Martin Michaud | Aus dem Schatten des Vergessens (Band 3)
Mit dem Prädikat „Thriller“ wird verschwenderisch umgegangen, auch in diesem Fall verbirgt sich hinter der Ankündigung tatsächlich eher ein klassischer „Police Procedural“, ein Kriminalroman, den man in Franko-Kanadien, wo er entstanden ist „Polar“ nennt, und den man gut vergleichen kann mit einem „Nordic Noir“, einem der bei uns so beliebten Skandinavien-Krimis. Der Schauplatz Montréal war für mich ebenso neu wie der Autor Martin Michaud, und es hat sich gelohnt, beide kennenzulernen.
Der Roman kommt recht düster daher, es ist kurz vor Weihnachten, Zeit der Wintersonnenwende, es ist kalt, es wird früh dunkel und es schneit unaufhörlich in Montréal. Auf die Kollegen und die Kollegin im Dezernat Gewaltverbrechen beim Service de Police municipal de la ville de Montréal (SPVM) kommt eine Menge Arbeit zu, und auf den Leser warten Verbrechen, die ebenso ungewöhnlich wie grausam sind, die explizite Gewalt, die hier hemmungslos ausgeübt und ebenso drastisch geschildert wird, dürfte nicht jedem gefallen.
Gleich drei Tote werden kurz nacheinander aufgefunden: eine emeritierte Professorin, Fachbereich Psychiatrie, erhält eine mysteriöse Nachricht: eine junge Punkerin raunt ihr zu „I didn´t shoot anybody, no Sir!“, den Satz, den der Attentäter nach der Ermordung Präsident John F. Kennedys vor der Untersuchungskommission äußerte. Kurz darauf wird sie entführt und bestialisch hingerichtet. Gleichzeitig erhält ein betagter Anwalt, Teilhaber einer renommierten Kanzlei, eine rätselhafte Warnung und taucht in Panik unter, wobei er eine Akte aus dem Archiv mitnimmt und verschwinden läßt. Aus seinem Autoradio ertönt plötzlich eine Kassette mit der Stimme Lee Harvey Oswalds: „I emphatically deny these charges.“ Dann wird auch er verschleppt und findet einen grässlichen Tod, ebenfalls durch ein mittelalterliches Folterinstrument. Schließlich stürzt sich ein Obdachloser vor den Augen einer Polizistin von einem Hochhaus. Er läßt zwei Brieftaschen zurück, die den beiden Mordopfern gehörten. Bevor er springt, beteuert er: „Ich hätte auch gern Erinnerungen. Die haben mir zu viel am Gehirn rumgemacht. Ich bin nicht mehr richtig im Kopf.“ Es stellt sich heraus, dass er seit langem immer wieder in psychiatrischer Behandlung war, weil er an einer bipolaren Störung erkrankt ist. In seinem Zimmer findet man Papptafeln mit unverständlichen Aufzeichnungen.
Erinnerung ist ein Leitmotiv des Romans, der im Original „Je me souviens“ heißt, Ich erinnere mich. An entscheidenden Stellen der Geschichte wird der Satz mehrfach zitiert. Warum Hoffmann & Campe daraus einen derart sperrigen Titel machte, kann ich nicht nachvollziehen. Rätselhaft auch die Entscheidung des Verlags, mit der Veröffentlichung der bisher fünfteiligen Serie in der Mitte zu beginnen. Die englische Ausgabe, ebenfalls als Thriller beworben, kam unter dem Titel „Never forget“ auf den Markt. Auch in den USA startete die Reihe mit diesem dritten Band. (Allerdings mit einem Vorwort des Autors, in dem er kurz zusammenfasst, „Was bisher geschah“). Auf seiner Website empfiehlt Michaud allerdings, seine Bücher in der Reihenfolge ihrer Entstehung zu lesen, um die Entwicklung seiner Figuren verstehen zu können. In der deutschsprachigen Version fehlen solche Hilfen zum Verständnis, hier bleibt der Leser mit Andeutungen allein, die Michaud hin und wieder ohne Erläuterung in den Text einbaut und die deshalb rätselhaft bleiben. Eine Fernsehserie nach seinen Romanen, für die Michaud die Drehbücher schrieb, wurde mit 10 Episoden der ersten Staffel auch mit „Je me souviens“ begonnen. Dem Vernehmen nach hat das ZDF die Rechte an der Serie gekauft.
In einem fast philosophischen Vorwort klingt das Kernthema bereits an:
„Was was ist wirklich wichtig? Was ich bin oder das Bild, das ich von mir habe? Was in meinem Leben geschieht oder die Vorstellung, die ich mir davon mache? Ich bin nur ein Nichts, eine Abstraktion. Ich bin nichts von dem, was ich geglaubt habe zu sein. Ich bin ohne Identität.“
Die Frage nach der eigenen Identität treibt auch den Hauptdarsteller der Krimireihe um. Das ist Sergent-Détectiv Victor Lessard (in Kanada erscheint die Serie unter dem Titel „Une enquête de Victor Lessard“), ein Polizist, dem der Autor einige schwere Lasten aufgebürdet hat. Er hat früh seine Familie unter entsetzlichen Umständen verloren und lebte als Jugendlicher in verschiedenen Heimen, immer wieder auch auf der Straße, bis ein schwules Paar ihn aufnahm. Nach einer schweren Verletzung bei einem Einsatz verfiel er dem Alkohol, stürzte in eine Depression. Die Ehe zerbrach. Er ist Alkoholiker, seit kurzem trocken aber ständig in Versuchung, wieder zur Flasche zu greifen. Er schafft es auch nicht, mit dem Rauchen aufzuhören. Gerade kommt er aus der Reha, leidet unter PTBS und einigen Phobien, zum Beispiel einer Angststörung und muss deshalb häufig zu Medikamenten greifen. Der ständig gereizte Neurotiker neigt zu Stimmungsschwankungen,zu Schwermut und Wutausbrüchen. Manchmal grübelt er, ob er sich vor dem fürchten sollte, was aus ihm geworden ist.
Der einen Meter neunzig große Mittvierziger achtet auf seine Ernährung, die athletische Figur verdankt er regelmäßigen Besuchen im Fitness-Studio. Victor ist eitel, aber trotz seines schwierigen Charakters bringt man ihm einige Sympathien entgegen, weil er immer wieder an Körper und Seele verletzt wird und sich trotzdem wieder aufrappelt. Gerade hat er die Hoffnung, dass sich alles endlich zum Guten wendet. Er lebt seit ein paar Monaten in einer Beziehung mit einer jungen, höchst attraktiven Kollegin. Seither schwebt er auf Wolke sieben. Aber auch dieses Glück scheint er zu zerstören: Weil er wieder einmal ausrastet, verletzt er seine Geliebte tief, die Beziehung scheint unwiderruflich beendet. Grund ist sein Sohn, der der wieder einmal in Schwierigkeiten steckt. Er war immer schon ein Problemkind, und Victor macht sich Vorwürfe, dass er über seine Fürsorge für ihn die Tochter vernachlässigt hat.
Seine Partnerin Jacinte Taillon, 40, ist seit 20 Jahren mit Ehefrau Lucille verheiratet. Michaud definiert sie praktisch ausschließlich über ihr Äußeres und porträtiert sie sehr unvorteilhaft, ja unattraktiv. Weiche Gesichtszüge, kurze Haare, Fettpolster, allergisch gegen Make-up. Ständig stopft sie irgend etwas in sich hinein, bei jeder Gelegenheit hat sie eine Chips- oder Donuts-Tüte in der Hand. Bis auf solche Klischees erfahren wir wenig über sie, eine Vergangenheit scheint sie überhaupt nicht zu haben, in der Gegenwart erleben wir „die dicke Taillon“ als Zicke. Sie ist zynisch bis boshaft, spöttisch bis verletzend, ihren Partner provoziert sie wo es geht mit diebischem Vergnügen. Sie besitzt kein Einfühlungsvermögen, ist taktlos und ungehobelt und gerne einmal vulgär. Darüber hinaus erweist sie sich als wenig teamfähig. Ständig boykottiert sie den Fortgang der Ermittlungen, indem sie den Theorien ihrer Kollegen widerspricht und deren Erkenntnisse ins Lächerliche zieht, rechthaberisch nur ihre eigenen Theorien gelten lässt.
Immerhin zeigt sie, wenn Victor ernsthaft in Schwierigkeiten steckt oder wieder einmal bei einem Einsatz einstecken muss, menschliche Regungen und scheint sich echt zu sorgen um ihren Partner. Man kann aber nicht behaupten, dass Victor und Jacinthe harmonieren, im Gegenteil. Ständig streiten die beiden, selbst über Kleinigkeiten. Aber auch wenn er wieder einmal bis zur Weißglut gereizt wird, bleibt Victor loyal. Wenn es die Situation erfordert, arbeiten die ungleichen Partner sogar erfolgreich zusammen und in brenzligen Situationen können sie sich aufeinander verlassen. Allerdings sind Jacinthes Methoden nicht immer im Einklang mit den Dienstvorschriften, da wird schon mal ein Zeuge „eingeschüchtert“ oder es geht eine Tür zu Bruch. Im Einsatz kann sie Victor gewöhnlich nicht folgen und schnauft hinter ihm her. Sobald sie aber am Steuer sitzt, ist sie von allen guten Geistern verlassen. Praktisch jede Autofahrt wird zu einem Rennen, Jacinthe drückt das Gaspedal immer bis auf die Bodenplatte durch und rast in unverantwortlicher Weise durch die Stadt.
Victor läßt sich durch das Gebaren seiner Kollegin nicht aus dem Konzept bringen, er bleibt seiner Linie treu und gibt die Richtung vor, in die ermittelt wird. Und er hat dabei meist das richtige Gespür, auch wenn er mitunter in einer Sackgasse landet oder Umwege gehen muss. Schritt für Schritt kommt man der Lösung näher, auch wenn dabei mehrmals der Zufall helfen muss. Nach und nach können die Ermittler die kryptischen Kritzeleien des Obdachlosen entschlüsseln und gewinnen so wichtige Hinweise auf Geschehen in der Vergangenheit, in denen offensichtlich der Ursprung für die gegenwärtigen Verbrechen liegt. Sind sie dem Rachefeldzug eines Opfers von menschenverachtenden Experimenten der CIA auf der Spur? Der tote Obdachlose war, so stellt sich heraus, Teil des so genannten MK ULTRA-Projekts, bei dem CIA und militärische Einrichtungen bis in die siebziger Jahre mittels Versuchen an Menschen Methoden der Bewusstseinsmanipulation erprobten.
Vincent und Jacinthe recherchieren in diese Richtung, verfolgen aber auch andere Spuren, sammeln unermüdlich belastende Hinweise und haben bald mehrere Verdächtige im Visier, einige Theorien, aber keine Beweise. Und dann gibt es weitere Leichen, neue brutale Gewalt. Jacinthe darf sich eine rasante Verfolgungsjagd mitten im Stadtzentrum liefern, mit katastrophalem Ergebnis. Wieder stehen die Ermittler mit leeren Händen da. Vincent geht hartnäckig auch Ansätzen nach, die von den Kollegen als abwegig betrachtet werden. Rückendeckung bekommt er aber von seinem Chef. Der hat selbst einen privaten Schicksalsschlag zu verkraften, führt aber seine Dienstgeschäfte umsichtig und gewissenhaft. Zu seinen Mitarbeitern ist er freundlich, aber streng. Er erwartet Disziplin, stellt sich aber immer hinter seine Leute, wenn es Schwierigkeiten gibt. Auch Victor kann auf ihn zählen, sogar eine Reise nach Dallas wird genehmigt, als er einen Zeugen zu den Umständen der Ermordung Kennedys befragen will. Einige vage Anhaltspunkte lassen eine Verbindung von mehreren ihrer Verdächtigen mit dem Attentat von 1963 möglich erscheinen. Immerhin bekommt Victor mehrere Hinweise, die seine Spekulationen in Bezug auf die aktuelle Mordserie stützen. Dass Michaud hier die alte Verschwörungstheorie aufgreift und in seine Geschichte integriert, nach der es ein Mord-Komplott mit mehreren Tätern gab, ist nicht nur sehr weit hergeholt, sondern für das Funktionieren des Plots auch absolut entbehrlich.
Montréal, Michauds Heimatstadt, spielt in seinen Romanen um Sergent-Détectiv Lessard eine eigene, wichtige Rolle. Die Topographie der Metropole am Fleuve Saint-Laurant, die mit viel Liebe zum Detail beschrieben wird, trägt wesentlich zur Stimmung bei, natürlich auch durch die besondere Atmosphäre der winterlichen Tristesse. Michaud hat sich zudem einige höchst eindrucksvolle Schauplätze ausgedacht, die er effektiv in Szene setzt. Aber Lessard ist auch auf den Straßen, Plätzen und Boulevards in unterschiedlichen Vierteln unterwegs und zeigt uns, in welche Läden man geht und welche Kneipen angesagt sind. Michaud erwähnt einige Male Sänger und Sängerinnen und gibt Zeilen aus ihren Liedern wieder, er berichtet, welche Hockeymannschaften unterstützt werden und für welche Baseball-Teams man schwärmt, er zitiert einen angesagten Dichter und sein einflussreiches Werk sowie dessen Schlüsselrolle in einem richtungsweisenden Film. Kurzum, wer will, erfährt aus erster Hand eine Menge Interessantes über das Alltagsleben in der Provinz Quebec. Es lohnt sich, ein wenig Geduld aufzubringen und sich auf diese Randbemerkungen einzulassen, auch wenn sie das Tempo aus der ansonsten flott vorgetragenen Mördersuche nehmen und kurzfristig ablenken.
Mehrfach bettet Michaud unvermittelt und scheinbar willkürlich Rückblicke auf politische Ereignisse der jüngeren Geschichte Québécs ein, die nur sehr lockere Berührungspunkte mit dem Kriminalfall haben. Es geht dabei um die Bemühungen der Québécois um Unabhängigkeit von anglophoner Dominanz, um die Sehnsucht nach eigener Identität, um das Verlangen, das politische und kulturelle Leben mitzugestalten. Michaud thematisiert einige Eckpunkte, ohne sie zu kommentieren oder zu bewerten. Das deutsche Publikum darf getrost über diese Details hinweglesen, für die Krimihandlung sind sie nicht relevant. Es lohnt sich natürlich dennoch, den einen oder anderen Fakt nachzuschlagen und sich mit Kultur und Geschichte der Frankokanadier zu beschäftigen. Dann erfährt man, dass das Motto „Je me souviens“ auch das Wappen der Provinz Québéc ziert, es wurde zudem beim Bau des Parlaments über dem Eingang eingemeißelt. Und schließlich prangt der Slogan auf jedem Kfz-Kennzeichen.
Die dicke Schwarte von 640 Seiten erfordert viel Kondition um, bei der Stange zu bleiben, und erst recht Konzentration und ein gutes Gedächtnis, um im Wirrwarr der Handlungsfäden den Überblick zu behalten und die schier unendliche Zahl der Handelnden Personen über einen langen Zeitraum und auf verschiedenen Ebenen richtig zuordnen zu können, die noch dazu mal mit ihrem Vornamen, mal mit Nachnamen, dann wieder mit einem Spitznamen oder auch nur ihrer Funktion angesprochen werden. Manche tauchen auf und gleich wieder ab, manche spielen nur eine kleine Rolle oder gar keine, aber alle werden detailliert, lebendig und anschaulich beschrieben, wenn auch oft hauptsächlich über ihr Äußeres.
Der Plot folgt einem sorgfältig geplanten Aufbau: Fünf größere Abschnitte, 95 kurze Kapitel, zum Teil scheinbar willkürlich eingeteilt, vertrackt verschachtelt und raffiniert miteinander verbunden. Die Kapitel lassen sich zeitlich sehr gut einordnen, Datumsangaben erleichtern den Überblick im sprunghaften hin und her und vor und zurück. Es dauert, bis die unterschiedlichen Erzählstränge etabliert sind, und dann braucht es lange, bis das unübersichtliche Gestrüpp all der Handlungsfäden entwirrt ist und neu verknüpft zu einer stimmigen Geschichte, die mit einer sehr gelungenen Auflösung der verschiedenen Rätsel endet.
Dabei bewegt sich die Erzählung meist auf sprachlich hohem Niveau. Der Stil ist nüchtern, präzise, mit stimmigen, einfallsreichen, manchmal poetischen Bildern. Aber dann landet man plötzlich bei grauenhaften Plattitüden, sich wiederholende Allgemeinplätzen, einem hölzernen, holprigen, unbeholfenen Schreibstil, der irritiert und das Lesevermögen einschränkt. Geschuldet ist dies einer für mich unverständlichen Entscheidung des Verlages, zwei Übersetzer zu beschäftigen. Während das Unterfangen in einem Teil des Romans offenkundig trefflich gelungen ist, scheiterte die Arbeit im anderen mehr oder weniger kläglich, zudem ärgern etliche Fehler.
Victor und Jacinthe tun sich schwer mit ihren Ermittlungen im Gestrüpp der undurchsichtigen Verbindungen. Immer wieder gibt es unvorhergesehene Volten und damit neue Mutmaßungen, die bald wieder verworfen werden. Entscheidende Erkenntnisse bringt schließlich die Akte, die Lawson verschwinden ließ. Als sich eine weitere Entführung ereignet, läuft Victor und Jacinthe die Zeit weg. Bis sie endlich das Versteck der Geisel ausmachen können, ist es schon fast zu spät.
Die angekündigte „Sensation“ ist der Roman nicht, aber grundsolide, gut geschriebene Krimiunterhaltung, an der ich nicht viel zu kritisieren habe. Vier Sterne für diesen Band der Lessard-Reihe. Zwei weitere Folgen sind noch für dieses Jahr angekündigt, aber ich werde erst dann wieder zu Michaud greifen, wenn seine ersten beiden Krimis auf Deutsch erscheinen.
Foto & Rezension von Kurt Schäfer.
Aus dem Schatten des Vergessens | Erschienen am 05. November 2020 im Verlag Hoffmann & Campe
ISBN 978-3-455-01007-7
640 Seiten | 16,90 €
Originaltitel: Je me souviens (Übersetzung aus dem kanadischen Französisch von Anabelle Assaf und Reiner Pfleiderer)
Bibliografische Angaben