Monat: April 2024

Joe Thomas | Brazilian Psycho

Joe Thomas | Brazilian Psycho

„Wenn die Armen die Rechten wählen“, sagt Franginho, „dann geht alles den Bach runter.“ (Auszug S. 599)

Diese pointierte politische Analyse legt Autor Joe Thomas einem kleinen Favela-Gangster in den Mund und fasst damit die Situation Brasiliens zu Beginn der Präsidentschaft Jair Bolsonaros treffend zusammen, bringt aber auch eine allgemeine Aussage, die auch auf andere Länder durchaus zutreffend ist. Doch zurück zu Brasilien. Ein wirtschaftlich aufstrebendes Land und Teil der BRICS-Staaten, die inzwischen ein ernstzunehmendes Gegengewicht zu den etablierten G7-Staaten bilden. Allerdings auch ein Land mit großem Wohlstandsgefälle, in dem nur langsam Erfolge gegen die immer noch krasse Armut gefeiert werden und diese Erfolge von erheblicher Korruption, Bereicherung und Kriminalität überschattet werden.

Hiervon erzählt der britische Autor Joe Thomas am Beispiel der südbrasilianischen Metropole São Paulo, in der er zehn Jahre gelebt hat. „Brazilian Psycho“ ist dabei nur der vierte Teil eines São Paulo-Quartetts, von denen die anderen Teile noch nicht in deutscher Übersetzung erschienen sind. Er überspannt mit seinem Roman dabei einen Zeitraum von 16 Jahren, beginnend mit der 1. Amtszeit Lula da Silvas Anfang 2003 und der Amtszeit Dilma Rousseffs ab 2011 (beide aus der Arbeiterpartei) bis hin zur Amtsübernahme der ultrarechten Jair Bolsonaro im Januar 2018.

Joe Thomas wählt eine multiperspektivische Erzählweise und begleitet verschiedene Personen durch die Zeit. Es beginnt mit einem Mordfall, der in gewisser Weise die Klammer der Geschichte bildet. Der englische Direktor einer Privatschule wird ermordet in seinem Haus aufgefunden. Die Kommissare Mario Leme und Ricardo Lisboa übernehmen den Fall und werden von ihrem Chef direkt unter Druck gesetzt, schnell einen Täter zu präsentieren. Mehr oder weniger gegen den Willen der Kommissare wird über die Hausangestellte eine Verbindung zum Favela Paraisópolis gezogen und ein Täter festgenommen, der die Tat auf sich nimmt und verurteilt wird. Dieser Mann ist der Vater von Rafa, eines jungen Heranwachsenden, der für die kriminellen Bosse in der Favela erste Aufträge übernimmt und über die Jahre in der Organisation aufsteigt, sich allerdings mehr um die mehr oder weniger legalen Geschäftszweige kümmert. Ebenfalls im Personenregister: Renata, eine Anwältin, die in der Favela ein Rechtshilfebüro eröffnet oder Carlos, ein Militärpolizist mit Verbindungen in die Favela oder Ray Marx, Berater und politischer Drahtzieher einer einflussreichen Finanzfirma und viele mehr.

Paulo Maluf: ein ehemaliger Bürgermeister São Paulos. Sie haben einen Ausdruck für den alten Maluf geprägt: Roba mais faz.
Er wirtschaftet in die eigene Tasche, aber er bringt Dinge voran.
Leute dieses Schlags hat São Paulo schon immer gewählt.
Es ist viel wichtiger, dass die Stadt funktioniert – der Müll abgeholt wird, die U-Bahn fährt, die Straßen repariert werden -, als sich über Schmiergeldzahlungen und Erpressungen im Rathaus aufzuregen. (Auszug S.34-35)

So gibt es ein umfangreiches Personal und viele Perspektivwechsel und auch Zeitsprünge, doch es geht im Grunde um einen Fokus auf das (Nicht-)Funktionieren des brasilianischen Staates und der Gesellschaft. Der wirtschaftliche Aufschwung lässt in der Bevölkerung Hoffnung keimen und tatsächlich lässt sich ein wenig Aufbruchsstimmung nicht leugnen. Doch letztlich wollen viele profitieren, neben der politischen und unternehmerischen Oberschicht auch die kriminellen Banden der Favelas. So gibt es unheilvolle Absprachen zwischen Politik, Polizei und organisierter Kriminalität, Korruption, Veruntreuung von staatlichen Mitteln, Abschöpfung von Mitteln aus Sozial- und Wohnungsbauprogrammen – und das alles während der Amtszeiten der linken Regierungen von Lula und Dilma Rousseff. Und zum Ende hin tauchen dann plötzlich die ganz dunklen Mächte um einen Jair Bolsonaro auf, der das Ganze noch mit einer Politik des Hasses, des Rassismus und der Gewalt krönt, vor allem im Hinblick auf Frauen und die queere Community.

Autor Joe Thomas hat sich einiges vorgenommen mit diesem Roman und er kann für mich auch einiges einlösen. Das Panorama als lokale Perspektive São Paulos ist interessant gewählt, die Personen sind nicht zu plakativ schwarz und weiß. Es wird nicht zu viel doziert, sondern der Leser muss sich in den Feinheiten brasilianischer Politik und Korruption auch etwas selbst zurechtfinden, was teilweise auch etwas mühsam ist. Auch eine gewisse Redundanz der Ereignisse zum Ende hin gab es für meinen Geschmack, sodass es sich doch etwas zog. So erreicht Joe Thomas letztlich nicht ganz das Niveau seiner auf dem Buchumschlag erwähnten berühmten Kollegen Ellroy und Winslow, die der Autor ganz sicher gut gelesen hat. Dennoch legt Thomas einen über weite Strecken fesselnden und spannenden Wälzer vor, der einen besonderen Fokus auf die brasilianische Politik und Geselllschaft der letzten zwanzig Jahre legt.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Brazilian Psycho | Erschienen am 14.02.2024 im btb Verlag
ISBN 978-3-442-77386-2
638 Seiten | 18,- €
Originaltitel: Brazilian Psycho | Übersetzung aus dem Englischen von Alexander Wagner
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Hervé Le Corre | Durch die dunkelste Nacht

Hervé Le Corre | Durch die dunkelste Nacht

Es ist dunkel und man sieht keine Bäume. Man sieht nichts außerhalb des Lichts der Straßenlaternen. Es ist Nacht, aber man sieht nicht mal die Nacht. (Auszug Seite 84)

Der Titel „Durch die dunkelste Nacht“ ist hier Programm. Es ist nicht das pittoreske, von Touristen für seinen Wein geliebte Bordeaux. Wir begleiten Commandante Jourdan von der Police Judicaire in die dunkelsten Ecken, finster und unwirtlich, es könnte jede Großstadt sein. Von der ersten Seite an regnet es ununterbrochen. Gleich am ersten Tatort findet die Polizei drei tote Kinder, noch im Schlafanzug, erschossen von ihrem Vater, die Mutter liegt im Bad, das Auge ausgeschossen. Der mörderische Vater ist auf der Flucht. Jourdan ist zutiefst erschüttert, unterdrückt nur mühsam seine Wut. Der desillusionierte Polizist zerbricht langsam an dem Elend, dass er täglich sieht, macht aber trotzdem fast zombiehaft immer weiter. Während er seiner Truppe Halt bietet, stürzt er immer mehr in Düsternis und Depressionen. Er ist der typische ausgebrannte Cop, später wird ihn seine schöne sowie kluge Frau Marlène verlassen, die Tochter Barbara geht mit. Als Marlène mit gepackten Koffern vor ihm steht, ist er nicht in der Lage, etwas zu sagen.

Dann machten sie sich wieder an die Arbeit. Jourdan hatte manchmal das Gefühl, der Tod schaute ihnen zu und glitt mit eisiger Präsenz umher, um sie am Arbeiten zu hindern, verstimmt, weil sie versuchten, Licht in das von ihm gesäte Dunkel zu bringen. (Auszug Seite 83)

Aber da ist der Frauenmörder, den er kriegen will. Und Jourdan ist gut in seinem Job. Ihm sind die gleichen Stichverletzungen bei mehreren weiblichen Opfern aufgefallen, die auf einen Serienmörder hindeuten. Weiter bringt die DNA eines Toten auf dem Trottoir vor dem Polizeigebäude die Polizei auf eine heiße Spur. Und auch der hektische Polizeialltag mit drogensüchtigen Zwangsprostituierten, Minderjährigen, die einen anderen Jungen wegen 100 Euro Schulden zu Tode prügelten sowie einer weiteren Frauenleiche, die seit vier Tagen in einem Abrisshaus liegt, geht unerbittlich weiter.

In einem zweiten Handlungsstrang lernen wir den Serienkiller kennen. Christian, ein Psychopath und ehemaliger Elitesoldat im Tschad wurde jahrelang von seiner Mutter missbraucht. Tagsüber arbeitet er als Lastwagenfahrer, nachts geht er mit dem Messer auf die Jagd nach Prostituierten und anderen Frauen. Man spürt, wie hier etwas aus dem Ruder läuft, wie Christian immer mehr eskaliert und die Kontrolle verliert.

Die dritte Perspektive besetzt Louise, eine junge alleinerziehende Mutter eines 8-jährigen Sohnes mit einem Händchen für die falschen Männer. Die junge Frau war nach dem Unfalltod ihrer Eltern in die Drogen- und Alkoholszene abgerutscht. Doch für ihren kleinen Jungen, ihren Sonnenschein, hatte sie sich aus dem Sumpf von Drogen, Sex und Gewalt herausgekämpft und schlägt sich als Haushaltshilfe für Senioren durch. Wäre da nicht ihr Ex-Freund, der sie immer wieder belästigt und schwer misshandelt. Louises angsterfülltes Leben setzt der Leserin zu, besonders die Weigerungen der Polizei, ihre Beschwerden ernst zu nehmen. Erst als Sam, ihr kleiner Sohn mit in die Gewaltspirale reingezogen wird, zieht Louise die Reißleine.

Jourdan versucht, in alldem einen Sinn zu erkennen: diese Verbrechen, die Täter, die Arbeit als Polizist. Festnehmen, verurteilen und bestrafen? Wozu, wo doch die Toten nicht wieder lebendig werden? (Auszug Seite 200)

Drei Menschen, deren Schicksale sich im Laufe der Seiten kreuzen. Jeder von ihnen geht durch seine eigene schauerliche Nacht, mit einem kurz auf blitzenden Hoffnungsschimmer, als sich Jourdan und Louise begegnen, der aber schnell wieder in der Dunkelheit versinkt. Erträglich wird diese beklemmende Geschichte durch die intensive fast poetische Sprache. Ganz großes Lob an die Übersetzerin Anne Thomas. Hervé Le Corre breitet seine Geschichte sehr wortreich aus, mit gnadenlosen Worten voll finsterer Schönheit, die die Verzweiflung einfühlsam beschreibt und einem Realismus, der nicht verschont. Hervé le Corre ist ein scharfsinniger Beobachter kleinster Gesten, ein Dialogschreiber von höchster Präzision, jedes Detail ist wichtig und trotzdem ist kein Wort zu viel. Von Anfang an zieht dieser desillusionierte Polizeiroman die Leserin in den Bann, in einen Strudel von Gewalt, Sprachlosigkeit und Schmerz. Ein außergewöhnlicher atemberaubender Roman, den man immer weiter liest, weil man stets auf einen Lichtblick hofft, der diese Nacht zu erhellen verspricht.

Hervé Le Corre ist schon länger einer der großen Namen des französischen Noir, und „Traverser la nuit“ ist nicht sein erster mit einem Krimipreis ausgezeichneter Roman, aber sein erster ins Deutsche übersetzter.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Durch die dunkelste Nacht | Erschienen am 15.01.2024 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-51847-369-6
339 Seiten | 17,- €
Originaltitel: Traverser la nuit | Übersetzung aus dem Französischen von Anne Thomas
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Susanne Tädger | Das Schweigen des Wassers

Susanne Tädger | Das Schweigen des Wassers

Die DDR ist jetzt bereits schon 30 Jahre Geschichte und dennoch auch heute noch irgendwie präsent in allerlei soziologisch-politischen Kontexten. Frei nach Faulkners „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen.“ Das gilt auch für die Kriminalliteratur, die selbstverständlich gerne Unaufgearbeitetes aus der Vergangenheit aufgreift, natürlich auch aus der deutsch-deutschen. Zuletzt hatte mir etwa „Die Toten von Marnow“ von Holger Karsten Schmidt gut gefallen, in dem es um Medikamentenversuche in der damaligen DDR ging. Nun greift die Autorin Susanne Tägder in ihrem Krimidebüt einen alten Kriminalfall auf, der zu DDR-Zeiten nicht aufgeklärt wurde (zumindest wurde ein Verdächtiger freigesprochen) und der nun in der Zeit kurz nach der Wiedervereinigung wieder hochkommt. Es ist die Zeit der Umbrüche, viele werden in neue Lebenssituationen geworfen. Und einige stellen fest, dass sie auch im neuen System abgehängt werden, während die Opportunisten den Absprung glatt geschafft haben und dafür sorgen, dass alte Ungereimtheiten weiterhin unter dem Teppich bleiben.

Groths Leben hat 1960 mit einer Fahrkarte begonnen. Oder aufgehört, je nachdem, wie man die Sache betrachtet. Mit einer Fahrkarte nach Hamburg. Aus ihm unerfindlichen Gründen erinnert er sich sogar noch an den Preis: acht mark siebzig. Im Schaukasten, das Groths Leben ausstellt, wäre diese Fahrkarte ein zentrales Artefakt. (Auszug E-Book Pos.1640)

Herbst 1991 in Mecklenburg: Der Hamburger Kommissar Arno Groth ist als Aufbauhelfer Ost in seine alte Heimat Wächtershagen (steht wohl für Neubrandenburg) versetzt worden. Damals war er als junger Abiturient mangels Perspektive vor dem Mauerbau in den Westen gegangen. Nun kehrt er zurück, gibt Seminare für die Ost-Kollegen über nunmehr gesamtdeutsche Polizeiarbeit, aber es ist nicht ganz klar, wer hier wen aufbaut. In Hamburg ist der geschiedene Groth, der immer noch um seine verstorbene Tochter trauert, beruflich aufs Abstellgleis geraten, nachdem er einen Fall vermasselt hat, weil er zu stark einer Zeugin vertraut hatte. Groth bekommt schon nach kurzer Zeit Besuch auf der Dienststelle von einem merkwürdigen, heruntergekommenen Mann, der ihn vom Hof aus beobachtet. Dieser Mann heißt Siegmar Eck, ist Verleiher von Tretbooten und aktuell ohne festen Wohnsitz. Er fasst nach einem kurzen Gespräch offenbar Vertrauen zu Groth und verspricht, nach dem Wochenende wegen eines Diebstahls wiederzukommen. Doch dazu wird es nicht kommen.

Zwei Tage später wird Eck tot am See aufgefunden, ertrunken, die Umstände sind unklar. Der Dienststellenleiter will den Fall zügig als Unfall einstellen. Doch ausgerechnet ein Kollege, mit dem Groth bislang alles andere als warm wurde, offenbart ihm, dass Eck kein Unbekannter war: Vor etwa zehn Jahren war er Hauptverdächtiger in einem Mord an einer jungen Frau, wurde aber vor Gericht wegen Ermittlungsfehler überraschend freigesprochen. Und obwohl die damaligen Akten zum großen Teil verschwunden sind, hat Groth einen Anhaltspunkt für weitere Ermittlungen.

Außer aus Groths wird die Geschichte noch aus einer weiteren Perspektive erzählt. Regine Schadow ist Servicekraft in der Ausflugsgaststätte am See, kannte Eck, rauchte öfter mal mit ihm eine Zigarette in der Pause. Regine war Angestellte in einer Bar in Berlin und ist nun nach Wächtershagen zurückgekehrt, angeblich um die Wohnung ihrer Großmutter aufzulösen. Der Leser wird schnell darauf gestoßen, dass sie etwas von Eck wollte. Und dies hängt auch mit dem damaligen Fall, dem Mord an Jutta Timm zusammen, denn Jutta war Regines große Schwester.

Als sie ihm sagte, wer ihre Schwester ermordet hat, zuckte Ludi nicht mal mit der Wimper. Fragte nicht: „Bist du sicher?“ Oder: „Wieso glaubst du das?“
Alles, was Ludi dazu anmerkte, war: „Oha.“ Und dass sie gut auf sich aufpassen müsse. „Wer es so weit nach oben geschafft hat, der räumt nicht so mir nichts dir nichts den Sessel. Wenn du verstehst, was ich meine.“ (Auszug E-Book Pos. 4051).

Susanne Tädger war Richterin in Karlsruhe, lebt inzwischen im Ausland und hat dennoch eine Verbindung in die DDR, denn ihre Eltern stammten von dort. Eine Reportage über einen ungelösten DDR-Mordfall aus der Süddeutschen Zeitung war Auslöser dieses Romans. Die Autorin versteht sich dabei als Meisterin der leisen Töne. Sie dringt tief in die Biografien der zentralen Figuren vor, die alle Traumata erlitten haben. Bei Groth und Regine Schadow über die Erzählperspektive, bei Eck indirekt über diejenigen, die über ihn berichten. Damit erzählt der Roman oft weniger von einem Mordfall, sondern von Brüchen, Umwälzungen, Schicksalsschlägen im Leben der Figuren. Das Ganze wirkt organisch, authentisch und verweist auf andere Literatur. Groth wird als „Literat“ von den Kollegen verspottet, der „Hungerkünstler“ von Kafka spielt eine Rolle, zudem liest er in Texten von Eck, der eine Art Liedermacher war. Insgesamt dringen Groth und Regine von unterschiedlichen Seiten langsam zur Lösung der Geschichte vor, die, man ahnt es bereits, keine vollständige Erlösung bieten kann. „Das Schweigen des Wasser“ ist ein wirklich guter, sehr stimmiger, unaufgeregter und melancholischer Kriminalroman, der viele Leser verdient hat. Der Blurb auf dem Klappentext vom von uns auch sehr geschätzten Andreas Pflüger kommt nicht von ungefähr.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Das Schweigen des Wassers | Erschienen am 16.03.2024 im Tropen Verlag
ISBN 978-3-608-50194-0
336 Seiten | 17,- €
Als E-Book: EAN 978-3-608-12254-1 | 13,99 €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Christof Weigold | Der böse Vater (Band 4)

Christof Weigold | Der böse Vater (Band 4)

Nach langer Wartezeit und einem Wechsel zum Kampa-Verlag erschien endlich der vierte Band um den deutschstämmigen Privatdetektiv Hardy Engel in Los Angeles. Wir befinden uns im Jahr 1929 und unser Held sitzt seit mehreren Jahren unschuldig im Gefängnis. Völlig unerwartet kommt er auf Bewährung frei. Dafür sorgt der allmächtige Filmmogul und Verleger William R. Hearst unter dubiosen Umständen. Seine Freilassung ist an die Bedingung geknüpft, herauszufinden, wer den Tycoon erpresst.

Tod auf der Luxusyacht
Dabei geht es um einen mysteriösen Todesfall, der sich vor fünf Jahren auf Hearsts Luxusyacht Oneida ereignete. Der berühmte Filmpionier und Erfinder des Westerns Thomas Ince erkrankte während seiner Geburtstagsfeier schwer und verstarb kurz darauf vermeintlich an Herzversagen. Es geht um Schüsse, die angeblich gehört wurden und seitdem verstummen in Hollywood die Gerüchte nicht, Hearst sei nicht ganz unschuldig am Tod von Ince. Der unbekannte Erpresser soll im Besitz belastenden Materials sein, dass er dem Staatsanwalt zu übergeben droht. Hardy kann niemandem trauen, alle damals an Bord Anwesenden scheinen etwas zu verbergen, auch sein Auftraggeber verrät nicht die volle Wahrheit. Aber Hardy bleibt seinem Ruf treu, er will ohne Rücksicht die Wahrheit herausfinden und gerät bald zwischen die Machenschaften der großen Filmschaffenden.

„Wir müssen dringend sparen und ein Stummfilm wäre so dermaßen viel billiger!“ gab Uncle Carl zu bedenken. „Man sieht die Männer ja auch so fallen, ist das nicht ohne Ton viel unheimlicher?“ assistierte Bergerman. „Nein“, sagte ich und wechselte einen Blick mit Junior. „Die Schüsse, das Pfeifen und die Schreie, das ist der Krieg! Glauben Sie einem Veteranen!“ (Auszug Seite 429)

Einer davon ist der schwäbisch-stämmige Filmmogul Carl Laemmle, der seinem Sohn Julius „Junior“ Laemmle zum 21. Geburtstag die Universal Filmstudios übergibt. Junior will den Bestseller von Erich Maria Remarque „Im Westen nichts Neues“ gegen den Willen seines Vaters Carl Laemmle als Tonfilm herausbringen. Er überredet Kriegsveteran Hardy für dieses Projekt als Berater zur Verfügung zu stehen. Für Hardy, der immer noch unter seinen Kriegserlebnissen des 1. Weltkrieges leidet, kein einfaches Unterfangen. Und wäre das nicht genug Sorge, sucht er immer noch nach seiner Freundin Polly Brandeis, die schwanger nach einigen Besuchen im Knast spurlos verschwand.

Vom Stummfilm zum Tonfilm
Wie schon in den drei vergangenen Bänden der historischen Krimireihe schildert Christof Weigold das vielfältige Leben in Hollywoods goldenem Zeitalter. Die Traumfabrik hat sich in den fünf Jahren, die Engel einsaß, schon wieder stark verändert, es gibt viel mehr Stars, bereits Touristen und einen höheren Glamourfaktor. Weigold hat erneut hervorragend recherchiert, geschickt reale Fakten mit Fiktion verknüpft und fängt das Flair dieser Zeit wirklich gut ein. Die Filmindustrie befindet sich auf der Schwelle vom Stummfilm zum Tonfilm. Der Wandel bringt neue Stars hervor, bedeutet für manchen Stummfilmstar aber auch das Ende der Karriere. Unter anderem befürchtete die Schauspielerin Marion Davies, jahrelange Geliebte Hearsts aufgrund ihres Stotterns auf dem Abstellgleis zu landen.

Die Zeit um 1929 ist eine höchst instabile, die Prohibition ist noch aktuell, der Börsencrash steht unmittelbar bevor. Filmstudios stehen am Rand der Pleite, werden aufgekauft. Es geht um Macht, feindliche Übernahmen und das ganz große Geld, wobei Hearst einer der wirklich großen Player ist. Wir begegnen bekannten Schauspielerinnen und Schauspielern mit komplizierten Liebesleben. Es gibt ungewollte Schwangerschaften, heimliche Kinder, falsche Mütter und böse Väter. Wir begleiten Harry nicht nur zum Dreh von „Im Westen nichts Neues“, sind auch auf den aufregendsten Partys dieser Zeit dabei, wo er Größen wie der nackten Greta Garbo begegnet, treffen Charlie Chaplin im ältesten Restaurant Hollywoods „Musso & Frank‘s“ oder verfolgen die Intrigen der ersten Oscar-Verleihung, bevor es dann noch mal spannend auf einem Casinoschiff wird, auf dem sich die vergnügungs- uns spielsüchtigen Amerikaner treffen.

Meine Meinung
Ich bin wieder so gerne in diese alte Hollywood-Welt eingetaucht. Ich mag einfach den lässigen, humorvollen aber auch ausschweifenden Erzählstil Weigolds. Es ist amüsant, wenn Harry auf einer Kostümparty auf dem Hearst-Anwesen einem hübschen Jungen namens Jack Kennedy begegnet, der sich als US-Präsident Teddy Roosevelt verkleidet. Dramatisch wird es, wenn Engel mit der jüdischen Laemmle-Familie im Zeppelin in die alte Heimat fliegt und in Wilhelmshafen auf jubelnde Nazis stößt. Interessant, wenn sie in Berlin versuchen, den charismatischen Remarque zu überreden, die Hauptrolle zu übernehmen.

Ein großer Lesespaß auf über 600 Seiten besonders für Filmfans, mit einigen gewagten Handlungssprüngen. Ich bin gespannt auf den nächsten Band, es gibt ja noch einige unaufgeklärte sowie legendäre Skandalfälle.

Funfact: Orson Welles portraitierte 1941 in seinem legendären, von vielen Filmkritikern als bester Film aller Zeiten gewählten Klassiker „Citizen Kane“ die Beziehung zwischen William Randolph Hearst, dem Erfinder der Boulevard-Presse und seiner Geliebten Marion Davies.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Der böse Vater | Erschienen am 28. August 2023 im Kampa Verlag
ISBN 978-3-311-12068-1
624 Seiten | 28.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Andys Rezensionen zur Hardy Engel-Reihe von Christof Weigold