Kategorie: Ermittler

Rezensent

Tom Hillenbrand | Thanatopia

Tom Hillenbrand | Thanatopia

Im Dezember 2095 taucht in der Donau eine weibliche Wasserleiche auf. Nichts Ungewöhnliches für den erfahrenen und mit seinen fast 75 Jahren dienstältesten Kommissar Wenzel Landauer von der Wiener Polizei. Doch in der Pathologie dann die Überraschung in Form einer zweiten Frauenleiche, die nicht nur identisch aussieht, sondern auch dieselbe DNA aufweist. Beide Tote waren sogenannte Quants, bei denen das organische Gehirn durch einen Computer ersetzt wurde. Dadurch ist es möglich, seinen Verstand in Gefäße hochzuladen und für einige Wochen ein anderes Leben zu führen. Doch Gefäße müssten eigentlich gekennzeichnet sein, was hier nicht der Fall ist.

Landauer kommt mit seiner Assistentin Tish Turquois einer Gruppe von Deathern auf die Spur, die sich illegal in Avatarkörper transferieren, um den Tod zu erforschen. Ich muss dabei immer an „Flatliners“ denken, den Film aus den 1990ern, in dem fünf befreundete Medizinstudenten herausfinden wollen, wie sich ein Hirntod anfühlt. Mit modernster Technik lassen sie sich in den klinischen Tod versetzen und nach einiger Zeit wieder zurückholen.

In einem weiteren Handlungsstrang versucht der internationale Ermittler Carpentras Skyes derweil, den wiederaufgetauchten Galahad Singh zu verhören, der als erster und einziger die sogenannte Knossos-Anomalie betreten hat. Und die indische Astrophysikerin Sahana Chandra Kapoor fliegt nach London, um an einem mysteriösen Kongress teilzunehmen. Anschließend wird sie in einen Autounfall mit einem sogenannten Crasher verwickelt.

Wie der Titel dieses Bandes schon verrät, liegt der Fokus auf den Thanatonauten. Diese erforschen illegal die Grenze zwischen Leben und Tod. Stasja Tschernow ist so eine Thanatonautin, die mehr über ein mögliches Leben nach dem Tod erfahren möchte. Dabei durchläuft sie immer wieder ein Procedere, um sich selbst zu töten. Für das Verfahren nutzt sie Klonkörper, aus denen sie ihr Bewusstsein anschließend immer wieder neu herunterlädt, um mögliche Erkenntnisse für weitere Trips zu gewinnen.

So oft schon war sie hier gewesen, an der Schwelle zwischen Leben und Tod, im Land der Kimmerer, in den Nebligen Gestaden. Was der seiner weltlichen Sinne beraubte, sterbende Verstand dort erblickte, war eine Halluzination, behaupteten einige. Andere verglichen es mit einem Traum. Beides waren metaphorische Krücken und keine besonders guten. (Auszug E-Book Pos. 1363 von 5495)

Das Worldbuilding wurde bereits in den vorherigen Bänden „Hologrammatica“ und „Qube“ vorgestellt und wird nicht weiter erläutert. Immer noch werden Landstriche mit Hologrammen verschönert, die Grenzen zwischen Leben und Tod verschwimmen, gesteuert durch KI-basierte Programme. Zugleich ist die Menschheit durch ein Virus um die Hälfte reduziert, der Klimawandel konnte nicht aufgehalten werden und der überlebende Rest ächzt unter Hitze und Dürren. Viele Zonen sind unbewohnbar geworden, da die Temperaturen regelmäßig über 50 Grad klettern. Die Klima-KI „Aether“ hat sich selbstständig gemacht und das hat wenige Jahre zuvor zum digitalen Zusammenbruch der Gesellschaft geführt.

Im Prolog erleben wir, wie der zwölfjährige Percival Singh (der Bruder von Galahad Singh, dem Protagonisten aus Band 1) mit seinem Vater eine kleine griechische Insel in der Nähe des Lichtdoms besucht. Geheimnisvoll geht es dort vor und Percy beobachtet seinen Vater und versteht nicht recht, was der dort treibt.

Sein Vater, das hat er inzwischen verstanden, unterhält sich per Holocall mit irgendjemand – auf Chittagonisch, auf einer einsamen Insel, nachdem er zuvor das Vaterunser gebetet hat. Und irgendwie geht es um Weihnachtsbäume. Selbst für Dad ist das arg verrückt. (Auszug E-Book Position 287 von 5495)

Der komplexe Thriller wird aus vier bzw. fünf verschiedenen Perspektiven erzählt, die sich zunächst kaum überschneiden. Das macht es für den Leser nicht leicht, im Lesefluss zu bleiben und die Lektüre gestaltet sich recht anspruchsvoll. Ohne die Kenntnisse der beiden vorherigen Bände würde ich es nicht empfehlen. Durch die vielen Sprünge und Personen erreichen die Figuren nicht genug Tiefe. Man wird in eine Szene hineingeschmissen und ist gleich wieder raus und fühlt sich als Leser außen vor.

Auf der Habenseite stehen ein vielversprechender Prolog, ein Wiedersehen mit Galahad Singh und das, was den Autor für mich auszeichnet. Die Fähigkeit, einen brillant konstruierten Science-Fiction-Thriller mit immensen Einfallsreichtum derart rasant zu erzählen und dann noch lässig und wie selbstverständlich die großen philosophischen Themen der Menschheit zu thematisieren. Und ich genieße immer wieder die filmreifen Action-Szenen und den trockenen Humor in den Dialogen.

Es tauchen viele Fragen auf, die Tom Hillenbrand allerdings unbeantwortet lässt. So bleibt es dem Leser überlassen, welcher Ethik er folgt. Und auch das Ende, in dem die verschiedenen Handlungsstränge miteinander verwoben werden und auf ein spannendes Finale zulaufen, bietet noch viel Potential für weitere Geschichten aus dem Hologrammatica-Kosmos.

 

Fotos und Rezension von Andy Ruhr.

Thanatopia | Erschienen am 13. März 2025 bei Kiepenheuer & Witsch
ISBN 978-3-462-00872-2
384 Seiten | 18.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Andys Rezensionen zu Hillenbrands Romanen „Hologrammatica“ und „Qube

Magdalena Parys | Der Magier

Magdalena Parys | Der Magier

Kowalski beeilte sich, nach Hause zu kommen. Im Bad stellte er seinen Laptop auf einen Schemel, ließ sich eine Wanne ein, in der er eine halbe Ewigkeit zubrachte. Immer wieder spulte er die Aufnahme ein Stück zurück, ließ ab und zu heißes Wasser nachlaufen. Der alte Stöpsel verschloss den Abfluss nicht mehr richtig. Als wäre es ein Bild für diesen Fall, dachte Kowalski tiefsinnig. Dass ständig irgendwo etwas durchsickert und verrinnt. (Auszug S. 386-387)

Der Roman beginnt in Sofia, Bulgarien, 2011. Mit einem Mord. Der ehemalige Fotoreporter Gerhard Samuel betreibt Recherchen und sucht nach Dokumenten zu einem alten Vermisstenfall. 1980 ist der polnische Ingenieur und Oppositionelle Piotr Boszewski bei einem Bulgarienurlaub spurlos verschwunden. Boszewski ist der Mann seiner Lebensgefährtin und Vater von Dagmara Bosch, einer bekannten TV-Journalistin und Moderatorin. Gerhard recherchiert gemeinsam mit Burkhard Seidel, dessen Söhne 1985 beim Versuch die bulgarische Grenze zu überschreiten ums Leben kamen. Beide vermuten, dass es damals nicht mit rechten Dingen zuging, sowohl bei Seidels Söhnen, bei Boszewski und bei einigen anderen. Sie wollen Beweise sammeln, dass damals unter Federführung der Stasi diese Menschen mit Absicht getötet wurden. Ebenfalls bei der Recherche dabei ist der ehemalige Stasi-Mitarbeiter Frank Derwald, seine Rolle bleibt allerdings lange unklar.

In Sofia wird Gerhard zunächst abgewimmelt, doch Derwald spielt ihm Unterlagen und Negative zu. Als er diese entwickelt, erhält er zum ersten Mal einen konkreten Hinweis auf Beteiligung eines Stasi-Offiziers, Christoph Schlangenberger, heute ein einflussreicher Politiker einer populistischen Partei mit guten Chancen auf ein Regierungsamt. Als Gerhard die Brisanz erkennt, will er schleunigst Bulgarien verlassen. Doch er kommt nur in eine Querstraße in der Nähe des Hotels, bricht dort tot zusammen. Seine Erkenntnisse konnte er jedoch noch an Seidel übermitteln und auch die Unterlagen sind noch nicht verloren: Der Mann von der Hotelrezeption soll diese nach Deutschland bringen.

Kurz darauf wird die Berliner Polizei in ein heruntergekommenes Wohnhaus gerufen, das inzwischen von Roma-Familien besetzt wird. Im Bad einer Wohnung ist die brutal verstümmelte Leiche von Frank Derwald gefunden worden. Derwald ist Mitarbeiter von Christoph Schlangenberger, die Ermittlungen werden von oben stark behindert. Kommissar Kowalski wird allerdings von seinem Vorgesetzten Tschapieski trotzdem auf den Fall angesetzt, denn Tschapieski war ein Freund der Familie Boszewski und hat Kenntnis über die Recherchen. Er stellt auch den Kontakt zu Dagmara Bosch her, die von den Unterlagen aus Sofia Kenntnis erlangt hat. Währenddessen versucht Schlangenberger mit Hilfe seiner Securityfirma und seiner rechten Hand Ernesto seine Spuren um jeden Preis weiter zu verwischen.

Die polnische Autorin Magdalena Parys ist gebürtig aus Danzig, lebt aber bereits seit ihrer Jugend Mitte der 1980er in (West-)Berlin und hat dort auch Polonistik und Erziehungswissenschaften studiert. Ihr Debütroman „Tunnel“ erschien 2014 in deutscher Übersetzung. Im gleichen Jahr erschien auch der vorliegende Roman „Magik“ im Original. Er wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt, gewann auch den Literaturpreis der Europäischen Union. Die vorliegende deutsche Übersetzung stammt von Lothar Quinkenstein, der auch schon Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk übersetzt hat.

Magdalena Parys schreibt hier einen Politthriller mit aktuellen (Rechtspopulismus) und historischen Bezügen (Verbrechen der Staatssicherheit). Die Ereignisse in „Der Magier“ sind zwar rein fiktiv, dennoch gab es schätzungsweise hundert Personen, die beim Versuch, die bulgarische Grenze zu überqueren, zu Tode gekommen sind. Und natürlich gab es auch tödliche Aktionen der Staatssicherheit sowohl in der DDR als auch in Polen gegen Oppositionelle. Diese Fakten verarbeitet die Autorin zu einer interessanten Handlung mit Bezügen zum aktuellen Politgeschehen. Es geht auch ums deutsch-polnische Verhältnis und der manchmal schwierige Bezug der Exilpolen zu ihrer Heimat.

Die Handlung wird aus verschiedenen Perspektiven und mit einem Erzähler vorgetragen, der insbesondere Geschehnisse aus der Vergangenheit aus dem Blickwinkel der jeweiligen Person nacherzählt. Das ist allerdings auch mein größter Kritikpunkt an diesem grundsätzlich interessanten Roman: Es wird zu viel drumherum erzählt und eine gewisse Straffung hätte der Geschichte gut getan. Eigentlich ist es ja durchaus ein löbliches Unterfangen, den Figuren Leben und Hintergrund einzuhauchen. Aber hier wird es für meinen Geschmack zu sehr übertrieben. Da werden wichtige Szenen mit viel Hintergrundmaterial unterbrochen und damit zumindest mein Lesefluss etwas gestört. Die Spannungskurve verflacht dadurch ebenfalls manchmal fast völlig, zumindest in der ersten Hälfte des Romans. Das ist etwas schade, denn ansonsten fand ich Personal und Handlung ansprechend, das Thema interessant. So bleibt am Schluss aber trotz der genannten Schwächen dann doch ein überwiegend positives Fazit.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Der Magier | Erschienen am 22.01.2025 im Polente Verlag
ISBN 987-3-9505744-0-1
560 Seiten | 22,- €
Originaltitel: Magik | Übersetzung aus dem Polnischen von Lothar Quinkenstein
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Jochen Brunow | Verdeckte Spuren

Jochen Brunow | Verdeckte Spuren

„Ich sage dir, Berlin wurde auf Wasser gebaut. Schon der Name der Stadt: Morast oder Sumpf. Der Kudamm, dieser Prachtboulevard, früher nichts als ein Knüppeldamm, um aus dem Modder zum Jagdschloss zu kommen, ohne dass die Kutsche stecken bleibt. All dieser Schick, der Glitzer und Glamour, nichts als Tarnung, ein Sumpf ist die Stadt noch immer.“ (Auszug E-Book Pos. 1712).

Der Berliner Ex-Polizist Gerhard Beckmann lebt inzwischen in einem malerischen Tal auf Sardinien. Er war einer der leitenden Beamten in einer Ermittlung zu Korruption in Verbindung mit dem Bau und Betrieb des neuen Berliner Flughafen BER. Doch mittendrin verstarb seine Frau bei einem Autounfall, Beckmann geriet in ein tiefes Loch, begann zu trinken. Er wurde schließlich in den vorzeitigen Ruhestand versetzt, die Korruptionsermittlungen versandeten. Doch zusammen mit einem Kollegen konnte Beckmann einen Teil der Akten retten, zu einer weiteren Auswertung kam es bislang noch nicht.

Auf Beckmann wird der junge aufstrebende Journalist David Richter aufmerksam, er besucht ihn zu einem Interview auf Sardinien. Schließlich verabreden Beckmann, Richter und dessen Zeitung eine weitere Zusammenarbeit. Richter beteiligt sich bei der Aktendurchsicht, doch konkrete Ergebnisse lassen weiter auf sich warten. Da wird Beckmann in seinem Haus auf Sardinien brutal überfallen, seine Haushälterin wird dabei lebensgefährlich verletzt. Als auch auf die Akten in einer angemieteten Wohnung ein Bombenanschlag verübt wird, bei dem Richter nur durch viel Glück nahezu unverletzt bleibt, ist klar, dass jemand weitere Recherchen mit aller macht verhindern will.

Der Roman „Verdeckte Spuren“ erschien bereits vor ein paar Jahren als Book on Demand. Nachdem Autor Jochen Brunow letztlich doch einen Verlag gefunden hatte, erschien zunächst „Die Chinesin“, ebenfalls mit Ex-Polizist Beckmann als Hauptfigur. Dieser Kriminalroman schaffte es sogar auf die Krimibestenliste. Nun erscheint „Verdeckte Spuren“ als Nachfolger noch einmal, dieses Mal über den Verlag. Jochen Brunow arbeitete bislang als Filmkritiker, Drehbuchautor und Dozent an Akademien fürs Drehbuchschreiben. Die vorliegenden Romane um Gerhard Beckmann sind seine ersten Kriminalromane.

Dabei merkt man den Hintergrund des Autors dem Buch auf jeden Fall an. Figuren und Dialoge wirken auf den Punkt, vor allem aber die verschiedenen Details und Einzelheiten bei Landschaft, Setting und „Ausstattung“ machen den Roman rund. Ein paar Beispiele: Die Cowboystiefel mit Metallapplikationen, das Einzige, woran sich Beckmann bei dem Mann, der ihn überfallen hat, detailliert erinnern kann. Etwas später besucht Beckmann ein sardinisches Dorf, das einst bei Spaghetti-Western als Kulisse diente, und entdeckt vermeintlich die Stiefel seines Angreifers in der Menschenmenge. Oder die körperliche Reaktion des Journalisten Richter, der nach dem Bombenanschlag von seiner Freundin, einer OP-Schwester, versorgt wird und dem nicht nur buchstäblich die Nerven flattern. Oder die umstrittene Software von Palantir zur Datenanalyse, die hier letztlich zum Einsatz kommt und tatsächlich etwas zu Tage fördert.

Er ging langsam und vorsichtig. Bewusst sog er den aromatisch herben Duft der Macchia ein. […] Er war froh, wieder im Tal zu sein. Aber etwas war anders. […] Der Angriff aus dem Nichts hatte das Tal kontaminiert. Es hatte eine Gewalttat gegeben. Der Einbruch in seine Privatsphäre legte mehr als einen Hauch von Unsicherheit über das gesamte Anwesen. Beckmann hatte die Hoffnung, das würde sich bald wieder geben. Aber unbewusst war ihm klar, er würde möglicherweise dafür kämpfen müssen. (Auszug E-Book Pos. 631)

In „Verdeckte Spuren“ setzt der Autor Jochen Brunow die Spannungsmomente und vor allem die Spitzen sehr dosiert ein. Die wahre Leistung liegt in der Gesamtkomposition. Bei den Schauplätzen fasziniert vor allem Sardinien. Die Figuren sind bis in die Nebenrollen eingehend und interessant beschrieben. Alles in allem ein empfehlenswerter Kriminalroman für Kenner, der weniger über die Spannung und das Tempo, als mehr über Atmosphäre, Figuren und Details kommen.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Verdeckte Spuren | Erschienen am 26.03.2025 im Ars Vivendi Verlag
ISBN 987-3-7472-0656-0
320 Seiten | 18,- €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Liz Moore | Der Gott des Waldes

Liz Moore | Der Gott des Waldes

Wenn das sein Junge wäre, der verschwunden war und mitten in der Nacht in dem kalten Wald herumirrte, vielleicht sogar verletzt irgendwo lag, dann wäre er, Carl, immer noch da draußen und würde nach ihm suchen. Er würde nicht aufhören, Bears Namen zu rufen, bis er selbst den Geist aufgab. (Auszug E-Book Pos. 2131 von 6988)

Hoch oben an der US-amerikanischen Ostküste in den dichten Wäldern der Adirondack Mountains liegt ein riesiges Naturreservat, bestehend aus einem dunklen Waldgebiet und einem großen See. Seit Generationen im Besitz der schwerreiche Familie Van Laar, die mitten im Reservat ein Sommer-Camp für Kinder der Oberschicht errichtet haben. Das elitäre Ferienlager bietet viele Aktivitäten in der Natur mit Lagerfeuer und nächtlichen Survivaltrainings im Wald.

Im Sommer 1975 verschwindet die 13-jährige Barbara aus dem Ferienlager. Die Betreuerin Louise findet morgens ihr Bett verlassen vor. Sie hat ein Problem, denn Barbara ist nicht nur die Tochter der Gründer-Familie Van Laar, die erstmalig am Camp unweit des imposanten Anwesens teilnimmt, sondern auch die Schwester von Bear, dem Jungen, der vor 14 Jahren spurlos verschwand. Zufall oder gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Verlust der beiden Geschwister, die beide während der jährlich stattfindenden, einwöchigen Party der van Laars verschwanden? Eine großangelegte Suchaktion läuft an. Hat es etwas mit dem Serienmörder Jacob Sluiter zu tun, der gerade jetzt aus dem Gefängnis ausbrechen konnte?

Die Suche nach der verschwundenen Barbara van Laar und die Ermittlungsarbeiten über mehrere Tage hinweg nehmen einen großen Raum ein. Empathisch und mit präzisem Blick schildert Liz Moore ein Familiendrama, das seinen Anfang schon viele Jahre vor dem aktuellen Verschwinden Barbaras nimmt. In Rückblicken erfahren wir nicht nur von dem traurigen Schicksal des 5-jährigen Bear van Laar, sondern gehen auch ins Jahr 1950 zurück, als seine damals 17-jährige Mutter Alice auf einem Debütantinnenball den reichen Peter van Laar kennenlernt. Diese Ereignisse nehmen eine zentrale Funktion in der Geschichte ein.

Der Plot wird nicht linear sondern aus mehreren Zeitebenen erzählt. Gekonnt und mit einem verlässlichen Gespür für Timing werden die Perspektiven gewechselt und der Überblick behalten. Man muss konzentriert bleiben, der Roman ist aufgrund des großen Personentableaus und vielen Zeitebenen komplex, aber nie kompliziert. Die Kapitel werden jeweils mit einem Namen und einem Zeitstrahl versehen, was die Zuordnung erleichtert, die Spannung aber kontinuierlich nach oben schraubt. Das ist souverän und mit großer Erzählfreude gemacht. Liz Moore arrangiert die Berichte diverser Figuren und verleiht dabei jedem seine eigene Stimme, Perspektive und Geschichte. Von der jungen Ermittlerin Judyta Luptack, die sich in der von Männern dominierten Kriminalpolizei durchsetzen muss bis hin zum Serienmörder Jacob Sluiter, von den Bewohnern des naheliegenden Dorfes bis hin zu den Campbewohnern und Angestellten der Familie Van Laar. Die Autorin nimmt sich viel Zeit für ihre Protagonisten, macht sie vielschichtig und zeigt mir ihre inneren Konflikte. Jede Figur hat ein weiteres Detail zum Gesamtbild hinzuzufügen, und je weiter die Erzählung vorangetrieben wird, desto neugieriger wird man und je mehr klebt man an den Seiten. Ein Roman, der für mich von Seite zu Seite immer besser wird, je mehr man erfährt.

„Mir fällt nur ein, dass niemand in dieser Familie das Mädchen mag, Barbara. Vernachlässigung würde ich das nennen. Bevor sie runter ins Ferienlager gegangen ist, ist sie immer in die Küche gekommen, um sich was zu essen zu holen. Hat immer ganz verloren gewirkt, und das in ihrem eigenen Zuhause…“. (Auszug Pos 4450 von 6988)

Ich mochte auch, wie subtil Moore hier gesellschaftliche Kritik verwebt. Alle Personen stellen unterschiedliche gesellschaftliche Schichten dar. Es wird schnell klar, dass reiche Familien wie die van Laars und ihre Freunde sich mit Geld eine Menge Macht erkaufen können, auch Verschwiegenheit. Es geht um die Privilegien des Geldadels, deren Skrupellosigkeit und Mangel an Empathie. Es geht auch um Klassenunterschiede, soziale Ungleichheiten und um die Rolle der Frau in der Gesellschaft der 50er und 70er Jahre.

Manchmal hatte Alice das Gefühl, dass sie so schnell einen Jungen bekommen hatte (und dann auch noch einen so wunderbaren), war das Einzige an ihr, womit ihr Mann zufrieden gewesen war. (Auszug Pos. 1577 von 6988)

Durch die bildhafte Sprache waren das Feriencamp und das raue Klima der dichtbewaldeten Landschaft vor meinen Augen lebendig, das Camp in mitten des Gebirges ein geniales Setting. „Long Bright River“ war ein Highlight für mich und obwohl die Themen in „Der Gott des Waldes“ nicht ganz neu sind, sorgte der mitreißende Schreibstil dafür, dass ich das Buch, welches auch auf der Sommerleseliste 2024 des ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama stand, nicht aus der Hand legen konnte. Ein richtig guter Schmöker, wie ich ihn schon lange nicht mehr gelesen habe.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Der Gott des Waldes | Erschienen am 28. Februar 2025 im Verlag C.H. Beck
ISBN 978-3-406-82977-2
590 Seiten | 26,00 Euro
Originaltitel: The God of the Woods | Übersetzung aus dem Englischen von Cornelius Hartz
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Die Meinung von Marius Müller auf buch-haltung.com zu „Der Gott des Waldes“

Johannes Groschupf | Skin City

Johannes Groschupf | Skin City

„Meine Frau hatte mal einen Bullterrier“, sagte Steinmeier. „Wenn der sich in etwas verbissen hatte, dann konnte er nicht mehr loslassen. Ums Verrecken nicht. Viertelstunde, halbe Stunde, ganz egal, der hat nicht losgelassen. Du konntest ihn mit einem Gartenschlauch abspritzen, das hat er überhaupt nicht gemerkt. Dabei war das eigentlich ein netter Hund.“
„Ich bin auch nett“, sagte Romina. „Echt total nett.“ (Auszug S.143)

Im heißen Sommer 2024 wird Berlin von einer Einbruchsserie heimgesucht. Die Täter gehen am hellichten Tag in verlassene Wohnungen und gehen äußerst professionell vor. Zum Teil des Ermittlungsteams gehört auch die Polizistin Romina Winter. Sie wird allerdings von einer persönlichen Sache abgelenkt: Ihre Schwester wird kurzzeitzig vermisst und wird dann zusammengeschlagen aufgefunden. Wer hat ihr das angetan?

Zur gleichen Zeit kommt Jacques Lippold aus dem Gefängnis frei. Er ist ein Finanzbetrüger, hat zwei Jahre gesessen. Nun versucht er wieder Fuß zu fassen. Bei einer Kunstauktion lernt er die Anwältin Beate kennen, durch die er in Kunstkreisen als Berater und Vermittler erneut betrügerische Deals einleitet. Doch er hat auch noch eine Rechnung aus dem Gefängnis offen, die er unbedingt begleichen will.

„Ich sag dir, was das heißen soll“, sagte Lippold. „Das soll heißen, dass ich mich mehr in Charlottenburg sehe als in Heerstraße-Nord. In Charlottenburg hast du Leute mit Geld. Das alte West-Berlin. Die haben im Grunde noch gar nicht mitgekriegt, dass die Mauer gefallen ist.“ (Auszug S.112)

Die Story wird durch drei Personen und Perspektiven vorgetragen. Da ist zum einen Koba, der georgische Einbrecher. Sehr versiert bringt er mit seiner Crew seinen Hintermännern viel Kohle ein. Doch eigentlich träumt er davon, nach Kanada auszuwandern und sein kriminelles Leben hinter sich zu lassen. Doch natürlich ist ein Ausstieg aus diesem organisierten Verbrechen alles andere als einfach. Als zweites Jacques Lippold, ein Betrüger in großem Stil. Kaum draußen aus dem Knast hat er schnell für sich das nächste lukrative Netzwerk ausgemacht und lässt seine Überredungskunst, seinen Charme und sein Improvisationstalent spielen. Doch in ihm schlummert noch eine andere Seite. Aufbrausend, gewalttätig. Im Gefängnis hat er mit seiner Patek Philippe einen auf dicke Hose gemacht – bis sie ihm geklaut wurde. Der Dieb ist vor Entdeckung entlassen worden, doch nun sinnt Lippold auf Rache. Zuletzt Romina, die bereits in den Vorgängerromanen vorkommt. Als Roma ist sie Mitglied eines großen Familienclans, der mit ihrer Berufswahl durchaus hadert, kam doch ihr Vater auch schon mit dem Gesetz in Konflikt. Sie ist eine äußerst engagierte Polizistin, doch neben der Einbruchsserie will sie vor allem erfahren, wer ihre Schwester überfallen hat und möglicherweise die Familie bedroht.

Autor Johannes Groschupf ist seit dem Beginn seiner Berlin-Thriller („Berlin Prepper“ erschien 2019) ein gefragter Mann im Genre und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. „Skin City“ ist nun der vierte Roman in dieser Reihung (eine Reihe ist es nicht), die vor allem die Milieus in Berlin in den Mittelpunkt der Betrachtungen rückt. Johannes Groschupf verarbeitet nach eigener Aussage eigene Begegnungen in der Stadt, ohne es zu sehr auf gesellschaftliche Relevanz anzulegen. Diesem Konzept bleibt er auch in „Skin City“ treu. Das ist wie schon in der Vorgängerromanen ganz ordentlich gemacht, vor allem die Dialoge, die sehr unterschiedlichen Schauplätze und der Blick auf Berlin sind wie immer gelungen. Dennoch konnte mich der Autor nicht ganz so begeistern wie etwa bei „Berlin Heat“ oder „Die Stunde der Hyänen“. „Skin City“ hat für mich nicht die Wucht der Vorgänger, bleibt zu gedämpft in Tempo und Relevanz, hätte noch tiefer gehen können. Vor allem das Ende, in dem der Autor die drei Hauptpersonen und die Handlungsstränge zusammenführt, kam mir zu abrupt vor und konnte mich nicht völlig überzeugen. Nichtsdestotrotz bleibt Johannes Groschupf ein relevanter Autor, um die Seele Berlins in einen Kriminalroman unterzubringen.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Skin City | Erschienen am 23.02.2025 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-47449-5
234 Seiten | 17,- €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Gunnars Rezensionen zu „Berlin Heat“ und „Die Stunde der Hyänen“