Monat: Mai 2024

Tomasz Duszyński | Glatz

Tomasz Duszyński | Glatz

„Sie sind ein gescheiter Mann, Herr Klein. Sie wissen, was für Schrecken Krieg verbreitet. Und was hier geschieht, ist gewissermaßen der Beweis für den fortschreitenden Wahnsinn. […] Die Morde passieren zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt. Sie sind das Symptom einer Krankheit, die nicht nur unser kleines Glatz hier am Rande Deutschlands, sondern das ganze Reich zerfrisst.“ (Auszug S.165)

Frühjahr 1920: Die Kleinstadt Glatz in Niederschlesien, südlich von Breslau, war von den Kriegshandlungen des ersten Weltkriegs nicht betroffen, hat aber dennoch erheblich mit den Nachwirkungen zu kämpfen. Neben den Kriegsheimkehrern und den Auswirkungen des Versailler Vertrags gibt es zudem im Hintergrund noch tschechische Gebietsansprüche auf die alte Grafschaft Glatz. Da kommt es innerhalb kürzester Zeit zu zwei Morden. Zunächst wird der Major Peschke von einem Scharfschützen auf offener Straße erschossen, wenig später wird die verstümmelte Leiche des Stadtrats Dinter an der Brücktorbrücke aufgehängt aufgefunden.

Der Bürgermeister lässt alte Kontakte spielen und so kommt der Sohn seiner Cousine, der Militärermittler Wilhelm Klein, in die Stadt und nimmt mit zwei abgestellten Polizisten unabhängig die Ermittlungen auf – sehr zum Ärger der städtischen Polizei und der Militärgendarmerie. Klein ist ein geheimnisvoller Mann, von zahlreichen Narben entstellt. Er war offenbar Spion im Krieg und entkam aus französischer Gefangenschaft, man erzählt Geschichten, wie er sich bei seinen Folterern rächte. Klein verfügt über enorme ermittlerische Fähigkeiten, hat ein selbstbewusstes Auftreten und dennoch schleppt er ein Kriegstrauma mit sich herum, betäubt sich mit Opiaten. Als ein dritter Mord geschieht, wird klar, dass die Opfer nicht zufällig gewählt wurden. Doch die Botschaft der Täter ist unklar und sorgt für zusätzliche Unruhe in Glatz.

Tomasz Duszyński ist Journalist, Schriftsteller, Computerspielautor und Bibliothekar. Seine Familie stammt aus Kłosdzko, wie Glatz im Polnischen heißt. „Glatz“ erschien 2019 im polnischen Original, inzwischen sind vier Bände dieser historischen Krimireihe erschienen. Die Wahl auf Glatz als Schauplatz einer historischen Krimireihe ist durchaus reizvoll, Reihen, die in den 1920er Jahren in diversen deutschen Großstädten spielen, gibt es nun wahrlich genug. Tatsächlich lässt Duszyński die bürgerliche Kleinstadt an der Neiße, Verwaltungssitz der Grafschaft Glatz und Sitz alter böhmischer und preußischer Festungsbauten, sehr lebhaft vor des Lesers Augen auferstehen.

Der eigentliche Kriminalfall erscheint hingegen sehr verworren, wird erst ganz zum Schluss aufgerollt und erscheint im Nachgang etwas zu sehr daraufhin konstruiert, den thematischen Bogen hin zur fragilen Stimmungslage in der neuen Republik im Allgemeinen und im beschaulichen, aber angespannten Glatz im Besonderen zu schlagen. So werden immer neue Drahtzieher hinter den Morden vermutet und durch die Stadt getrieben: Juden, Freimaurer, Nazis. Das gibt natürlich einen Vorgeschmack auf kommende historische Entwicklungen, ist mir hier aber in der Verdichtung einen Tick zu konstruiert. Nichtsdestotrotz bleibt „Glatz“ aufgrund der komplexen Figuren, des kontiniuerlichen Spannungsbogens und vor allem durch das sehr gelungene Setting ein lesenswerter Roman, der seine eigene Nische unter den zahlreichen historischen Krimialromanen, die zu ähnlicher Zeit spielen, gefunden hat.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Glatz | Erschienen am 01.03.2024 im Jaron Verlag
ISBN 978-3-89773-891-1
336 Seiten | 18,- €
Originaltitel: Glatz | Übersetzung aus dem Polnischen von Markus Schnabel
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Rebecca F. Kuang | Yellowface

Rebecca F. Kuang | Yellowface

In der Nacht, in der ich Athena Liu sterben sehe, feiern wir ihren Vertrag mit Netflix. (Auszug Anfang)

Die beiden, die hier feiern, sind zwei junge Autorinnen, June Hayward und Athena Liu, die sich noch aus Studientagen in Yale kennen. Eng befreundet sind sie nicht, sie verbindet eine lockere Bekanntschaft. Im Gegensatz zu June ist Athena sehr erfolgreich. Die schöne Sino-Amerikanerin ist eine Bestseller-Autorin und der aktuelle Shooting-Star der Verlagswelt. Junes Debütroman floppte, sie ist neidisch auf Athena, die alles hat, was sie auch gerne hätte. Missgünstig reduziert sie Athenas Erfolg auf deren gutes Aussehen und vermutet, dass ihre chinesische Herkunft für den Erfolg nicht irrelevant sei.

In Athenas Wohnung feiern sie den neuesten Erfolg, als diese tragisch verunfallt und stirbt. Kurz vorher hatte sie June noch ihr grade zu Ende gebrachtes Romanmanuskript gezeigt, wie immer typisch für Athena, auf einer klassischen Schreibmaschine geschrieben. Ohne groß nachzudenken, steckt June das noch nicht veröffentlichte Manuskript ein. Es ist die Geschichte chinesischer Arbeiter, die von der britischen und französischen Armee im Ersten Weltkrieg an die alliierte Front geschickt wurden. Obwohl erst nur eine Rohfassung, erkennt June sofort, welches Meisterwerk sie in den Händen hält. Viel zu gut um nicht veröffentlicht zu werden, und es zu überarbeiten fällt June leichter als eine ganz neue Geschichte zu schreiben. June überarbeitet den Text und gibt ihn schließlich als ihren aus. Über ihren Agenten verkauft sie „Die letzte Front“ für einen schwindelerregend hohen Vorschuss an einen kleinen aber renommierten Verlag namens Eden. Einige Änderungen werden vorgenommen, um es für den großen Markt lesbarer zu machen. June ist nicht zimperlich und streicht chinesische Namen oder kulturelle Anspielungen und baut sogar eine kleine Liebesgeschichte ein. Auch als der Verlag ihr vorschlägt, unter dem Namen Juniper Song zu veröffentlichen, da dieser Name ambivalenter wahrgenommen wird als Hayward, ist sie nicht zögerlich.

Und schon entsteht, wie aus dem Nichts, meine öffentliche Persona. Mach’s gut, June Hayward, unbekannte Autorin von Jenseits der Bäume. Hallo Juniper Song, Autorin des größten Literaturhits der Saison – geistreich, enigmatisch, die beste Freundin der verstorbenen Athena Liu. (Auszug Seite 88, 89)

„Die letzte Front“ wird ein Bestseller und zu Junes großem Durchbruch. Alle reißen sich um sie und den Roman. June, die immer nach literarischer Anerkennung strebte, kann endlich den Ruhm genießen. Sie ist der neue Stern am Autorenhimmel, ist wochenlang in den Bestsellerlisten und verteilt Autogramme auf Lesungen.

Bis dann plötzlich die Stimmung kippt. Es werden erste Vorwürfe laut und es mehren sich Kritiker in den sozialen Medien, die ihr vorwerfen, als weiße Frau mit der Geschichte vom Leid der chinesischen Arbeiter zu profitieren. Dann tauchen erste Verdächtigungen auf, die ihr Plagiat vorwerfen. June verfolgt beinahe obsessiv die Diskussion, die online stattfindet. Es ist eine Zusammenballung von Tweets, Memes, Shitstorms, YouTube Videos, Hassnachrichten und sogar Todesdrohungen. Nach dem Bestseller sind die Erwartungen an ihr nächstes Werk groß. Dadurch entsteht neuer Druck, denn ihr fällt gar nichts ein. June gerät immer tiefer in die Abwärtsspirale und die Erzählung wird immer temporeicher. Irgendwann fühlt sie sich sogar von Athinas Lius Geist verfolgt bis hin zu Wahnvorstellungen.

Zum ersten Mal seit ich das Manuskript abgegeben habe, überkommt mich ein tiefes Schamgefühl. Das ist nicht meine Geschichte, mein Erbe. Das ist nicht meine Community. Ich bin eine Außenseiterin, die sich ihre Liebe erschwindelt. Athena sollte hier sitzen, mit diesen Leuten lachen, Bücher signieren und sich die Geschichte ihrer Ältesten anhören. (Auszug Seite 146)

Ist es den Hype wert?
Yellowface ist eine klug beobachtete Satire auf den Literaturbetrieb aber auch ein rasanter, dynamischer sowie kluger Verlagswelt-Thriller, mit einigen Momenten witziger Überzeichnung, den ich kaum aus der Hand legen konnte. Kuang schreibt in klaren, schnörkellosen Sätzen, pointiert, scharfzüngig und in umgangssprachlichem Ton. Die aktuellen Themen und Debatten, Alltagsrassismus in der elitären Verlagswelt, Aneignung fremder Werke werden noch um die ethische Komponente erweitert und es geht auch um kulturelle Aneignung im Buchmarkt. Dabei fand ich die Einblicke in die Buchindustrie hochinteressant, zum Beispiel den Einsatz von Sensitivity Readern, um problematische Darstellungen anderer Kulturen zu vermeiden. Oder die Mechanismen und für mich besonders spannend die Rezensionskultur in den Sozialen Medien. Die Ich-Perspektive funktioniert dabei richtig gut, denn anhand von June fühlen wir mit, wie sich Misserfolg aber auch Einsamkeit in dieser hart umkämpften Branche anfühlt. Ganz klassisch ist June dabei eine unzuverlässige Erzählerin, die sich und uns was vormacht. Sie bereichert sich an einer fremden Geschichte und trotz einiger Gewissensbisse wird sie nicht müde, die Realität mit selbstgerechten Rechtfertigungen zu verdrehen oder eiskalt Athenas trauernde Mutter zu belügen. Wenn June nach Chinatown fährt mit Pfefferspray in der Tasche wird klar, dass die vermeintlich liberale Mittelschicht vielleicht doch nicht so reflektiert ist, wie sie denkt. Aber auch die glorifizierte Athena Liu entpuppt sich als doch nicht so heilig. Auch sie scheute sich nicht vor rücksichtslosen Methoden bei der Beschaffung von schriftstellerischem Material zurück. Im Mittelteil wiederholen sich einige Motive, bevor es zum Schluss wieder temporeicher mit ganz traditionellen Spannungselementen wird.

Autorin
Rebecca F. Kuang ist der aktuelle Shooting Star der amerikanischen Buchlandschaft. In ihrem aktuellen Roman „Yellowface“ verlässt die erfolgreiche Fantasy-Autorin ihren bisherigen Bereich und kombiniert unterschiedliche Genres. Ein kluger Schachzug, dass die Amerikanerin mit chinesischen Wurzeln, die Geschichte aus einer weißen Perspektive erzählen lässt.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Yellowface| Erschienen am 29.02.2024 im Eichborn Verlag
ISBN 978-3-84790-162-4
384 Seiten | 24,- €
Originaltitel: Yellowface | Übersetzung aus dem Englischen von Jasmin Humburg
Bibliografische Angaben & Leseprobe