-Richter angeklagt ist. Er bittet Bosch, seinen Halbbruder um Hilfe, denn trotz des Geständnisses seines Mandanten und stichhaltiger Beweise ist er von dessen Unschuld überzeugt. Bosch willigt ein und versucht einen Zeugen zu finden und in den Zeugenstand zu bringen. Dafür soll Haller ihn bei einer Klage gegen die Stadt Los Angeles vertreten, da er die kürzlich bei einer Routineuntersuchung erhaltene Diagnose einer chronischen Erkrankung berufsbedingt einstuft.

Das Dreamteam
Connelly hat mit der Figur des Harry Bosch, einem bissigen Polizisten, der sich nur der Fairness und Gerechtigkeit verpflichtet fühlt, eine Ikone geschaffen. Und nach unzähligen Romanen und sieben Staffeln der Fernsehserie Bosch fand ich die neue Figur der Renée Ballard richtig erfrischend. Als sie im zweiten Band auf Harry traf, habe ich gejubelt, obwohl sie auch da schon etwas in den Hintergrund tritt. Und jetzt in „Glutnacht“ wird sie fast von Bosch und seiner Strahlkraft überrollt. Ich hätte gerne mehr über die gebürtig aus Hawaii stammende, unkonventionelle Polizistin erfahren. Ich glaube, sie hat auch das Potential dazu. Sie lässt sich nicht die Butter vom Brot nehmen und wenn sie auf ihren ehemaligen, verhassten Chef Olivas trifft, sprühen die Funken.

Die beiden Einzelgänger ergeben zusammen ein perfektes Ermittlerduo, sind gleichberechtige Partner, die sich ergänzen, Ballard mit ihrem aktiven Job beim LAPD und Bosch mit seiner langjährigen Erfahrung. Zusammen ermitteln sie in drei verschiedenen Fällen bis zu der nachvollziehbaren Auflösung.

Das Fazit
Wie bei fast allen Romanen aus dem Connelly-Kosmos führt der Spezialist für Polizeikrimis mehrere Handlungsstränge in gewohnter Qualität zu einem feinen Plot zusammen. Die realitätsnahe Schilderung der Polizeiarbeit sowie die detaillierten Beschreibungen der Gerichtsverfahren sind genauso glaubwürdig wie unterhaltsam. Trotz einiger Gefahrenszenen für die beiden Protagonisten und gelegentlichen Actionszenen schleicht sich die Spannung eher langsam an. Die Aufklärung der Fälle steht bei Connelly immer im Vordergrund.

Im Original gibt es bereits zwei weitere Bände mit Bosch und Ballard. Im Nachlass von John Jack Thompson gibt es noch einen weiteren Fall, und den wollen sich die beiden Einzelkämpfer als nächstes vornehmen. Und ich werde auch wieder zu dem wunderschön vom Kampa-Verlag designten Cover greifen und Bosch und Ballard durch die Straßen von Los Angeles begleiten.

Fun Fact: Amazon will das Bosch-Universum um zwei weitere Serien um die Detective Jerry Edgar und Renée Ballard erweitern und arbeitet an der Entwicklung.
Weiterer Fun Fact: Es gab kürzlich für eine Charityaktion ein T-Shirt käuflich zu erwerben mit der Aufschrift: Everybody counts or nobody counts (wir waren nah dran, eins zu bestellen ;)).

 

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Glutnacht | Erschienen am 28.07.2022 im Kampa Verlag
ISBN 978-3-311-12561-7
464 Seiten | 21,90 €
Originaltitel: The Night Fire | Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Sepp Leeb
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Weitere Rezensionen zu Michael Connellys Romanen auf dem Blog

Michael Connelly | Schwarzes Echo (Band 1)

Michael Connelly | Schwarzes Echo (Band 1)

Aufgrund ihrer Kriegs- und Polizeierfahrungen, insbesondere der oben erwähnten Schüsse, die den Tod eines Menschen zur Folge hatten, zeigt sich die Versuchsperson körperlicher Gewalt gegenüber als in hohem Maße desensibilisiert. Sie spricht von Gewalt oder auch Aspekten der Gewalt als normalem Teil ihres alltäglichen Lebens, ihres Lebens insgesamt. (Auszug S. 109)

Die Versuchsperson, die hier in einem psychologischem Memo charakterisiert wird, ist niemand anderes als Harry Bosch. Dem aktuellen Krimipublikum am ehesten vertraut durch die ab 2014 produzierte siebenstaffelige Fernsehserie mit Titus Welliver als Detective Hieronymus, genannt Harry, Bosch. Doch die Figur ist inzwischen schon fast dreißig Jahre alt. Damals, Ende Januar 1992, erschien beim Verlag „Little, Brown and Company“ das Debüt des Journalisten Michael Connelly. „The Black Echo“ wurde direkt ein Erfolg, gewann ein Jahr später den Edgar Award für das beste Erstlingswerk und begründete eine bis heute andauernde Erfolgsreihe.

Michael Connelly war bereits früh von der Kriminalliteratur fasziniert. Raymond Chandler war sein großes Vorbild und schon in jungen Jahren stellte sich bei ihm der Wunsch ein, Kriminalschriftsteller zu werden. Doch er machte sich, auch mit seiner Familie, über den richtigen Weg dorthin Gedanken: „…to get into the world of crime I needed to be a lawyer, a cop or a reporter“(1). Connelly machte schließlich einen Abschluss in Journalistik und begann 1980 als Polizeireporter in Florida, zunächst bei der kleinen Zeitung „Daytona Beach News Journal“, später beim „Fort Lauderdale News and Sun-Sentinel“. Er schrieb während dieser Zeit an zwei Private Eye-Romanen, die er aber selbst als nicht gut genug empfand, insbesondere die Figuren betreffend. Seine fortschreitende journalistische Tätigkeit gab ihm aber zunehmend tiefere Einblicke in die Welt des Verbrechens und der Polizeiarbeit. Eine Reportage über die Überlebenden eines Absturzes einer Passagiermaschine 1985 in Dallas brachte Connelly schließlich landesweite Reputation, die Nominierung für den Pulitzerpreis und ein Jobangebot der „Los Angeles Times“. Dort intensivierte er nochmal den Aufwand: „I did a lot of shoe leather. I talked to about 100 detectives a week.“(2) Sein Ziel war es vor allem, einen in sich stimmigen Charakter für seinen ersten Roman aufzubauen. Zwei Jahre schrieb er an „The Black Echo“ mit seinem Protagonisten Harry Bosch. Als Debütant hatte Connelly natürlich auch mit einigen Absagen zu kämpfen, bis sich schließlich James Lee Burkes Agent Phil Spitzer vom Manuskript überzeugt wurde und bei Little, Brown and Company platzieren konnte. „The Black Echo“ war damals ein erfolgreiches Debüt, wenn auch kein Megaseller. Doch es begründete eine der heute erfolgreichsten Krimiserien.

Aber nun auch was zum Inhalt: Detective Harry Bosch war sowas wie ein Superstar im LAPD, hatte spektakuläre Erfolge als Mordermittler, einer seiner Fälle wurde sogar für das Fernsehen adaptiert. Andererseits war Bosch schon immer ein einsamer und knurriger Held, dem die Meinungen der Kollegen wenig bedeuteten und der Dienstvorschriften immer großzügig auslegte. So war es nur eine Frage der Zeit, bis die Dienstaufsicht eine gute Gelegenheit ausnutzen würde. Nachdem eine Festnahme mit dem Tod des (zu recht) Tatverdächtigen endete, gab es Ermittlungen gegen Harry, denn der Getötete war unbewaffnet. Eine Zeugin behauptete, Harry habe gewusst, dass der Mann nicht nach einer Waffe, sondern nach seinem Toupet unter dem Kopfkissen greifen wollte. Doch die Zeugin hatte nicht den allerbesten Leumund, sodass Harry nicht degradiert wurde. Allerdings reichte es, um ihn aus dem Scheinwerferlicht der Mordkommission in Downtown L.A. in die weniger spektakuläre Hollywood Division zu versetzen. Doch der stellvertretende Leiter des Departments für innere Angelegenheiten, Chief Irvin Irving, wartet nur auf den nächsten Fehler von Harry Bosch.

Dieser macht erstmal wie gewohnt seinen Job. Diesmal wird er zu einem Leichenfund am Lake Hollywood gerufen. Ein toter Mann wurde in einer Röhre gefunden, in dem sich schon mal Obdachlose und Junkies aufhalten. Tatsächlich hatte der Mann noch eine Spritze im Arm. Ein klarer Fall also, auch Harrys neuer Partner Jerry Edgar will sich mit dem Fall nicht lange aufhalten. Und doch kommt Harry einiges merkwürdig vor: Es sieht so aus, als wäre der Mann in die Röhre gebracht worden, ein Finger ist seltsam gebrochen, der Einstich zum goldenen Schuss war der allererste seit langer Zeit – und außerdem kennt Bosch den Mann.

William, genannt Billy, Meadows war wie Harry Bosch ein Vietnamveteran. Genauer gesagt eine „Tunnelratte“, Männer, die in die unterirdischen Tunnelsysteme des Vietcong eindrangen, um in den dunklen, unheimlichen Gängen den Feind auszuschalten. Doch wehe, man geriet selbst dort unten in Feindeshand. „Schwarzes Echo“ nennen sie diese Gänge bis heute.

„Es gab keine Bezeichnung dafür, also haben wir uns eine ausgedacht. Es war die Dunkelheit, die feuchte Leere, die du gefühlt hast, wenn du allein da unten in diesen Tunneln warst. Du fühltest dich dort wie tot – tot und begraben in der Finsternis. Aber du warst am Leben. Und du hattest Angst. Dein eigener Atem hallte aus der Finsternis zurück, laut genug, dich zu verraten. Oder zumindest glaubtest du das. Ich weiß nicht. Es ist schwer zu erklären. Eben… das schwarze Echo.“ (Auszug S. 402-403)

Harry ist überzeugt, dass Meadows umgebracht wurde. In der Wohnung findet er einen Pfandschein. Im Pfandbüro angekommen, stellt Harry fest, dass in dieses eingebrochen wurde und ausgerechnet das verpfändete Stück, eine Jadearmband, entwendet wurde. Zu viel des Zufalls für Bosch. Er recherchiert, dass das Armband im Rahmen eines spektakulären Raubs vor einigen Monaten abhanden gekommen war, als über einen selbstgegrabenen Tunnel in den Schließfachraum der WestLand National Bank eingebrochen wurde – die Verbindung zu Billy Meadows. Harry sucht Kontakt zum FBI, das den Bankraub bearbeitet. Er blitzt zunächst ab, darf aber dann doch an der Seite der Agentin Eleanor Wish weiterermitteln.

„You get into a situation where plot is king and you really should know character is King“.(3) So beschreibt Michael Connelly selbst seinen Prozess auf dem Weg zu einem erfolgreichen Kriminalautor. Am Ende stand die Entwicklung seines Protagonisten Harry Bosch, der hier als einsamer Wolf des LAPD durch die Gegend streift. Harry ist ein Moralist, sein Credo „Jeder zählt oder niemand zählt“ lässt ihn jeden Mord unabhängig vom Status des Opfers betrachten – was im LAPD nicht unbedingt üblich ist. Damit eckt Harry natürlich auch immer wieder an, isoliert ihn unter den Kollegen. Seine großzügige Dehnung der Dienstvorschriften bringt ihn zudem immer wieder ins Visier der internen Ermittlungen. Seine Brillanz in der Polizeiarbeit nötigt jedoch auch seinen Gegnern Respekt ab. Auch privat ist Harry nicht unbedingt ein geselliger Typ, er ist als Kind zumeist in Heimen aufgewachsen, seine alleinerziehende Mutter arbeitete als Prostituierte und wurde ermordet, als er elf war. Später war Bosch dann bei der Army und ist Veteran des Vietnamkrieges, was ihn durchaus noch belastet. Schließlich hat er dann bei der Polizei angefangen. Als Leser spürt man sofort, diese Figur hat das gewisse Etwas, ein moralischer Charakter mit Ecken und Kanten und einer interessanten Vergangenheit. Neben diversen echten Personen aus seiner Zeit als Polizeireporter stand bei der Figur Harry Bosch natürlich – wir bewegen uns in L.A. – auch Philip Marlowe Pate. Spannend für alle diejenigen, die wie ich mehr Serienstaffeln als Bücher von Bosch gelesen haben, ist die Tatsache, dass Connelly schon zahlreiche Figuren des weiteren Bosch-Universums wie Eleanor Wish und Irvin Irving hier als einflussreiche Nebencharaktere anlegt.

Der Schauplatz Los Angeles ist selbstredend ein klassisches Setting amerikanischer Kriminalromane und wird von Connelly dennoch um weitere Facetten erweitert. Daneben entwirft der Autor einen spannenden und durchaus komplexen Plot um ungewöhnliche, skrupellose Bankräuber, alte Vietnam-Connections und Querelen und Querschüsse aus den eigenen Reihen des Polizei- und Behördenapparates. Hier zeigen sich die Qualitäten des Reporters Connelly, der es vermag, den Polizeialltag, die (oftmals schwierige) Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Ermittlungsbehörden, zwischen Polizei und Presse und interne Streitigkeiten innerhalb der Polizei authentisch und spannend darzustellen. Insgesamt ist „Schwarzes Echo“ ein herausragendes Debüt, eine Cop Novel, die von der Handlung vollkommen überzeugt und dennoch durch diese Hauptfigur Harry Bosch nochmal auf ein weiteres Level gehoben wird – ein echter Krimiklassiker.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Schwarzes Echo | Erstmals erschienen 1992
Die aktuelle Taschenbuchausgabe erschien am 02.06.2021 im Kampa Verlag
ISBN 978-3-311-15508-9
507 Seiten | 13,- €
Originaltitel: Black Echo (Übersetzung aus dem Englischen von Jörn Ingwersen)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Zitate (1),(2) und (3) sowie weitere Hintergrundinfos aus: „My first thriller: Michael Connelly“ auf crimereads.com

Weiterlesen: Besprechung zu „Schwarzes Echo“ auf Crimealleyblog

Deutschsprachige Politkrimis (Teil 2)

Deutschsprachige Politkrimis (Teil 2)

Nach dem ersten Teil der Rezensionen deutschsprachiger Politkrimis widme ich mich im zweiten Teil zwei „alten Bekannten“ des Genres. Der Düsseldorfer Autor Horst Eckert ist nun schon seit 25 Jahren Autor politischer Krimis, seit einigen Jahren mit Vincent Che Veih auch mit einem festen Protagonisten. Ebenfalls kein Unbekannter im Genre ist der Frankfurter Autor Jan Seghers. Bekannt vor allem durch die ebenfalls verfilmte Reihe um den Frankfurter Kommissar Marthaler hat Seghers nun einen neuen Protagonisten kreiert.

Jan Seghers | Der Solist

Neuhaus (ob der Vorname im Buch fällt, konnte ich hinterher nicht mehr ermitteln, glaube nicht) ist Beamter des BKA, ein integrer Einzelgänger, kurz „Der Solist“. Neuhaus wird abgeordnet in eine Einheit des Berliner LKA zur Terrorismusbekämpfung. Ein Jahr nach dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz ist die Lage in der Hauptstadt angespannt. Ein Mord an einem stadtbekannten Juden, zu dem sich ein „Kommando Anis Amri“ bekennt, sorgt für große Aufregung. Es wird nicht der letzte Mord bleiben, eine antiislamische Stimmung greift um sich. Neuhaus und seine deutschtürkische Kollegin Suna-Marie lassen sich von von oben vorgegebenen Ermittlungsrichtungen nicht beirren und gehen letztlich der Frage nach: Cui bono?

Es gab Sozialarbeiter, Stadtteilinitiativen und Integrationsvereine. Kulturzentrum, Yogapraxis und Trommelkurse. Aber es vermischte sich nichts. Multikulti, so kam es ihm vor, war nur eine Behauptung auf Zeit gewesen. (Auszug S. 187)

Antiislamismus, Populismus, politische Nutznießer und Brandstifter und eine rechte, fremdenfeindliche Tendenz in den deutschen Sicherheitsbehörden. Dieser Roman greift einige heiße Eisen auf und setzt klare Statements, unter anderem mit der Figur des Politikers Nikolas Junker, in der unschwer Alexander Gauland zu erkennen ist. Etwas überraschend ist nach nur etwas mehr als 200 Seiten der Roman auch schon wieder um, da wäre doch noch mehr gegangen, oder? Allerdings gelingt es Jan Seghers durchaus mit Timing, Präzision und wirklich guten Dialogen, sowohl die Figuren zu porträtieren als auch den Plot voranzutreiben. Irritation meinerseits besteht über die Enthüllung über den Background von Neuhaus am Ende des Romans, die diese Figur doch sehr in der Nähe der Figur Veih des Kollegen Horst Eckert rückt. Das hat ein gewisses Gschmäckle.

 

Der Solist | Erschienen am 26.01.2021 im Rowohlt Verlag
ISBN 978-3-498-05848-7
235 Seiten | 20,- €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3,5 von 5;
Genre: Gesellschaftskritischer Krimi

 

Horst Eckert | Die Stunde der Wut

Besagter Vincent Che Veih taucht nämlich nunmehr zum fünften Mal in einem Roman von Eckert auf, zum zweiten Mal in Kombination mit der Kriminalrätin Melia Adan, seiner neuen Chefin in der Kriminalinspektion 1 der Düsseldorfer Polizei. Die Besonderheit bei Veih ist seine Mutter, eine alte Unterstützerin der radikalen Linken, die ihm auch in diesem Band Ärger bereiten wird.

Der Roman schließt zeitlich relativ nah an den Vorgänger „Im Namen der Lüge“ an. Damals war ein Neonazi-Netzwerk von Adan und Veih teilweise zerschlagen worden, aber eine Kollegin von Adan vom Verfassungsschutz ist seitdem verschwunden. Adan vermutet, dass sie ermordet wurde und im Fundament einer Turnhalle versenkt wurde, und ermittelt auf eigene Faust weiter. Damaliger Grundstückseigentümer war ein Neonazi-Verein, heute gehört das Gelände den Immobilienmogul Osterkamp. Dieser ist auch politisch aktiv und versucht erfolgreich mit Geld und Erpressung Einfluss in rechten und konservativen Kreisen zu erlangen. Zeitgleich steht Osterkamp im Fokus von Mieterprotesten, da er bei der Einbringung der Rendite alles andere als zimperlich vorgeht. Veih hingegen hat einen Mordfall an einer jungen Frau aus gutem Hause, Tochter eines stadtbekannten Psychiaters, aufzuklären, die in ihrer Wohnung erstochen wurde – vermeintlich von ihrem Lebensgefährten. Doch Veih irritiert direkt von Beginn, dass die Chefin des Rauschgiftdezernats, eine Freundin der Familie, im Fall mitmischt.

Horst Eckert ist natürlich auch schon ein Veteran der Szene. In inzwischen mehr als einem Dutzend Romanen ist er einer der Vorreiter des „Police Procedurals“ in der deutschen Krimiszene. Er beschreibt die Polizeiarbeit äußerst realistisch, vor allem auch die Stimmungen unter den Kollegen und die Hierarchiekämpfe im Präsidium. Insgesamt ist sein Schreibstil sehr tempo und abwechslungsreich, viele Perspektive, schnelle Wechsel der Szenen.

Wir leben in einer Demokratie, dachte Vincent, aber den Oligarchen gehört das Land. Für ihre Interessen setzen sie Leute wie Tristan Bovert ein. Sie finanzieren rechtsradikale Veriene, Parteien, Milizen. Und lassen sie fallen, sobald es ihnen opportun erscheint. (Auszug S. 414-415)

In „Die Stunde der Wut“ greift Eckert ein ähnliches Thema auf wie der Kollege Schorlau: Die neue Macht der Wirtschaftsmagnaten und deren Einfluss auf die Politik sowie die Kooperation zwischen Verfassungsschützern und rechten Netzwerken. Sehr gekonnt führt Eckert die verschiedenen Stränge zusammen und erzählt einen spannenden Polizeikrimi über Korruption, Intrigen, dreiste Gier und auch Wut, die sich schließlich Bahn bricht. Eckert bleibt für mich einer der besten des Genres im deutschsprachigen Raum.

 

Die Stunde der Wut | Erschienen am 08.03.2021 im Heyne Verlag;
ISBN 978-3-453-44103-3
448 Seiten | 12,99 €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 4 von 5;
Genre: Polizeikrimi

Weiterlesen: Weitere Rezensionen von Gunnar zu Krimis von Horst Eckert

 

Foto und Rezensionen von Gunnar Wolters.