
Kate Atkinson | Nacht über Soho
Nellie war müde. Vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben erschöpfte sie der unbarmherzige Tatendrang, der notwendig war, um ihre Leben voranzutreiben. Der anker des Amethyst, das Gewicht ihres gesamten Imperiums, zog sie nach unten. (Auszug E-Book Pos. 650).
Frühjahr 1926: Nach einer kurzen Haftstrafe wegen Verstöße gegen Schankbestimmungen wird Nachtclubkönigin Nellie Coker aus der Haft entlassen. Unter einem großen Menschenauflauf kehrt sie standesgemäß in ihr Reich aus mehreren Clubs zurück. In den Jahren des ersten Weltkriegs fiel ihr Hehlerware bestehend aus kostbarem Schmuck in die Hände, welche sie geschickt eingesetzt hat und nach und nach zur Besitzerin erfolgreicher Nachtlokale wurde. Sie bewegt sich allerdings natürlich immer noch im Dunstkreis der kriminellen Gangs von London. Ihre fünf Clubs namens Pixie, Foxhole, Sphinx, Crystal Cup und Amethyst zählen zu den angesagtesten Locations des Londoner Nachtlebens. Mitglieder der Königsfamilie, Stars und solche, die werden wollen und die sonstige High Society tummeln sich dort. Doch die Clubs sind auch im Visier von anderen: Von Rivalen, die sich das Imperium gerne unter den Nagel reißen würden oder alte Rechnungen beglichen haben wollen. Und von der Polizei, konkret von John Frobisher. Ihm missfällt das halblegale Reich, dass sich Nellie Coker aufgebaut hat. Vor allem aber glaubt er, dass die Königin von Soho irgendetwas mit den zahlreichen Mädchen zu tun hat, die in der Londoner Nacht verschwinden und von denen einige ertrunken aus der Themse gezogen werden.
Frobisher möchte hierzu undercover die ehemalige Krankenschwester und Bibliothekarin Gwendolen Kelling bei den Cokers einschleusen. Gwendolen hat sich dazu bereit erklärt, weil sie tatsächlich nach zwei Mädchen aus ihrer Heimat York sucht. Freda und Florence sind ausgerissen und nach London gefahren, um hier – wie so viele minderjährige Mädchen – im Glück als als Tänzerinnen zu versuchen. Doch von den beiden fehlt jede Spur (der Leser begleitet die beiden allerdings durch den Moloch London) und so will Gwendolen Frobisher helfen. Das Vorhaben scheint zu funktionieren, denn als es in einem Club zu einem Schusswechsel kommt, kann sich Gwendolen als Ersthelferin profilieren und erhält ein Jobangebot von Nellie Coker. Doch wie entwickelt sich ihr Verhältnis zu Nellies ältestem Sohn Niven, der Gwendolen einige Tage zuvor zufällig behilflich war, als sie von Diebinnen ausgeraubt wurde?
„Sagen Sie, Miss Kelling, was bedeuten sie Ihnen? Diese Mädchen.“
„Es sind Mädchen, die vermisst werden, Miss Shelbourne, das bedeuten sie mir.“
„Ich würde es in den Nachtclubs versuchen, wenn ich Sie wäre. Mädchen wie Freda sind Frischfleisch für die Nellie Cokers dieser Welt. Sie verschlingen sie. […]“ (Auszug E-Book Pos. 2069).
Und so spannt Kate Atkinson ein faszinierendes Panoptikum über London in den Goldenen Zwanzigern. Dabei schöpft sie aus einem üppigen Figurenpersonal. Neben Nellie Coker, Inspektor Frobisher, Gwendolen Kelling und Freda sind dies vor allem Nellies fünf erwachsene Kinder Niven, Ellen, Betty, Shirley und Ramsey. Sie sind alle in den Familienbetrieb involviert, allerdings in unterschiedlicher Tiefe und mit unterschiedlichem Engagement. Über einen allwissenden Erzähler, mit multiperspektiver Erzählweise und teilweise zeitlichen Rückblicken wird ein enger Einblick auch in das Private der Figuren gewährt.
Die Britin Kate Atkinson ist seit nunmehr dreißig Jahren erfolgreiche Autorin, die ihre Romane, wenn nicht direkt dem Krimigenre zugerechnet (etwa ihre Jackson Brodie-Reihe), oft am Rande des Genres ansiedelt. So ist auch „Nacht über Soho“ kein klassischer Krimi oder Thriller, sondern ein historischer Roman mit klaren Genrebezügen. Als deutscher Leser fällt als Bezugspunkt natürlich die Gereon Rath-Reihe von Volker Kutscher ein oder eher noch die Serienadaption „Babylon Berlin“. Anders als dort legt Atkinson allerdings keinen Schwerpunkt auf die politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen. Stattdessen konzentriert sie sich beim Setting auf den konkreten historischen Moment. Inspiriert wurde sie, wie sie im Nachwort erwähnt, vom Leben von Kate Meyrick, die damals für viele Jahre Königin der Clubs von Soho war und der die Figur Nellie Coker nachempfunden ist.
„Nacht über Soho“ ist ein schillernder historischer Roman, der tief ins Nachtleben Londons der 1920er Jahre führt und eine vergnügenssüchtige Gesellschaft porträtiert, die der traumatischen Vergangenheit nur allzu gerne entfliehen will. Pulsierende Nachtclubs, Künstlerbohéme, das harte Leben auf Londons Straßen, rivalisierende Gangs, korrupte wie integre Polizisten. Dabei beeindruckt vor allem das üppige Personal, das Kate Atkinson gekonnt durch den Roman leitet, und bei dem eindeutig die Frauenfiguren die Handlung dominieren. Insgesamt ein spannender, mitreißender Roman, der die Roaring Twenties nochmal stilecht auferstehen lässt.
Foto und Rezension von Gunnar Wolters.
Nacht über Soho | Erschienen am 13.05.2025 im Dumont Verlag
ISBN 987-3-9505744-0-1
560 Seiten | 22,- €
Originaltitel: Shrines of Gaiety | Übersetzung aus dem Englischen von Anette Grube
Bibliografische Angaben & Leseprobe