Diane Cook | Die neue Wildnis

Diane Cook | Die neue Wildnis

In ihrem Debüt-Roman versetzt uns die in Brooklyn lebende Autorin Diane Cook in eine nicht allzu weit entfernte Zukunft in Amerika. Klimawandel, Überbevölkerung und Smog erschweren das Leben in der Stadt und aufgrund der immensen Luftverschmutzung leiden besonders die Kinder zunehmend unter lebensbedrohlichen Atemwegserkrankungen. Aus Sorge um ihre 5-jährige todkranke Tochter Agnes nimmt Bea mit ihrem Mann Glen an einem Regierungsprojekt teil. Zwanzig Pioniere dürfen in einem staatlich geschützten Nationalpark vor den Toren der Stadt leben. Bei dem Experiment müssen sie sich mit Hilfe eines Handbuchs an strenge Verhaltensregeln halten und sich regelmäßig an bestimmten Posten einfinden. Sie dürfen sich keine Heimat aufbauen sondern müssen autark in der unberührten Wildnis ein nomadisches Leben führen. Besonderes Augenmerk wird darauf gelegt, dass die Gruppe nicht zu viel in die Natur eingreift oder Spuren hinterlässt. Abgeschnitten von jeglichen Annehmlichkeiten der Zivilisation sind die Ranger die einzige Verbindung zur Außenwelt, die die Einhaltung der strengen Regeln überwachen oder neue Anweisungen geben.

Zurück zur Natur
Zu Beginn der Geschichte sind wir bereits seit vier Jahren in der Wildnis. Das hat mich überrascht, denn ich hätte mir ausführlichere Beschreibungen über die Situation in den Städten gewünscht. Die Welt außerhalb der Wildnis bleibt aber während des ganzen Buches nur vage fassbar. Bei dem dramatischen und verstörenden Einstieg begleiten wir Bea bei einem sehr intimen Moment wobei mich ihr raues Verhalten mit dieser erbarmungslosen Situation erschreckt hat. Es wird klar, dass während des Überlebenskampfes die Grenzen zwischen Tier und Mensch zu verschwimmen scheinen. Die Rückbesinnung sowie die überlebensnotwendige Anpassung an die Natur lassen eher archaische Empfindungen und Sichtweisen hervortreten. Als bei einer gefährlichen Flussüberquerung eine Mitstreiterin in den reißerischen Fluten ertrinkt, wird nur um das wertvolle Seil getrauert. Oder als ein Mitstreiter von der Klippe stürzt, wird nicht nachgesehen, ob man ihm noch helfen kann, es wird weitermarschiert. Mich hat irritiert, dass diese Abstumpfung offenbar schon nach vier Jahren und nicht nach Generationen eintritt.

Nur daran erkannte Bea, dass der Unfall sie erschreckt hatte. Wie ein Tier erstarrte Agnes, wenn sie Angst hatte, und rannte bei Gefahr weg. Bea stellte sich vor, dass sich das ändern würde, wenn Agnes größer wurde. Möglicherweise fühlte sie sich dann weniger wie Beute und mehr wie ein Raubtier. (Auszug Seite 17/18)

Der Autorin geht es in ihrem Roman nicht so sehr um die drohende Katastrophe von außen durch das Klima, Umwelt und den Staat oder um die Gefahren, die ein Leben in der wilden Natur mit sich bringt. Es geht ihr primär um die Dynamik zwischen den einzelnen Gruppenmitgliedern und die Entwicklung des sozialen Machtgefüges. Das Verhalten der Gemeinschaft erinnert an das Verhalten wilder Tiere. Hinzu kommt eine komplizierte Mutter-Tochter-Beziehung zwischen Bea und Agnes. Das hätte auch spannend werden können, war es aber leider für mich nicht. Der Erzählstil ist passend zum Setting emotionslos und distanziert und dieser Ton bleibt das ganze Buch über bestehen. Dadurch fühlte ich mich die ganze Zeit nur wie ein unbeteiligter Beobachter einer Studie und war nie nah an den Charakteren. Ein großer Kritikpunkt meinerseits ist, dass diese allesamt sehr blass und mir bis zum Schluss vollkommen fremd blieben. Ihre Handlungen konnte ich nur partiell nachvollziehen und dann war es teilweise sehr abstoßend und auch schmerzhaft den Geschehnissen zu folgen.
Ein weiteres Manko war für mich der Umgang der Autorin mit der Zeitabfolge. Während man manchmal über mehrere Kapitel nur einen Tag abhandelt, erfährt man an anderen Stellen in einen kurzen Nebensatz, dass die letzten Seiten einen Zeitraum von mehreren Jahren umfassen, da die Gruppe Monate braucht, um von einem Ort zum anderen zu kommen. Das verdeutlicht, dass für ein Leben im Einklang mit der wilden Natur lediglich der Tag-Nacht-Zyklus und die Jahreszeiten relevant sind. Für mich war das total verwirrend, denn das Gespür für die Zeit, wie wir es gewohnt sind, geht völlig verloren.

Spielfiguren auf einem unbekannten Spielfeld
Trotz ihrer literarischen Fähigkeiten, die ich der Autorin nicht absprechen möchte, denn sie erzeugt beklemmende Bilder, hatte sie mich irgendwann in dieser zähen Story verloren und ich habe nur noch quer gelesen. Über weite Strecken kommt die Geschichte nicht voran und tritt auf der Stelle. Leider bietet auch das Ende auf meine zahlreichen Fragen und Vermutungen, die mich beschäftigten, keine zufriedenstellenden Antworten. Durch das völlige Ausbleiben von Informationen erfährt die Leser*in genau wie die umherwandernde Gemeinschaft nichts über die Geschehnisse in den übervölkerten Städten, über die Hintergründe oder die Erkenntnisse des wissenschaftlichen Forschungsprojekt oder das merkwürdige Verhalten der Ranger. Die Gruppe wirkt auf mich wie Spielfiguren, die von den Rangern auf ein unbekanntes Spielfeld gesetzt werden um dort nach unbekannten Regeln agieren sollen. Warum denkt niemand daran, das Projekt abzubrechen und in die Zivilisation zurückzukehren? Agnes ist ja inzwischen wieder gesundet, da die gute Luftqualität sich positiv auf ihren Gesundheitszustand ausgewirkt hat. Und wie groß ist dieses Areal?

Nominierung für den Booker Prize 2022
Die edle Aufmachung des Buches mit der goldenen Schrift auf dunkelgrünem Grund war für mich sehr vielversprechend. Die alles verschlingenden Blätter auf dem Cover lassen an Lebensadern aber auch an einen tropischen Urwald denken. Ich hatte dadurch ganz falsche Erwartungen, denn die Geschichte spielt mehr in einem Wüstenszenario. Ich lese eigentlich gerne Dystopien, aber ich brauche immer einen kleinen Hoffnungsschimmer, ein Licht am Ende des Tunnels. Der Überlebenskampf der Gemeinschaft wird emotional eher kühl und sachlich geschildert. Diane Cook romantisiert nicht in ihrem für den renommierten Booker Prize 2022 nominierten Roman und vielleicht war das auch mein Hauptproblem.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Die neue Wildnis | Erschienen am 09.05.2022 im Heyne Verlag
ISBN 978-3 45332-158-8
544 Seiten | 16,- €
Originaltitel: The New Wilderness | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Astrid Finke
Bibliografische Angaben & Leseprobe

2 Replies to “Diane Cook | Die neue Wildnis”

  1. Ein schwieriger und anspruchsvoller Themenmix an dem sich Diane Cook abzuarbeiten versucht. Ein gutes Resultat zu erzielen, das gelingt nur wenigen. Das Resultat für nicht gelungen. Da einige der angerissenen Katastrophen jedoch existenziell sind und es angesagt ist, sich in jeder möglichen und unmöglichen Weise damit zu beschäftigen, ist es nicht verwunderlich, dass das Buch für den Booker Prize nominiert wurde.

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