Kategorie: Dystopie

Diane Cook | Die neue Wildnis

Diane Cook | Die neue Wildnis

In ihrem Debüt-Roman versetzt uns die in Brooklyn lebende Autorin Diane Cook in eine nicht allzu weit entfernte Zukunft in Amerika. Klimawandel, Überbevölkerung und Smog erschweren das Leben in der Stadt und aufgrund der immensen Luftverschmutzung leiden besonders die Kinder zunehmend unter lebensbedrohlichen Atemwegserkrankungen. Aus Sorge um ihre 5-jährige todkranke Tochter Agnes nimmt Bea mit ihrem Mann Glen an einem Regierungsprojekt teil. Zwanzig Pioniere dürfen in einem staatlich geschützten Nationalpark vor den Toren der Stadt leben. Bei dem Experiment müssen sie sich mit Hilfe eines Handbuchs an strenge Verhaltensregeln halten und sich regelmäßig an bestimmten Posten einfinden. Sie dürfen sich keine Heimat aufbauen sondern müssen autark in der unberührten Wildnis ein nomadisches Leben führen. Besonderes Augenmerk wird darauf gelegt, dass die Gruppe nicht zu viel in die Natur eingreift oder Spuren hinterlässt. Abgeschnitten von jeglichen Annehmlichkeiten der Zivilisation sind die Ranger die einzige Verbindung zur Außenwelt, die die Einhaltung der strengen Regeln überwachen oder neue Anweisungen geben.

Zurück zur Natur
Zu Beginn der Geschichte sind wir bereits seit vier Jahren in der Wildnis. Das hat mich überrascht, denn ich hätte mir ausführlichere Beschreibungen über die Situation in den Städten gewünscht. Die Welt außerhalb der Wildnis bleibt aber während des ganzen Buches nur vage fassbar. Bei dem dramatischen und verstörenden Einstieg begleiten wir Bea bei einem sehr intimen Moment wobei mich ihr raues Verhalten mit dieser erbarmungslosen Situation erschreckt hat. Es wird klar, dass während des Überlebenskampfes die Grenzen zwischen Tier und Mensch zu verschwimmen scheinen. Die Rückbesinnung sowie die überlebensnotwendige Anpassung an die Natur lassen eher archaische Empfindungen und Sichtweisen hervortreten. Als bei einer gefährlichen Flussüberquerung eine Mitstreiterin in den reißerischen Fluten ertrinkt, wird nur um das wertvolle Seil getrauert. Oder als ein Mitstreiter von der Klippe stürzt, wird nicht nachgesehen, ob man ihm noch helfen kann, es wird weitermarschiert. Mich hat irritiert, dass diese Abstumpfung offenbar schon nach vier Jahren und nicht nach Generationen eintritt.

Nur daran erkannte Bea, dass der Unfall sie erschreckt hatte. Wie ein Tier erstarrte Agnes, wenn sie Angst hatte, und rannte bei Gefahr weg. Bea stellte sich vor, dass sich das ändern würde, wenn Agnes größer wurde. Möglicherweise fühlte sie sich dann weniger wie Beute und mehr wie ein Raubtier. (Auszug Seite 17/18)

Der Autorin geht es in ihrem Roman nicht so sehr um die drohende Katastrophe von außen durch das Klima, Umwelt und den Staat oder um die Gefahren, die ein Leben in der wilden Natur mit sich bringt. Es geht ihr primär um die Dynamik zwischen den einzelnen Gruppenmitgliedern und die Entwicklung des sozialen Machtgefüges. Das Verhalten der Gemeinschaft erinnert an das Verhalten wilder Tiere. Hinzu kommt eine komplizierte Mutter-Tochter-Beziehung zwischen Bea und Agnes. Das hätte auch spannend werden können, war es aber leider für mich nicht. Der Erzählstil ist passend zum Setting emotionslos und distanziert und dieser Ton bleibt das ganze Buch über bestehen. Dadurch fühlte ich mich die ganze Zeit nur wie ein unbeteiligter Beobachter einer Studie und war nie nah an den Charakteren. Ein großer Kritikpunkt meinerseits ist, dass diese allesamt sehr blass und mir bis zum Schluss vollkommen fremd blieben. Ihre Handlungen konnte ich nur partiell nachvollziehen und dann war es teilweise sehr abstoßend und auch schmerzhaft den Geschehnissen zu folgen.
Ein weiteres Manko war für mich der Umgang der Autorin mit der Zeitabfolge. Während man manchmal über mehrere Kapitel nur einen Tag abhandelt, erfährt man an anderen Stellen in einen kurzen Nebensatz, dass die letzten Seiten einen Zeitraum von mehreren Jahren umfassen, da die Gruppe Monate braucht, um von einem Ort zum anderen zu kommen. Das verdeutlicht, dass für ein Leben im Einklang mit der wilden Natur lediglich der Tag-Nacht-Zyklus und die Jahreszeiten relevant sind. Für mich war das total verwirrend, denn das Gespür für die Zeit, wie wir es gewohnt sind, geht völlig verloren.

Spielfiguren auf einem unbekannten Spielfeld
Trotz ihrer literarischen Fähigkeiten, die ich der Autorin nicht absprechen möchte, denn sie erzeugt beklemmende Bilder, hatte sie mich irgendwann in dieser zähen Story verloren und ich habe nur noch quer gelesen. Über weite Strecken kommt die Geschichte nicht voran und tritt auf der Stelle. Leider bietet auch das Ende auf meine zahlreichen Fragen und Vermutungen, die mich beschäftigten, keine zufriedenstellenden Antworten. Durch das völlige Ausbleiben von Informationen erfährt die Leser*in genau wie die umherwandernde Gemeinschaft nichts über die Geschehnisse in den übervölkerten Städten, über die Hintergründe oder die Erkenntnisse des wissenschaftlichen Forschungsprojekt oder das merkwürdige Verhalten der Ranger. Die Gruppe wirkt auf mich wie Spielfiguren, die von den Rangern auf ein unbekanntes Spielfeld gesetzt werden um dort nach unbekannten Regeln agieren sollen. Warum denkt niemand daran, das Projekt abzubrechen und in die Zivilisation zurückzukehren? Agnes ist ja inzwischen wieder gesundet, da die gute Luftqualität sich positiv auf ihren Gesundheitszustand ausgewirkt hat. Und wie groß ist dieses Areal?

Nominierung für den Booker Prize 2022
Die edle Aufmachung des Buches mit der goldenen Schrift auf dunkelgrünem Grund war für mich sehr vielversprechend. Die alles verschlingenden Blätter auf dem Cover lassen an Lebensadern aber auch an einen tropischen Urwald denken. Ich hatte dadurch ganz falsche Erwartungen, denn die Geschichte spielt mehr in einem Wüstenszenario. Ich lese eigentlich gerne Dystopien, aber ich brauche immer einen kleinen Hoffnungsschimmer, ein Licht am Ende des Tunnels. Der Überlebenskampf der Gemeinschaft wird emotional eher kühl und sachlich geschildert. Diane Cook romantisiert nicht in ihrem für den renommierten Booker Prize 2022 nominierten Roman und vielleicht war das auch mein Hauptproblem.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Die neue Wildnis | Erschienen am 09.05.2022 im Heyne Verlag
ISBN 978-3 45332-158-8
544 Seiten | 16,- €
Originaltitel: The New Wilderness | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Astrid Finke
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Abgehakt | Kurzrezensionen Juni 2022

Abgehakt | Kurzrezensionen Juni 2022

Unsere Kurzrezensionen zum Ende Juni 2022

 

 

Kotaro Isaka | Bullet Train

Der japanische Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen rast von Morioka nach Tokio. Mit an Bord sind 5 Killer, die unterschiedlicher nicht sein können, jeder mit einem speziellen Auftrag. Da ist das ungleiche Killerduo Lemon und Tangerine. Die beiden „Zitrusfrüchte“ sitzen zusammen mit dem Opfer einer Entführung samt Lösegeld und wollen den Sohn des gefährlichsten Unterweltbosses Tokios, Minegeshi Junior, heil nach Hause bringen. Doch Murphys Gesetz schlägt zu: Zuerst kommt der Koffer mit dem Geld abhanden, dann verstirbt auch noch das Entführungsopfer auf mysteriöse Weise. Nanao wiederum, ein junger Killer, bekam telefonisch den Auftrag, den Koffer an sich zu nehmen und umgehend an der nächsten Station wieder auszusteigen. Da „Der Marienkäfer“ allerdings der größte Pechvogel aller Zeiten ist, endet der einfach klingende Job im Chaos und es geht schief, was schief gehen kann. Außerdem befindet sich der ehemalige Auftragskiller Yuichi Kimura im Zug, um sich zu rächen, weil man seinen Sohn Wataru vom Dach eines Kaufhauses gestoßen hat und dieser seitdem im Koma liegt. Schuld daran soll der erst 14-jährige Schüler Oji sein, der sich ebenfalls im Shinkansen aufhält. Der harmlos wirkende „Prinz“ ist ein richtiger Psychopath mit krimineller Energie, der es sehr gut versteht, kaltblütig aber auch mit absoluter Empathielosigkeit andere Menschen zu manipulieren.

Während der Zug seinem Endziel entgegen rauscht, kommen sich die Ganoven selbstverständlich gegenseitig in die Quere und alles spitzt sich immer mehr zu. Spannung entsteht auch, da das Geschehen auf den begrenzten Raum der Zugabteile eingeengt ist und die Gestalt eines Kammerspiels annimmt. Die Geschichte kann richtig Spaß machen, wenn man sich auf die völlig absurden Wendungen und abgedrehten Todesfälle einlässt. Besonders im letzten Drittel nimmt die Handlung noch mal richtig Fahrt auf und konnte mich recht gut unterhalten. Die Handlung, wie auch die Figuren sind extrem überzeichnet. Ich empfand es fast als Parodie auf das Genre. Sehr überrascht haben mich die angeblich besten Profikiller der Branche, Lemon und Tangerine, die doch oft wie Vollidioten agierten. Viele Rückblenden, die für Erklärung sorgen sollen, bremsen immer wieder den Hochgeschwindigkeitsthriller aus. Für mich ein durchschnittlicher Thriller von einem in Japan preisgekröntem, hierzulande aber noch relativ unbekanntem Autor. Bullet Train ist der erste ins Deutsche übersetzte Roman von Kotaro Isaka.

Im Juli kommt die Verfilmung mit Brad Pitt und Sandra Bullock in die Kinos, und als Film kann ich mir die Story ganz gut vorstellen, auch weil die Szene, die mir im Buch am besten gefallen hat, tatsächlich die ist, die im Trailer gezeigt wird.

 

Bullet Train | Erschienen am 02.04.2022 im Hoffmann und Campe Verlag
ISBN 978-3-45501-322-1
384 Seiten | 22,- €
Originaltitel: マリアビートル (Mariabitoru) (Übersetzung aus dem Japanischen von Katja Busson)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3 von 5
Genre: Thriller

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

 

 

Horst Eckert | Das Jahr der Gier (Band 3)

In der Düsseldorfer Altstadt wird ein britischer Journalist Opfer eines brutalen Angriffs. Der Mann ist ein alter Bekannter der Kriminalrätin Melia Adan, weshalb sie diesen Vorfall näher betrachtet als vielleicht üblich. Kurz darauf wird die Leiche einer jungen Frau in einem Wäldchen am Stadtrand gefunden, inszeniert als Sexualmord. Doch Hauptkommissar Vincent Veih und sein Team vermuten schnell ein anderes Motiv. Die Spur in beiden Fällen führt schließlich in die Nähe von München zum aufstrebenden Finanzdienstleister Worldcard AG.
Dort hat gerade der Ex-Polizist Sebastian Pagel einen neuen Job beim COO von Worldcard, Marek Weiß, erhalten. Pagel war zum Sündenbock auserkoren worden, als ein wichtiger Zeuge aus Syrien unter Polizeischutz vergiftet wurde. Der Job beim neuen Börsenschwergewicht Worldcard und dessen Macher Weiß scheint geeignet, das Selbstbewusstsein wieder aufzupäppeln. Doch Pagel ist alarmiert, als plötzlich im Dunstkreis von Weiß Personen auftauchen, die er schon aus seinem Vorgängerjob kennt.

Mit „Das Jahr der Gier“ setzt Horst Eckert die Reihe um die Düsseldorfer Polizisten Adan und Veih fort. Wie gewohnt greift der Autor wieder aktuelle politische und gesellschaftliche Ereignisse auf – in diesem Fall der Wirecard-Skandal, der bis in höchste politische Kreise reicht, aber bislang erstaunlich wenige „Opfer“ gefunden hat. Eckert erzählt gewohnt präzise, in kurzen Kapiteln mit ansteigender Spannung und wechselnden Perspektiven. Er behält das übliche Figurenpersonal bei, auch bei den Antagonisten tauchen alte Bekannte in neuer Funktion wieder auf. Das ist wie gewohnt eine überzeugende Mischung aus Fakten und Fiktion. Eckert bleibt der relevante Autor für Pageturner-Politthriller aus Deutschland.

 

Das Jahr der Gier | Erschienen am 08.03.2022 im Heyne Verlag
ISBN 978-3-453-42637-5
430 Seiten | 13,00 Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3,5 von 5
Genre: Politthriller

 

 

Vladimir Sorokin | Der Tag des Opritschniks

Russland im Jahre 2027: Das Land hat sich vollends vom Westen abgeschottet, lebt nur noch von seinen Energieexporten und pflegt lediglich noch Beziehungen zu China. Alleinherrscher ist der Gossudar. Er hält sich eine Mischung aus Geheimpolizei und Leibgarde – die Opritschniki. Sie werden eingesetzt, um gegen Oppositionelle und vor allem vermeintliche Abtrünnige aus der Schicht der Machthaber und Oligarchen mit aller Härte vorzugehen. Einer dieser Opritschniki ist Andrej Danilowitsch Komjaga. Ihn begleitet der Leser durch einen typischen „Arbeitstag“ – vom brutalen Mord an einem unliebsam gewordenen Adelsmann und der Vergewaltigung dessen Frau am Morgen über einen Korruptionsdeal am Mittag bis hin zu gemeinsamen Orgien am Abend.

Vladimir Sorokin ist einer der bekanntesten zeitgenössischen russischen Autoren und Dramatiker, der auch deutlich gegen die politische Spitze in seinen Werken Stellung bezieht, unter anderem gehörte er zu den Unterzeichnern eines Appells, die Wahrheit über den Krieg in der Ukraine zu verbreiten. „Der Tag des Opritschniks“ erschien bereits im Jahr 2006 und nimmt in Form einer Dystopie mit satirischen Elementen die Entwicklung Russlands bis heute in beängstigender Weise voraus. Sein Russland des Jahres 2027 hat sich international weitgehend isoliert und bei allerlei modernen Einsprengseln kulturell einen Rückschritt in die Zarenzeit unternommen. Die Macht des väterlich beschriebenen Gossudaren wird durch die Opritschniki in einer äußerst brutalen und teilweise obszönen Weise gewahrt. Der Ich-Erzähler Komjaga bedient sich dazu einer schwülstigen, pathetischen Sprache. Die Taten der Opritschniki und deren Machtfantasien sind dabei sehr drastisch beschrieben. Ein sehr bedrückendes Werk mit vielen Bezügen zum aktuellen und historischen Russland, dabei immer wieder mit bösem satirischen Witz, bei dem das Lachen buchstäblich im Halse stecken bleibt.

 

Der Tag des Opritschniks | Erstmals erschienen 2006
Die Neuauflage erschien am 12.04.2022 im Verlag Kiepenheuer & Witsch
ISBN 978-3-462-00410-6
224 Seiten | 13,- €
Als E-Book: ISBN 978-3-462-30105-2 | 9,99 €
Originaltitel: День опричника (Übersetzung aus dem Russischen von Andreas Tretner)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 4,0 von 5,0
Genre: Dystopie

 

 

Martin Krist | Wunderland (Band 8)

Der Berliner Kommissar Paul Kalkbrenner wird ungewöhnlicherweise nach Potsdam wegen eines Leichenfunds gebeten. Die im dortigen Wertstoffhof gefundene männliche Leiche stammt aber aus dem Bioabfall eines Berliner Abholbezirks. Die Identität des Toten ist allerdings nur schwer zu klären, bis ein Hinweis auftaucht, dass der Tote in einem privaten Theater mitspielte. Dort war der Tote im Ensemble nicht gerade beliebt, Untreue, Affären, Streitigkeiten gab es unter den Laienschauspielern. Aber reicht das schon für ein Mordmotiv?

Währenddessen hat die Potsdamer Kommissarin Jamina Stark den Tote vom Wertstoffhof an die Berliner Kollegen abgegeben, dafür muss sie allerdings einen privaten Schicksalsschlag hinnehmen: Ihr Bruder wird tot mit einer Überdosis aufgefunden. Dabei war er doch seit Monaten clean und auf einem guten Weg. Jamina kann sich mit der offiziellen Version einer selbstverschuldeten Überdosis nicht abfinden und recherchiert auf eigene Faust weiter. Parallel erzählt der Autor die tragische Geschichte eines Geschwisterpaares, deren Eltern bei einem Autounfall ums Leben kommen und die nun in ein kirchliches Kinderheim kommen und dort Missbrauch und Demütigung erfahren. Nach und nach schält sich heraus, was diese drei Stränge miteinander zu tun haben.

Autor Martin Krist ist erfolgreicher Selfpublisher und Vielschreiber. Seine Reihe um Kommissar Kalkbrenner umfasst bereits neun Bände (inkl. Eines Kurzgeschichtenbands). Der aktuelle (reguläre) 8.Band „Wunderland“ erzählt im Hintergrund eine sehr bedrückende Geschichte von vernachlässigten Heimkindern und sexuellem Missbrauch und wie dies das ganze Leben der Betroffenen prägt. Das Buch ist zwar als Thriller betitelt, lässt sich dafür aber im Aufbau und bei den Figuren ziemlich viel Zeit. Das geht zwar auf Kosten der Spannung, tut dem Gesamtwerk aber insgesamt ganz gut. Gut gefiel mir auch das Spiel des Autors mit den Zeitebenen, sodass selbst ein versierter Krimileser manches, aber längst nicht alles vorhersehen konnte. Ein wirklich ordentlicher Krimi.

 

Wunderland | Erschienen am 11.04.2022 im Selbstverlag (R&K)
ASIN: ‎ B09TJCN7F6
535 Seiten | 22,99 € (gebunden) | 12,99 € (Taschenbuch) | 0,99 € (E-Book)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3,5 von 5
Genre: Krimi

 

Rezensionen und Fotos 2-4 von Gunnar Wolters.

Ling Ma | New York Ghost

Ling Ma | New York Ghost

Nach dem ENDE kam der ANFANG. Und am ANFANG waren wir acht, dann neun – das war ich -, eine Zahl, die nur abnehmen würde. Wir fanden einander, nachdem wir aus New York in die sichereren ländlichen Gefilde geflohen waren. Das hatten wir so in Filmen gesehen, auch wenn niemand sagen konnte, in welchen genau. Vieles verlief nicht so, wie wir es von der Leinwand kannten. (Auszug Romananfang)

Ling Mas bereits 2018 in den USA erschienenes Debüt erzählt von einem fiktiven Virus, der sich durch Globalisierung von Asien ausgehend schnell über den Erdball ausbreitet. Das aus China eingeschleppte sogenannte Shen-Fieber wird von Pilzsporen ausgelöst, die in die Atemwege gelangen. Die Infizierten sind dazu verdammt, bewusstlos gefangen in den immer gleichen Routinen ihres Lebens dahinzuvegetieren, bis sie schließlich verhungern. Der Verlauf ist meist tödlich, eine Heilung gibt es bisher nicht. Einige wenige Menschen bleiben verschont. Eine davon ist die Ich-Erzählerin Candace Chen.

Ein tödlicher Virus legt die US-Metropole lahm
In New York erlebt Candace, wie das tödliche Fieber über die Metropole hereinbricht, wie Geschäfte schließen, die U-Bahnen stillstehen und schließlich die Menschen fliehen. Seit einigen Jahren arbeitet sie im Verlagswesen und ist zuständig für die Produktion von Bibeln. Um die Herstellungskosten niedrig zu halten, wurde der Druck in Billiglohn-Länder im südlichen China ausgelagert. Die regelmäßigen Dienstreisen nach China nutzt Candace zu hemmungslosen Shoppingtouren in Hong Kong. Ihre Vorgesetzten überreden sie mit der Aussicht auf Beförderung, als Letzte die Stellung im Büro zu halten. So bleibt Candace in dem großen Büroturm in Manhattan und erledigt pflichtbewusst ihre eintönige Arbeit, obwohl diese ihr nie viel bedeutet hat. Vielmehr gibt die alltägliche Routine ihr Halt und sie benötigt scheinbar die auferlegten Rituale, um irgendwie weiterzumachen. Ihre Leidenschaft ist die Fotografie und so streift sie nach der Arbeit ziellos durch die fast ausgestorbenen Straßen von New York City und hält in Fotos den Zustand der sich immer mehr verändernden Stadt fest. Indem sie auf ihrem anonymen Blog NY Ghost diese Aufnahmen postet, ist sie für viele Menschen die einzige, die die aktuellen Entwicklungen dokumentiert.

Aufgrund des Klappentextes hatte ich erwartet, dass dieser Erzählstrang im Vordergrund stehen würde, aber das nimmt nur einen kleinen Teil der Geschichte ein. In Rückblicken erfahren wir, wie Candace als 6-jährige mit ihren Eltern aus China emigriert ist. Hier ist der Roman eine interessante Migrationsgeschichte und gewährt Einblicke in die Einwanderungsprobleme der Familie Chen. Die Eltern hofften auf ein besseres Leben und tun alles, um sich der neuen Kultur anzupassen sowie sich in der amerikanischen Arbeitswelt zurechtzufinden. Besonders die Mutter kämpft mit der Rolle der migrantischen Ehefrau, wirkt wie zerrissen zwischen den kapitalistischen Verlockungen und dem Wunsch, die eigenen Wurzeln nicht zu verlieren. Vielleicht greift die Autorin auch auf eigene Erfahrungen zurück, denn hier ist der Roman richtig stimmig und bewegend. Candace schlingert irgendwie plan- und orientierungslos durch ihr Leben. Sie studiert Kunst und lebt nach dem frühen Tod ihrer Eltern in einem kleinen Kellerappartement in New York, verliebt sich in den Nachbarn und verliert sich in den Routinen ihres Jobs und im Shopping. Ling Ma trifft den richtigen Ton um das Lebensgefühl der Mittzwanziger in einer Großstadt zu beschreiben, die Suche nach Liebe und Geborgenheit, den Einstieg in die Arbeitswelt, Enttäuschungen und Frustrationen.

Flucht aus New York
Irgendwann muss auch die junge Frau fliehen und schließt sich einer Gruppe Überlebender an. Die Truppe hat ihre eigenen, fast sektenähnlichen Regeln und wird von dem IT-Techniker Bob angeführt. Der selbsternannte Chef will sie zu einer „Anlage“ in der Nähe von Illinois führen, die sich als Shopping-Mall entpuppt, in der sie laut dem dominanten Bob alles zum Überleben finden. Hier ist der Roman richtig düster und dystopisch und beinhaltet auch Elemente eines Road-Movies. Die Szenen sind teilweise morbide und verstörend, wenn die Gruppe beispielweise auf ihrem Weg in Häuser einbricht um zu plündern und Bob sie zwingt, vom Fieber Befallene zu erlösen, sprich zu töten. Wobei von den Fieberzombies selbst gar keine Gefahr ausgeht. Suspense entsteht eher dadurch, weil es in der Gruppe zunehmend zu Spannungen bis zur Gewalt kommt, auch weil Bob absolut keinen Widersprich duldet. Das ist aber nicht besonders innovativ, hat man so schon gelesen und ich musste an „The Walking Dead“ denken.

Meine Meinung
New York Ghost bietet viele Themen an wie Kapitalismus – und Konsumkritik, Herkunft und Identitätssuche, Entmenschlichung, Leistungsdruck, Familie und erste Liebe, die aber gar nicht dröge, sondern raffiniert miteinander verknüpft werden. Die Endzeitgeschichte vor New Yorker Kulisse ist intelligent geschrieben mit gut beobachteten Figuren, der Ton ist ironisch-distanziert. Ein visionärer Roman, in dem sich vieles wie Homeoffice, Masken und Quarantäne gespenstisch vertraut liest und der von der Realität überholt wurde. Als melancholischer Endzeitthriller bietet er nur beliebiges, dafür funktioniert er als Drama, bissige Satire und als originelle Gesellschaftskritik. Einige Doppeldeutigkeiten wurden mir erst nach dem Lesen richtig bewusst.

Ling Ma wurde wie ihre Romanheldin 1983 in der chinesischen Provinz Fujian geboren und ist in den USA aufgewachsen. Ihr Debütroman, der von Zoë Beck übersetzt wurde, gewann zahlreiche Preise.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

New York Ghost | Erschienen am 23. März 2021 im CulturBooks Verlag
ISBN 978-3-959-88152-4
360 Seiten | 23,- Euro
Originaltitel : Severance (Übersetzung aus dem Amerikanischen von Zoë Beck)
Bibliografische Angaben

Deon Meyer | Fever

Deon Meyer | Fever

Ich will euch vom Mord an meinem Vater erzählen. Ich will euch erzählen, wer ihn ermordet hat und warum. Denn dies ist die Geschichte meines Lebens. Und es ist auch die eures Lebens, ihr werdet sehen. (Auszug Anfang)

Deon Meyer, eigentlich bekannt für seine gesellschaftskritischen Südafrika-Krimis, hat 2017 eine Dystopie geschrieben. Wobei das viel zu kurz greift. Es ist eher eine Mischung aus postapokalyptischen Endzeitroman, Coming-of-Age-Roman, Roadmovie und Abenteuerroman. Deon Meyer bedient sich eines für Dystopien klassischen Ausgangspunktes: Durch eine Fieberepidemie wurde in rasanter Geschwindigkeit 95 % der Weltbevölkerung ausgelöscht. Man vermutet, dass durch die Verschmelzung eines menschlichen Virenstammes mit dem einer kranken Fledermaus das Fieber erstmals in Afrika ausgebrochen ist.

Der dreizehnjährige Nicolaas Storm und sein Vater Willem sind einige der wenigen Überlebenden. Am Anfang des Buches sind die beiden in ihrem großen Truck in einer unwirtlichen Landschaft unterwegs. Das Land befindet sich in einem Zustand der Gesetzeslosigkeit, es gibt keinen Strom, keine Geschäfte mehr und sie sammeln alles, was sie an Nahrungsmitteln (ganz wichtig ist Kaffeepulver) und anderen Versorgungsgütern finden können in ihren Anhänger. Auch Treibstoff existiert nur noch begrenzt und beim Tanken werden sie von einer wilden und hungrigen Hundemeute angegriffen. Ein hochdramatischer, packender Anfang, der mich an „The Walking Dead“ erinnerte und unwiderruflich in die Geschichte hineinzog.

Amanzi wird gegründet
Nico und sein Vater sind auf der Suche nach einem Fleckchen Erde und in dem verlassenen Ort Vanderkloof finden sie den idealen Ort, um sich niederzulassen. Denn Willem Storm hat eine Vision: Er will eine neue Gemeinschaft gründen. Unbeirrt hält er an diesem Plan einer neuen Zivilisation fest. Flugblätter werden verteilt, um in dem weiten Land noch andere Überlebende zu finden. Doch lange tut sich nichts. Als die beiden schon fast alle Hoffnungen aufgegeben haben, setzt endlich ein Strom von Menschen ein. Aus allen Himmelsrichtungen, und das war für mich ein Gänsehautmoment, kommen große und kleine Gruppen. Immer mehr Menschen werden in die Gemeinschaft, die sich ab jetzt Amanzi nennt, aufgenommen und durch ihre unterschiedlichen Fähigkeiten und Talente entsteht eine Insel der Zivilisation in dem verlassenen Land. Völlig authentisch wirken die Herausforderungen, die aufgrund des Zusammenlebens der unterschiedlichen Charaktere entstehen. Viel Konfliktpotenzial ergibt sich wegen diverser Ansichten über Religion, Politik und ein Ringen um die alle zufrieden stellenden Strukturen und Regeln entsteht. Diesen mühsamen Wiederaufbau mit vielen Rückschlägen und internen Spannungen ist wie ein gesellschaftliches Experiment spannend und interessant zu verfolgen.

Dabei sind wilde Tiere nur eine Gefahr, die größere Bedrohung sind die Menschen und ihre Abgründe selbst. Es gibt plündernde Gangs auf Motorrädern und diese marodierenden Banden ziehen mordend und raubend durch das ganze Land und auch Amanzi wird zu ihrem Ziel. So beschließen die Einwohner von Amanzi Verteidigungsanlagen und eine eigene Sicherheitstruppe unter der Führung des ehemaligen Soldaten Domingo aufzubauen. Auch Nico lernt schießen und schließt sich gegen den Willen seines Vaters dieser Armee an.

Die Katastrophe
Der siebenundvierzigjährige Nico erzählt die Geschichte im Nachhinein und verrät gleich, dass es zu einer großen Katastrophe kommt und sein Vater ermordet wird. In weiteren Erzählperspektiven werden die Aufzeichnungen anderer Überlebender hineingestreut, die in dem von Willem Storm gegründetem Amanzi-Geschichtsprojekt Gehör finden. Storm sammelte unermüdlich Eindrücke und Erfahrungen seiner Mitmenschen und nach seinem Tod wird dieses Projekt von anderen weitergeführt. Dadurch bekommt man ein umfassendes Bild des Überlebenskampfes.

Glaubhaft und verständlich wird auch der Konflikt zwischen dem Teenager Nico und seinem Vater herausgearbeitet. Nico empfindet seinen sanftmütigen, liebevollen Vater als schwach, interpretiert seine Menschenfreundlichkeit als Manko. Der liberale Storm glaubt an das Gute im Menschen und Bildung und Wissen sind für ihn sehr wichtig. Der pubertierende Nico ist dagegen von dem düsteren, martialischen Ex-Soldaten Domingo fasziniert. Als er seinen Fehler einsieht und er und Willem sich wieder annähern, ist es fast schon zu spät.

Deon Meyer versteht es, seine Figuren mit Leben zu füllen. Alle Charaktere sind wunderbar mit viel Empathie herausgearbeitet und der südafrikanische Autor hat jedem eine Geschichte mitgegeben. Es gab so viele berührende Momente. Trotzdem folgt die Geschichte einem stabilen Aufbau, in der durch die geschickte Dramaturgie Spannung erzeugt und der rote Faden nie verloren wird. Düstere Landschaftsbilder erzeugen Atmosphäre und mit seiner bildhaften sowie poetischen Sprache wird alles vorstellbar und fesselnd geschildert.

Hastiges Ende
Selten hat mich eine Geschichte so bewegt und sind mir die Charaktere so ans Herz gewachsen. Ich habe auch auf meinem Arbeitsweg das Hörbuch, wunderbar interpretiert von Martin Bross, gehört und wollte einfach nicht aus dem Auto aussteigen und aus Amanzi auftauchen.
Bis zum Ende ist der Plot realistisch und vorstellbar. Das Zusammenbrechen der Infrastruktur, das Aufbauen einer neuen Zivilisation, das Ringen um eine neue politische und wirtschaftliche Ordnung. Zum Schluss mündet der Roman in einem actiongeladenen Finale und es kommt noch zu einem Twist, mit dem ich nicht gerechnet und den es für mich auch nicht gebraucht hätte. Auch geht alles dann sehr schnell und wird hastig abgehandelt. Deshalb muss ich ein halbes Pünktchen abziehen. Trotzdem war das Buch für mich ein Highlight, das auch nach der Lektüre noch lange im Gedächtnis blieb. Wie die Welt an den Rand einer Apokalypse gerät, wie langsam eine Siedlung entsteht, die Konflikte in der Vater-Sohn-Beziehung, das hat der Ausnahmeschriftsteller Deon Meyer in eine tiefgründige und genre-übergreifende Geschichte packend zusammengefügt.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Fever | Erschienen am 09. Oktober 2017 bei Rütten & Loening
ISBN 978-3-352-00902-0
702 Seiten | 29,99 Euro
Taschenbuchausgabe im Aufbau Verlag:
ISBN 978-3-7466-3536-1 | 12,- €
Originaltitel: Fever (Übersetzung aus dem Afrikaans von Stefanie Schäfer)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Rezensionen zu Meyers Romanen aus der Bennie-Griessel-Reihe: Icarus, Die Amerikanerin, Beute

Margaret Atwood | Die Zeuginnen

Margaret Atwood | Die Zeuginnen

Die kanadische Autorin Margaret Atwood wurde vielfach für ihre zahlreichen Romane ausgezeichnet, aber es war ihr utopischer Roman „Der Report der Magd“ von 1985, der zum Kultbuch avancierte. Die düstere Zukunftsvision spielt Ende des 20. Jahrhundert in einer Welt, in der kaum noch Kinder geboren werden. Im Norden der USA gründen fanatische, religiöse Sektierer die sogenannte Republik Gilead. In dem totalitären Gottesstaat werden Frauen ihrer Identität beraubt, entmündigt und in Hausfrauen, Gebärmaschinen und Dienerinnen sprich Mägde eingeteilt, um die weibliche Gebärfähigkeit zu gewährleisten. Hauptfigur und Erzählerin des Romans ist die junge Desfred, eine der wenigen fruchtbaren Frauen, die einer männlichen Führungskraft als Zweitfrau zu Gebärzwecken zugewiesen wird. Am Ende kann Desfred entkommen, aber gelingt die Flucht tatsächlich? Der Roman endet mit den Worten:
Und so steige ich hinauf, in die Dunkelheit dort drinnen oder ins Licht.

34 Jahre hat sich die Autorin für eine Fortsetzung Zeit genommen. Grund war sicher der große Erfolg der preisgekrönten Fernsehserie „The Handmaid‘s Tale“ von 2017. In einer Zeit, in der immer mehr Menschen sich eine Rückbesinnung auf vermeintlich sichere, alte Werte wünschen, trifft die Serie einen Nerv. Sie wirkt wie ein erschreckend realer Alptraum und ist auch eine Metapher auf die Abgründe der heutigen Zeit.

„Die Zeuginnen“ setzt 15 Jahre nach dem Ende des Klassikers an und erzählt die Geschichte des fiktiven Staates Gilead zu Ende. Drei Frauen berichten aus ihren Perspektiven als eine Art Zeitzeuginnen in unterschiedlichen Handlungssträngen.

Wie wir auch aussehen mochten, ob wir wollten oder nicht, wir waren Fallstrick und Verlockung, wir waren die unschuldige und schuldlose Ursache dafür, dass wir allein durch unser Dasein die Männer trunken machen konnten vor Lust, bis sie ins Taumeln gerieten und in den Abgrund stürzten… (Auszug Seite 16)

Für mich die interessanteste Figur ist die knallharte Oberbefehlshaberin Tante Lydia, da wir viel aus dem Innenleben des Regimes erfahren. Sie erzählt rückblickend, wie sie vom Opfer zur Täterin wurde. Vor Gilead war sie Familienrichterin und nach dem Putsch landete sie wie alle Frauen in einem Stadion. Doch nach brutalen Folterungen wurde Lydia nicht durch einen Kopfschuss getötet, sondern vor die Wahl gestellt, Teil des Systems zu werden. Lydia entschied sich und wurde neben dem mächtigsten Mann, Kommandant Judd eine einflussreiche Figur in dem puritanischen Schreckensregime. Als oberste Tante regelt sie mit eiserner Hand alle Frauenangelegenheiten. Sie leitet Haus Ardua, hat Einfluss in Staatsangelegenheiten und Einblick in viele geheime Akten. Und ist gleichzeitig Kopf des Untergrunds, denn sie dokumentiert alles und versteckt ihre Aufzeichnungen in einem ausgehöhlten Buch.

Dann kommt die 13-jährige Agnes Jemima zu Wort, die wohlbehütet wie eine „kostbare Blume“ in einem Kommandantenhaushalt aufgezogen wird. Als ihre Mutter stirbt, erfährt sie, dass diese nicht ihre leibliche Mutter war, sondern eine Magd. Als sie mit Kommandant Judd verheiratet werden soll, versetzt sie das in tiefe Panik. Um der Heirat zu entgehen, gibt sie vor, sich als Tante berufen zu fühlen und setzt alles daran, in Haus Ardua aufgenommen zu werden.

In einem der Parks standen Schaukeln; aber wegen unserer Röcke, die vom Wind hätten hochgeweht werden und Einblick hätten gewähren können, durften wir ans Schaukeln nicht einmal denken. (Auszug Seite 25)

Im angrenzenden Kanada wächst die dritte Zeugin Daisy auf. Kurz vor ihrem 16. Geburtstag kommen ihre Eltern Neil und Melanie, die einen Second-Hand-Laden namens Spürhund betreiben, gewaltsam ums Leben. Daisy erfährt jetzt erst, dass sie adoptiert wurde und ihre Pflegeeltern heimlich Teil der Widerstandsgruppe „Mayday“ waren. „Mayday“ hilft Flüchtlingen aus Gilead zu entkommen und der Spürhund galt als konspirativer Ort. Auch Daisy ist in Gefahr und schließt sich dem Widerstand an.

Stück für Stück werden die Zusammenhänge der drei Erzählerinnen enthüllt. Eine wichtige Verbindung ist „die kleine Nicole“, ein Baby, das von seiner Mutter, einer Magd vor 15 Jahren über die Grenze nach Kanada geschmuggelt worden war. Für die Machthaber von Gilead ein Politikum, sie wollen das Mädchen unbedingt zurückhaben. Am Ende fügt sich alles zusammen und der Kreis der beiden jungen Mädchen zur Magd Desfred schließt sich. Einige Geheimnisse werden gelüftet und vieles klärt sich auf. Aber hätte ich das gebraucht?

„Die Zeuginnen“ ist ein Unterhaltungsroman, der deutlich rasanter und handlungsbetonter daher kommt als „Der Report der Magd“. Die Mischung aus Spionageroman und Abenteuergeschichte lässt sich flott weg lesen. Viele Spannungselemente verleihen dem Roman grade zum Ende hin noch mal richtig Tempo. Ich mag die lakonische, teils sarkastische Sprache von Margaret Atwood und den immer wieder aufblitzenden trockenen Humor. Trotzdem fand ich die Fortsetzung nicht so intensiv und aufwühlend. Im Vergleich zu seinem Vorgänger fehlte es für mich an Brisanz und literarischem Anspruch.

Notizen: Margaret Atwood betont immer wieder, dass sie nichts in ihre Romane aufnehme, was es in der Geschichte der Menschheit nicht schon gegeben habe. Alle von ihr beschriebenen Restriktionen gegen Frauen passieren irgendwo auf der Welt.
Die Filmkostüme, die die Mägde in der Serie tragen wurden zur Ikone der Frauenbewegung und als Symbol bei „Me Too“ Demonstrationen verwendet.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Die Zeuginnen | Erschienen am 10. September 2019 im Berlin Verlag
ISBN 978-3-827-01404-7
576 Seiten | 25,00 Euro
Originaltitel: The Testament
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Diese Rezension erscheint im Rahmen unseres .17special Ein langes Wochenende mit… Krimis aus Kanada.