Kategorie: Politthriller

Adam LeBor | District VIII

Adam LeBor | District VIII

Budapest, Spätsommer 2015: Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise stranden viele Flüchtlinge in der ungarischen Hauptstadt. Besonders prekär ist die Situation rund um den Bahnhof Keleti pályaudvar. Der Kommissar Balthazar Kovács erhält von einer unbekannten Nummer eine Nummer mit einer Adresse und einem Foto, das einen leblosen, wahrscheinlich toten Mann zeigt, den äußeren Merkmalen nach vermutlich ein Flüchtling. Doch als Balthazar das Gelände erreicht, ein Trümmergrundstück, ist dort keine Leiche. Stattdessen tauchen ein paar finstere Gestalten der Gendarmerie auf, eine neue Polizeieinheit direkt dem Ministerpräsidenten unterstellt, und macht Balthazar klar, dass er hier nicht zu suchen hat. Doch er konnte vorher unbemerkt noch eine SIM-Karte sicherstellen.

Zeitgleich hat auch Eniko Szalai, Journalistin eines erfolgreichen Online-Magazins und Exfreundin von Balthazar, das Foto erhalten und kann bei Recherchen rund um den Keleti eine junge Syrerin ausfindig machen, die ihren Mann vermisst. Wie sich herausstellt, ist auf dem Foto Simon Nazir aus Aleppo. Er konnte seiner Frau nur noch einen Zettel mit dem Wort „Gärtner“ hinterlassen. Hinter dem „Gärtner“ verbirgt sich ein Krimineller, Folterer und Islamist, der nun offenbar in Budapest gesehen wurde. Als Balthazar im Keleti-Bahnhof von Unbekannten verprügelt wird und Enikos Handy im Tumult entwendet wird, arbeiten beide zusammen. Sie müssen nach und nach feststellen, dass die ganze Sache viel größere Ausmaße hat als angenommen, bis hin zum Ministerpräsidenten und der Justizministerin.

Dem Leser wird dies schon früher klar, denn Adam LeBor erzählt aus verschiedenen Perspektiven und schnell wird klar, das Ministerpräsident Pálkovics und Justizministerin Bárdossy ihr eigenes Süppchen kochen, es geht um Geschäfte mit arabischen Investoren, Schwarzgeldkonten, offizielle ungarische Pässe, die illegal ausgestellt werden, radikale Islamisten, die mit dem Flüchtlingsstrom in den Westen einreisen, Geschäfte mit illegalen Schleppern. Auch ausländische Geheimdienste sind involviert sowie kriminelle Banden in Budapest. In dieser Gemengelage stechen Balthazar und Eniko in ein Wespennest, werden aber auch teilweise von Dritten zum eigenen Vorteil benutzt.

„Aber jetzt zählte Budapest wieder, was bedeutete, sie brauchten sie. Internationale Verbrecherbanden hatten ihre Hauptquartiere in der Stadt aufgeschlagen, […]. Budapest war ein Tor zum Westen – für jeden, von den Triaden Hongkongs bis zu korrupten amerikanischen Konzernen… und jetzt auch noch für Dschihadisten.“ (Auszug E-Book, Pos. 3999)

Das Herausstechende an diesem Roman ist sicherlich die verschiedenen prägnanten Figuren, allen voran die Hauptfigur Balthazar Kovács. Balthazar zählt als Rom zu den Minderheiten in Ungarn und Außenseitern im Polizeiapparat. Umgekehrt aber auch als Polizist in der eigenen Familie, zumal sein Bruder Gáspár eine der Unterweltgrößen Budapests ist. Der Autor beschreibt diese Verhältnisse sehr versiert, gibt immer wieder Einblicke in die Kultur und die Tradition der Roma, ohne Probleme zu verklären. Gleichzeitig zeichnet er ein facettenreiches Bild von Budapest, insbesondere vom titelgebenden XIII. Bezirk, ein Gründerzeitviertel, immer noch zahlreich von Minderheiten bewohnt.

„District VIII“ beginnt mit der Suche nach einer verschwundenen Leiche und einem Mörder, weitet sich aber schnell zu einem rasanten Politthriller mit Verschwörungsszenario aus. Trotz zahlreicher Spannungsszenen nimmt sich Adam LeBor aber Zeit für die Hintergründe seiner Figuren und der Schilderung einer sehr ambivalenten ungarischen Gesellschaft zwischen Demokratie, Korruption, Freiheit, Gastfreundschaft und Rassismus sowie den wachsenden Einflüssen von außen. LeBor widersteht dem simplen Manöver, die Figur des fiktiven Ministerpräsidenten Victor Orban nachzuempfinden, sondern installiert stattdessen einen fiktiven Sozialdemokraten (und Ex-Kommunisten), um zu zeigen, dass das Problem der schwierigen Demokratie und kleptokratischen Politikerkaste mitnichten an einer Partei festzumachen ist. Bei minimalen Abstrichen (etwa der Überspitzung mancher Szenen oder etwas zu ausführlichem kulturellem Dozieren) gelingt dem Autor, der viele Jahre als britischer Korrespondent in Ungarn tätig war, eine lesenswerte Mischung aus Krimi und politischem Thriller mit einem sehr spannenden Setting. Drei Romane um Balthazar Kovács (der englische Verlag scheut nicht den Begriff „Gypsy Cop“) hat Adam LeBor bereits veröffentlicht, bleibt zu hoffen, dass diese bald ebenfalls in deutscher Übersetzung erscheinen.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

District VIII | Erschienen am 15.01.2023 im Polar Verlag
ISBN 978-3-948392-66-6
400 Seiten | 26,- €
Originaltitel: District VIII | Übersetzung aus dem Englischen von Jürgen Bürger
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Oliver Bottini | Einmal noch sterben

Oliver Bottini | Einmal noch sterben

Sein Leben kann nur so enden. Hier, an diesem Tag, die Mündung seiner eigenen Pistole am Kopf. Weil er nichts versteht von dem Leben, das er sich ausgesucht hat.
Er wartet auf die Kraft der Verzweiflung, doch sie kommt nicht. Wie auch, er ist in diesem einen langen Krieg zu viele Tode gestorben.
Einmal noch sterben, denkt er fast erleichtert. Dann ist dieser lange Krieg endlich vorbei.
Er hört den Tod, spürt ihn nicht. (Auszug E-Book Pos. 2666)

Am 05. Februar 2003 hatte US-Außenminister Colin Powell einen großen Auftritt im UN-Sicherheitsrat. Anhand angeblicher Quellen und mit zahlreichen Fotos und Satellitenaufnahmen garniert, lieferte Powell vermeintlich die Beweise für ein Bio- und Chemiewaffenprogramm von Iraks Diktator Saddam Hussein. Damit war trotz Gegenmeinungen und Weigerung einiger Verbündeter (u.a. Deutschland) der Weg frei für den zweiten Irakkrieg und den Sturz des Saddam-Regimes. Stabilität und Demokratie hat dies nicht wirklich in die Region gebracht.

Die Hauptquelle für die Amerikaner war damals eine Quelle des BND, der irakische Asylbewerber Rafid Ahmed Alwan, genannt Curveball. Er lieferte aus Sicht des BND zunächst glaubhafte Aussagen, als Ingenieur am Bio- und Chemiewaffenprogramm des Irak beteiligt gewesen zu sein. Aussagen, die die Amerikaner mangels eigener Quellen gerne aufnahmen. Nach und nach wurde Curveballs Glaubwürdigkeit in Zweifel gezogen, zumal im Laufe des Irakkriegs keine entsprechenden B- und C-Waffenarsenale gefunden wurden. 2011 gab Alwan schließlich zu, hierüber gelogen zu haben. Soweit die historische Ausgangslage für Oliver Bottini, die er nun in seinem neuesten Politthriller verarbeitet hat und um eine interessante Variante ergänzt: Was, wenn BND und die Amerikaner schon früh von Curveballs Lügen wussten bzw. ihn bewusst zu einer falschen Quelle aufgebaut haben?

Im Frühjahr 2003 steckt die deutsche rot-grüne Regierung in einer ungünstigen Lage. Deutschland hat nach 9-11 am Feldzug gegen al-Qaida in Afghanistan teilgenommen, eine Beteiligung an einem Krieg im Irak aber auch aus wahltaktischen Gründen früh ausgeschlossen. Aber ausgerechnet eine Quelle des BND liefert den Amerikanern den Kriegsgrund. Das Kanzleramt und der Geheimdienstkoordinator möchten Curveball auf den Zahn fühlen und beauftragen die BKA-Beamtin Hanne Lay, Curveball zu befragen. Zeitgleich meldet sich der französische Geheimdienst: Eine Informantin in Bagdad kann angeblich Beweise gegen Curveball liefern. Die Deutschen sollen helfen, die Informantin und die Beweise zu sichern. Somit schickt der Geheimdienstkoordinator ein Team des BND nach Bagdad. Entwicklungen, die einigen Personen im deutschen Geheimdienstmilieu überhaupt nicht gefallen. Curveball als glaubwürdiger Zeuge muss unter allen Umständen geschützt werden. Dafür ist man auch bereit, eigene Leute zu opfern.

Drei Personen stellt Autor Oliver Bottini ins Zentrum der Geschichte, die sich vorwiegend in ihren Perspektiven abwechseln. Frank Jaromin ist BND-Agent, abkommandiert von der Bundeswehr und als Scharfschütze im Einsatz. Seine Familie weiß nichts von seinen Geheimoperationen, sie zerbricht so langsam unter den Heimlichkeiten und seinen Dämonen, die er mit Tabletten und Alkohol bekämpft. Jaromin ist vor allem von seiner Frau und seinem 14jährigen Sohn entfremdet, einzig seine 11jährige Tochter Alina hat noch eine enge Bindung zu ihm. Jaromin wird – so viel darf ich spoilern – zum Sündenbock für den verpatzten Einsatz in Bagdad. Hanne Lay ist Sonderermittlerin des BKA im Auftrag des Kanzleramts, muss sich aber der Täuschungs- und Tarnungsaktion des BND erwehren. Ihre Gegenmaßnahmen bringen sie selbst aber in hohe Gefahr. Persönlich leidet sich bis heute unter dem Trauma, dass als sie noch ein Kind war, ihre Eltern in ihrem Beisein von einem Einbrecher ermordet wurden und der Mörder nie gefasst wurde. Letztlich Hans Breuninger, ehemaliger Präsident des BND, immer noch gut vernetzt und Kopf einer Geheimgruppe, die eng mit konservativen Kräften in den USA zusammenarbeitet. Ein alter Mann, dem nicht viel bleibt außer seinem alten Hund und ein nicht zu unterschätzender Rest an Macht, und an dem der Tod seines Sohnes nagt, der beim Einsturz des World Trade Centers ums Leben kam.

Männer wie Sie, die gegen die Drachen kämpfen und dabei blind und taub geworden sind in ihrer vermeintlichen Unentbehrlichkeit. Blind tappen sie in schlichte Fallen, taub hören sie Wörter, die nicht gefallen sind, unfehlbar töten sie Menschen, die sie hätten beschützen müssen. Und damit sie bleiben, wie sie zu sein glauben, manipulieren sie ihren Körper mit Medikamenten, den Verstand mit Alkohol, die Seele mit ihren Legenden. (Auszug E-Book Pos. 3238)

Oliver Bottini ist neben seiner Reihe um die Freiburger Kommissarin Louise Boní (die auch immer sehr politisch war) als versierter Autor von Stand-Alone-Politthrillern bekannt, etwa „Ein paar Tage Licht“ über deutsche Waffenexporte ins instabile Algerien. Nun hat er sich des Falls „Curveball“ angenommen und präsentiert eine alternative fiktionale Version mit einer Geheimgruppe, einem Staat im Staate, der genug Macht besitzt, um offizielle Missionen des Kanzleramts und des BKA zu sabotieren und dabei den Tod deutscher Polizeibeamten oder Geheimdienstagenten in Kauf zu nehmen. Eine interessante Version, die man am Ende zumindest in Betracht zieht, wenn man die ganzen Lügen rund um den Irakkrieg im Nachhinein betrachtet.

Dabei entpuppt sich Bottini wieder einmal als begnadeter Autor, der die richtige Mischung aus spannenden und durchaus actionreichen Einsatzszenen, politisch-geheimdienstlichem Hintergrundplot und persönlichen Dramen der Betroffenen findet und auch mit literarischem Anspruch zu Papier bringt. „Einmal noch sterben“ beweist wieder einmal des Autors herausragender Stellung in diesem Genre.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Einmal noch sterben | Erschienen am 16.08.2022 im Dumont Verlag
ISBN 978-3-8321-8251-9
432 Seiten | 25,- €
als E-Book: ISBN 978-3-8321-8251-9 | 19,99 €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Weitere Rezensionen zu Romanen von Oliver Bottini hier auf dem Blog

Abgehakt | Kurzrezensionen Juni 2022

Abgehakt | Kurzrezensionen Juni 2022

Unsere Kurzrezensionen zum Ende Juni 2022

 

 

Kotaro Isaka | Bullet Train

Der japanische Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen rast von Morioka nach Tokio. Mit an Bord sind 5 Killer, die unterschiedlicher nicht sein können, jeder mit einem speziellen Auftrag. Da ist das ungleiche Killerduo Lemon und Tangerine. Die beiden „Zitrusfrüchte“ sitzen zusammen mit dem Opfer einer Entführung samt Lösegeld und wollen den Sohn des gefährlichsten Unterweltbosses Tokios, Minegeshi Junior, heil nach Hause bringen. Doch Murphys Gesetz schlägt zu: Zuerst kommt der Koffer mit dem Geld abhanden, dann verstirbt auch noch das Entführungsopfer auf mysteriöse Weise. Nanao wiederum, ein junger Killer, bekam telefonisch den Auftrag, den Koffer an sich zu nehmen und umgehend an der nächsten Station wieder auszusteigen. Da „Der Marienkäfer“ allerdings der größte Pechvogel aller Zeiten ist, endet der einfach klingende Job im Chaos und es geht schief, was schief gehen kann. Außerdem befindet sich der ehemalige Auftragskiller Yuichi Kimura im Zug, um sich zu rächen, weil man seinen Sohn Wataru vom Dach eines Kaufhauses gestoßen hat und dieser seitdem im Koma liegt. Schuld daran soll der erst 14-jährige Schüler Oji sein, der sich ebenfalls im Shinkansen aufhält. Der harmlos wirkende „Prinz“ ist ein richtiger Psychopath mit krimineller Energie, der es sehr gut versteht, kaltblütig aber auch mit absoluter Empathielosigkeit andere Menschen zu manipulieren.

Während der Zug seinem Endziel entgegen rauscht, kommen sich die Ganoven selbstverständlich gegenseitig in die Quere und alles spitzt sich immer mehr zu. Spannung entsteht auch, da das Geschehen auf den begrenzten Raum der Zugabteile eingeengt ist und die Gestalt eines Kammerspiels annimmt. Die Geschichte kann richtig Spaß machen, wenn man sich auf die völlig absurden Wendungen und abgedrehten Todesfälle einlässt. Besonders im letzten Drittel nimmt die Handlung noch mal richtig Fahrt auf und konnte mich recht gut unterhalten. Die Handlung, wie auch die Figuren sind extrem überzeichnet. Ich empfand es fast als Parodie auf das Genre. Sehr überrascht haben mich die angeblich besten Profikiller der Branche, Lemon und Tangerine, die doch oft wie Vollidioten agierten. Viele Rückblenden, die für Erklärung sorgen sollen, bremsen immer wieder den Hochgeschwindigkeitsthriller aus. Für mich ein durchschnittlicher Thriller von einem in Japan preisgekröntem, hierzulande aber noch relativ unbekanntem Autor. Bullet Train ist der erste ins Deutsche übersetzte Roman von Kotaro Isaka.

Im Juli kommt die Verfilmung mit Brad Pitt und Sandra Bullock in die Kinos, und als Film kann ich mir die Story ganz gut vorstellen, auch weil die Szene, die mir im Buch am besten gefallen hat, tatsächlich die ist, die im Trailer gezeigt wird.

 

Bullet Train | Erschienen am 02.04.2022 im Hoffmann und Campe Verlag
ISBN 978-3-45501-322-1
384 Seiten | 22,- €
Originaltitel: マリアビートル (Mariabitoru) (Übersetzung aus dem Japanischen von Katja Busson)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3 von 5
Genre: Thriller

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

 

 

Horst Eckert | Das Jahr der Gier (Band 3)

In der Düsseldorfer Altstadt wird ein britischer Journalist Opfer eines brutalen Angriffs. Der Mann ist ein alter Bekannter der Kriminalrätin Melia Adan, weshalb sie diesen Vorfall näher betrachtet als vielleicht üblich. Kurz darauf wird die Leiche einer jungen Frau in einem Wäldchen am Stadtrand gefunden, inszeniert als Sexualmord. Doch Hauptkommissar Vincent Veih und sein Team vermuten schnell ein anderes Motiv. Die Spur in beiden Fällen führt schließlich in die Nähe von München zum aufstrebenden Finanzdienstleister Worldcard AG.
Dort hat gerade der Ex-Polizist Sebastian Pagel einen neuen Job beim COO von Worldcard, Marek Weiß, erhalten. Pagel war zum Sündenbock auserkoren worden, als ein wichtiger Zeuge aus Syrien unter Polizeischutz vergiftet wurde. Der Job beim neuen Börsenschwergewicht Worldcard und dessen Macher Weiß scheint geeignet, das Selbstbewusstsein wieder aufzupäppeln. Doch Pagel ist alarmiert, als plötzlich im Dunstkreis von Weiß Personen auftauchen, die er schon aus seinem Vorgängerjob kennt.

Mit „Das Jahr der Gier“ setzt Horst Eckert die Reihe um die Düsseldorfer Polizisten Adan und Veih fort. Wie gewohnt greift der Autor wieder aktuelle politische und gesellschaftliche Ereignisse auf – in diesem Fall der Wirecard-Skandal, der bis in höchste politische Kreise reicht, aber bislang erstaunlich wenige „Opfer“ gefunden hat. Eckert erzählt gewohnt präzise, in kurzen Kapiteln mit ansteigender Spannung und wechselnden Perspektiven. Er behält das übliche Figurenpersonal bei, auch bei den Antagonisten tauchen alte Bekannte in neuer Funktion wieder auf. Das ist wie gewohnt eine überzeugende Mischung aus Fakten und Fiktion. Eckert bleibt der relevante Autor für Pageturner-Politthriller aus Deutschland.

 

Das Jahr der Gier | Erschienen am 08.03.2022 im Heyne Verlag
ISBN 978-3-453-42637-5
430 Seiten | 13,00 Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3,5 von 5
Genre: Politthriller

 

 

Vladimir Sorokin | Der Tag des Opritschniks

Russland im Jahre 2027: Das Land hat sich vollends vom Westen abgeschottet, lebt nur noch von seinen Energieexporten und pflegt lediglich noch Beziehungen zu China. Alleinherrscher ist der Gossudar. Er hält sich eine Mischung aus Geheimpolizei und Leibgarde – die Opritschniki. Sie werden eingesetzt, um gegen Oppositionelle und vor allem vermeintliche Abtrünnige aus der Schicht der Machthaber und Oligarchen mit aller Härte vorzugehen. Einer dieser Opritschniki ist Andrej Danilowitsch Komjaga. Ihn begleitet der Leser durch einen typischen „Arbeitstag“ – vom brutalen Mord an einem unliebsam gewordenen Adelsmann und der Vergewaltigung dessen Frau am Morgen über einen Korruptionsdeal am Mittag bis hin zu gemeinsamen Orgien am Abend.

Vladimir Sorokin ist einer der bekanntesten zeitgenössischen russischen Autoren und Dramatiker, der auch deutlich gegen die politische Spitze in seinen Werken Stellung bezieht, unter anderem gehörte er zu den Unterzeichnern eines Appells, die Wahrheit über den Krieg in der Ukraine zu verbreiten. „Der Tag des Opritschniks“ erschien bereits im Jahr 2006 und nimmt in Form einer Dystopie mit satirischen Elementen die Entwicklung Russlands bis heute in beängstigender Weise voraus. Sein Russland des Jahres 2027 hat sich international weitgehend isoliert und bei allerlei modernen Einsprengseln kulturell einen Rückschritt in die Zarenzeit unternommen. Die Macht des väterlich beschriebenen Gossudaren wird durch die Opritschniki in einer äußerst brutalen und teilweise obszönen Weise gewahrt. Der Ich-Erzähler Komjaga bedient sich dazu einer schwülstigen, pathetischen Sprache. Die Taten der Opritschniki und deren Machtfantasien sind dabei sehr drastisch beschrieben. Ein sehr bedrückendes Werk mit vielen Bezügen zum aktuellen und historischen Russland, dabei immer wieder mit bösem satirischen Witz, bei dem das Lachen buchstäblich im Halse stecken bleibt.

 

Der Tag des Opritschniks | Erstmals erschienen 2006
Die Neuauflage erschien am 12.04.2022 im Verlag Kiepenheuer & Witsch
ISBN 978-3-462-00410-6
224 Seiten | 13,- €
Als E-Book: ISBN 978-3-462-30105-2 | 9,99 €
Originaltitel: День опричника (Übersetzung aus dem Russischen von Andreas Tretner)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 4,0 von 5,0
Genre: Dystopie

 

 

Martin Krist | Wunderland (Band 8)

Der Berliner Kommissar Paul Kalkbrenner wird ungewöhnlicherweise nach Potsdam wegen eines Leichenfunds gebeten. Die im dortigen Wertstoffhof gefundene männliche Leiche stammt aber aus dem Bioabfall eines Berliner Abholbezirks. Die Identität des Toten ist allerdings nur schwer zu klären, bis ein Hinweis auftaucht, dass der Tote in einem privaten Theater mitspielte. Dort war der Tote im Ensemble nicht gerade beliebt, Untreue, Affären, Streitigkeiten gab es unter den Laienschauspielern. Aber reicht das schon für ein Mordmotiv?

Währenddessen hat die Potsdamer Kommissarin Jamina Stark den Tote vom Wertstoffhof an die Berliner Kollegen abgegeben, dafür muss sie allerdings einen privaten Schicksalsschlag hinnehmen: Ihr Bruder wird tot mit einer Überdosis aufgefunden. Dabei war er doch seit Monaten clean und auf einem guten Weg. Jamina kann sich mit der offiziellen Version einer selbstverschuldeten Überdosis nicht abfinden und recherchiert auf eigene Faust weiter. Parallel erzählt der Autor die tragische Geschichte eines Geschwisterpaares, deren Eltern bei einem Autounfall ums Leben kommen und die nun in ein kirchliches Kinderheim kommen und dort Missbrauch und Demütigung erfahren. Nach und nach schält sich heraus, was diese drei Stränge miteinander zu tun haben.

Autor Martin Krist ist erfolgreicher Selfpublisher und Vielschreiber. Seine Reihe um Kommissar Kalkbrenner umfasst bereits neun Bände (inkl. Eines Kurzgeschichtenbands). Der aktuelle (reguläre) 8.Band „Wunderland“ erzählt im Hintergrund eine sehr bedrückende Geschichte von vernachlässigten Heimkindern und sexuellem Missbrauch und wie dies das ganze Leben der Betroffenen prägt. Das Buch ist zwar als Thriller betitelt, lässt sich dafür aber im Aufbau und bei den Figuren ziemlich viel Zeit. Das geht zwar auf Kosten der Spannung, tut dem Gesamtwerk aber insgesamt ganz gut. Gut gefiel mir auch das Spiel des Autors mit den Zeitebenen, sodass selbst ein versierter Krimileser manches, aber längst nicht alles vorhersehen konnte. Ein wirklich ordentlicher Krimi.

 

Wunderland | Erschienen am 11.04.2022 im Selbstverlag (R&K)
ASIN: ‎ B09TJCN7F6
535 Seiten | 22,99 € (gebunden) | 12,99 € (Taschenbuch) | 0,99 € (E-Book)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3,5 von 5
Genre: Krimi

 

Rezensionen und Fotos 2-4 von Gunnar Wolters.

Ross Thomas | Fette Ernte

Ross Thomas | Fette Ernte

Seit nunmehr 15 Jahren bemüht sich der Alexander Verlag aus Berlin um eine Reputation eines Autors, der international als einer der wichtigsten Autoren des Politthrillers gilt. Ross Thomas war vor seiner Karriere als Schriftsteller, die er Mitte der 1960er im Alter von 40 Jahren begann, als Journalist, Gewerkschaftssprecher, PR- und Wahlkampfberater tätig. Ein reicher Fundus an Erfahrungen, die er in 25 Romane umsetzte. Zweimal gewann er den Edgar Award, gar viermal den Deutschen Krimipreis. 1995 verstarb Ross Thomas. Seine Leser im deutschsprachigen Raum musste allerdings leider zumeist mit mehr oder weniger stark gekürzten Übersetzungen vorlieb nehmen. Seit 2007 erscheint allerdings nun sein gesamtes Werk auf Deutsch vollständig nach und nach in überarbeiteten oder neuübersetzten Fassungen.

Der vorliegenden Stand-Alone „Fette Ernte“ beginnt mit dem 93 Jahre alten, aber noch recht rüstigen ehemaligen Politikberater William „Crawdad“ Gilmore. Gilmore ist mit allen Wassern gewaschen, hat so manche Schweinerei mitgemacht oder wurde als Mitwisser über Konspirationen zum Schweigen verdonnert. Auf der Toilette des Cosmos Club wurde er aber nun unfreiwillig zum Mithörer einer Verschwörung, über die er nicht zu Schweigen braucht. Er will die Sache seinem Anwalt Ancel Easter erzählen und bittet, ihn morgens abholen zu lassen. Dummerweise wird Gilmore im Morgengrauen vor seiner Haustür von zwei Räubern erschossen. Gibt es solche dummen Zufälle? Ancel Easter weiß keinerlei Details, aber die Tatsache, dass Gilmore ihm ein Geheimnis anvertrauen wollte, lässt ihm keine Ruhe. Er beauftragt Jake Pope, privater Ermittler mit millionenschwerem Erbe, sich die Sache mal näher anzusehen. Die einzige Spur führt zu einem Datum: Der 11.Juli. Aber am 11.Juli passiert nichts Wichtiges in Washington. „Highlight“ des Tages ist die jährliche Prognose der Weizenernte durch das Landwirtschaftsministerium. Haha, von wegen Highlight. Hmm, Moment – könnte das vielleicht doch das Ziel der Verschwörung sein?

Er wußte, daß man in dieser Stadt ganz früh am Morgen mit dem Konspirieren begann, damit man es zum Mittagessen erledigt hatte. Man konspirierte, um sich persönlich zu bereichern, um gesetzliche Vorteile zu erlangen, nationale oder internationale Macht und manchmal nur zum Spaß. (Auszug S.8)

Diese desillusionierte Sicht auf den poltischen Betrieb Washingtons ist ein typisches Merkmal der Werke von Ross Thomas. Er beschreibt das Spiel der Macht fast lakonisch, gönnt sich aber dennoch die eine oder andere Spitze. Etwa bei der Beerdigung von Crawdad Gilmore, als er den Besuch des Präsidenten, „kein übermäßig intelligenter Mann“, als plumpe politische Geste entlarvt und der Präsident eine erschreckend belanglose Konversation mit dem „klügsten Mann Washingtons“, Ancel Easter, führt. Thomas stellt heraus, dass sich im „Dschungel Washingtons“ allerhand Personen tummeln, die einen ausgeprägten Willen besitzen, die eigene Macht und das eigene Konto zu vergrößern. Die Verbindungen zum organisierten Verbrechen sind nicht weit, oft nur einen Strohmann entfernt.

In diesem Roman ist tatsächlich die Verkündung der Ernteschätzungen der Fokus der kriminelle Energie. Etwas unbemerkt von sonstigen Börsengeschäfte lässt sich am Rohstoffmarkt tatsächlich im großen Stil spekulieren. Mit Warentermingeschäften lassen sich mit dem richtigen Hintergrundwissen und etwas illegalen Insidertricks enorme Gewinne machen (Ganz aktuell ist der Weizenmarkt aufgrund des Krieges in der Ukraine auch ein Tummelplatz für Spekulanten). Und für diese geht man auch gerne über ein paar Leichen.

Was diese Ausgabe insbesondere spannend macht, ist die Geschichte der deutschen Übersetzung, die im Nachwort des Neuübersetzers Jochen Stremmel erläutert wird. Ross Thomas wurde in den 1970ern bei Ullmann in der „gelben Reihe“ verlegt. Die Vorgabe des Verlags damals: Kein Krimi durfte länger als acht Druckbögen (8×16=128 Seiten) sein. Um diese Vorgaben einzuhalten, wurden Originalausgaben teilweise radikal gekürzt. Mit einigen Beispielen beschreibt Stremmel die Auswirkungen auf den vorliegenden Roman, der an zahlreichen Stellen arg beschnitten und damit ein großes Stück Atmosphäre geraubt wurde. Immerhin bedauert Stremmel die damalige Übersetzerin Ute Tanner, die eine wahrlich undankbare Aufgabe hatte.

Durch die Neuübersetzung wird auch nochmal deutlich, wie präzise Ross Thomas auch die Szenerie und die Hintergründe beschreibt. Für die Figurenbeschreibungen nimmt er sich ausgiebig Zeit. Die Dialoge sind zudem herausstechend. Für mich war der Plot diesmal nicht ganz so herausragend, dennoch ist das Jammern auf hohem Niveau. „Fette Ernte“ ist zwar inzwischen fast ein halbes Jahrhundert alt, doch die Mechanismen sind doch immer dieselben. Sehr akribisch analysiert Thomas das Machtgeflecht und die schmutzigen Geschäfte im Politbetrieb. Und man spürt als Leser, dass sich hier niemand etwas aus den Fingern saugt, sondern aus dem Nähkästchen plaudert. Das Ganze ziemlich trocken, aber mit einem Schuss Verachtung serviert. Ein Klassiker, der immer eine Lektüre wert ist.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Fette Ernte | Erstmals erschienen 1975
Die vollständige deutsche Ausgabe erschien am 12.08.2014 im Alexander Verlag Berlin
ISBN 978-3-89581-317-7
384 Seiten | 12,- €
Original: The Money Harvest (Übersetzung aus dem Englischen von Jochen Stremmel)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Gunnars Rezension von Ross Thomas‘ „Porkchoppers“

Rezensionsdoppel Mexiko II: Jeanine Cummins | American Dirt & Jorge Zepeda Pattersson | Die Korrupten

Rezensionsdoppel Mexiko II: Jeanine Cummins | American Dirt & Jorge Zepeda Pattersson | Die Korrupten

Vor etwas mehr als einem Jahr habe ich bereits eine Doppelrezension mit zwei Romanen aus Mexiko gemacht: Fernando Melchor „Saison der Wirbelstürme“ und Antonio Ortuño „Die Verschwundenen“. Tenor damals wie heute: Mexiko als ein gescheiterter Staat, geprägt von Korruption und Kartellen und eine Atmosphäre der Gewalt bis in alle Gesellschaftsschichten. Das Thema interessiert mich weiterhin, so dass ich immer nach Romanen aus bzw. über Mexiko Ausschau halte. Zwei davon habe ich wieder zu einer Doppelrezension zusammengefasst. Zum einen ein viel diskutierter Roman. „American Dirt“, umstrittener Roman der US-amerikanischen Autorin Jeanine Cummins – vor allem auch umstritten, weil hier eine Außenstehende sich des Themas Gewalt in Mexiko annimmt. Zum einen ein Buch eines Insiders: Jorge Zepeda Pattersson, Journalist, politischer Analyst, hat seine Erfahrungen im Roman „Die Korrupten“ niedergeschrieben. Zeit für eine Doppelrezension.

Jeanine Cummins | American Dirt

Eine Geburtstagsfeier in Acapulco. Die Buchhändlerin Lydia, ihr Mann Sebastián und ihr achtjähriger Sohn Luca feiern quinceañera, den 15.Geburtstag ihrer Nichte, mit einer Grillparty im Kreise der ganzen Familie. Da betreten Sicarios das Grundstück und erschießen die ganze Familie. Nur Lydia und Luca konnten sich im Badezimmer des Hauses verstecken. Lydia weiß sofort, warum dieses Massaker geschehen ist: Ihr Mann, Zeitungsjournalist, ist dem Boss des neuen vorherrschenden Kartells Los Jardineros zu nahe gekommen. Und auch sie selbst verbindet etwas mit „La Lechuza“ – Die Eule.

Ihre Schatten bewegen sich wie ein klobiges Tier den Bürgersteig entlang. Unter dem Scheibenwischer ihres Autos, einem orangefarbenen VW Käfer, den man sofort überall wiedererkennt, steckt ein winziger Zettel, so klein, dass er niccht einmal in der heißen Brise flattert, die durch die Straße weht. […]
Sie […] zieht den Zettel unter dem Scheibenwischer hervor. Ein Wort, geschrieben mit grünen Textmarker: Buh! Der hastige Atemzug, den sie tut, fühlt sich an wie ein Stich durchs Innerste ihres Körpers. Sie schaut zu Luca hinüber, zerknüllt den Zettel in ihrer Faust und stopft ihn in ihre Tasche.
Sie müssen verschwinden. Sie müssen fort aus Acapulco, so weit fort, dass Javier Crespo Fuentes sie niemals finden kann. Sie können nicht mit diesem Auto fahren. (S.28-29)

Lydia entscheidet sich schnell zur Flucht nach „el norte“, in die Vereinigten Staaten. Doch sie weiß, dass sie nun eine der meist gesuchten Frauen in Mexiko ist – und die Kartelle sind erheblich effizienter als die Polizei. Mit ihren offiziellen Papieren kann sie sich nicht mehr fortbewegen. Lydia sieht keinen Ausweg, als sich mit Luca in den stetigen Strom der Illegalen einzureihen. Und diese haben ein bevorzugtes Fortbewegungsmittel: „La bestia“, die Güterzüge Richtung Norden. Für Lydia und Luca beginnt eine atemlose Flucht.
„American Dirt“ war vor einem Jahr einer der meist diskutierten Romane in den USA. Das lag aber nur am Anfang am Inhalt des Buches. Diese Fluchtstory und Geschichte einer bedingungslosen Mutterliebe ist handwerklich gut gemacht. Die Flucht von Lydia und Luca ist immer wieder durchsetzt von Spannungshöhepunkten, in Rückblicken wird die Hintergrundgeschichte erläutert. Als Thriller funktioniert der Roman wirklich gut – ob er die Gegebenheiten realistisch wiedergibt, wird von einigen angezweifelt. In der Tat beherbergt der Roman schon ein paar typische Stereotypen und Cummins schwelgt bei „Übermutter“ Lydia schon etwas im Pathos, aber dennoch war es ein guter, unterhaltender und spannender Thriller.

Die Diskussionen rund um das Buch lassen aber schon etwas aufhorchen, denn die Autorin hat sich dabei auch aus meiner Sicht nicht unbedingt klug verhalten. Etwas merkwürdig fand ich nämlich das Nachwort, in dem Cummins zwar eindeutig Empathie für die Situation der Menschen in Mexiko erkennen lässt. Sie stellt sich außerdem die Frage, ob sie als Außenstehende solch ein Buch schreiben dürfe, bejaht sie letztlich, meint aber: „Ich wünschte mir, dass es jemand schreiben würde, der etwas brauer ist als ich“. So schwingt an dieser und an anderen Stellen durchaus eine gewisse Überheblichkeit in ihrem Nachwort mit, die mir auch etwas aufstößt. Die Debatte entzündete sich dann auch an der Frage der „kulturellen Aneignung“, wobei dieses Buch und seine Autorin dabei auch aufgrund des Marketings so stark in den Mittelpunkt geriet.

Jorge Zepeda Pattersson | Die Korrupten

Eine ganz andere Art von Roman, wenngleich auch mit dem Unterthema Journalismus in Mexiko hat der Autor Jorge Zepeda Pattersson geschrieben. „Die Korrupten“ erzählt die Geschichte der „Blauen“: Eine verschworene Jugendclique, drei Jungs und ein Mädchen (die Anführerin), aus gutbürgerlichem bis wohlhabenden Hause, die dreißig Jahre später immer noch Kontakt hält. Tomás ist inzwischen Journalist und Kolumnist einer großen Tageszeitung, Jaime ehemaliger Geheimdienstchef und aktuell Sicherheitsberater, Mario Hochschuldozent und Amelia Vorsitzende der linken Oppositionspartei.

Tomás journalistische Karriere befindet sich ein wenig auf dem absteigenden Ast, seine regelmäßige Kolumne hat an früherem Biss verloren. Da erhält er von einem Informanten einen Hinweis zum Mord an der bekannten Schauspielerin Pamela Dosantos. In seiner Kolumne bringt er den gefürchteten mexikanischen Innenminister Salazar vage in Verbindung mit dem Mord, löst damit einen politischen Skandal aus und gerät buchstäblich in die Schußlinie. Eine Entführung von Tomás misslingt nur knapp. Verschiedene politische, aber auch kriminelle Kräfte (wobei dies in Mexiko üblicherweise schwierig auseinanderzuhalten ist) wollen weitere Enthüllungen zum Mordfall Pamela verhindern. Doch die „Blauen“ halten zusammen, schmieden Pläne und blasen zum Gegenangriff, wobei ihnen zugutekommt, dass Pamela über ihre Liebschaften mit Prominenten und Politikern brisantes Material zusammengetragen hat. Die „Blauen“ sind durchaus auch mit allen Wassern gewaschen und sie beginnen zu ahnen, dass es zu einem politischen Beben kommen kann, zu Ungunsten der wieder aufkommenden autokratischen Kräfte Mexikos. Doch die Recherchen bleiben lebensgefährlich.

„Moment mal! Was ist, wenn Salazar gar nichts mit ihrem Tod zu tun hat? Wir können ihn doch nicht einfach lynchen?“, wandte Mario ein.
Die drei blickten ihn verwundert an. Jaime brach als Erster in Gelächter aus, Amelia umarmte Mario liebevoll.
„Mein Lieber, es geht hier doch gar nicht um Salazars Schuld oder Unschuld“, versicherte sie. „Es geht um die unmittelbare Zukunft des Landes.“ (E-Book, Pos.1643)

Kennt noch jemand „Borgen“, diese Fernsehserie um den intriganten Politbetrieb im Staate Dänemark? Eine wirklich starke Serie, was Dialoge, Story und Figurendarstellung betrifft und ein Musterbeispiel, wie man öde Politik spannend auch einem größeren Publikum nahebringen kann. Während der Lektüre von „Die Korrupten“ drängte sich mir irgendwann der Vergleich zu „Borgen“ förmlich auf, wenngleich die Dänen sich doch deutlich mehr in den Parlamentsfluren aufhalten. Dennoch hat Autor und Journalist Jorge Zepeda Pattersson einen Thriller über Korruption, Politik und politischen Journalismus geschrieben, der förmlich nach einer Verfilmung schreit. Viele Szenen- und Perspektivwechsel, ein konstanter Spannungsbogen mit einzelnen Höhepunkten, überzeugenden Dialogen und einer Vielzahl von interessanten Figuren, die auch zumeist vielschichtig betrachtet werden und nicht nur eindimensional rüberkommen. Im Vergleich zu „Borgen“ wird das Ganze aber natürlich um einiges mexikanischer serviert: Mehr Blei, mehr Blut, mehr Sex, mehr Theatralik. Aber genau wie in Dänemark Brigitte Nyborg sind inmitten des politischen Maschismo die Frauen die entscheidenden Personen der Geschichte: In diesem Fall die clevere und schöne Amelia und die tote, aber zu Lebzeiten arg unterschätzte Pamela.

„Die Korrupten“ war Zepeda Patterssons Debütroman, erschien im Original bereits 2013 und ist der Auftakt einer Trilogie um „Die Blauen“. Auf Deutsch sind bislang zwei Titel im schweizer Elster Verlag erschienen. Der Autor gibt in einem Interview mit dem „Spiegel“ einen Einblick in seine Motivation. Er stellt fest, „dass journalistische Texte nicht das ganze Bild der Korruption in Mexiko wiedergeben können“, da viele Betroffene aus Angst um ihr Leben nicht aussagen. „Fiktion lässt sich leichter verdauen als der Bericht eines Journalisten. Die Leute mögen es nicht, ihren Namen in einem Text zu lesen.“ Und er erläutert eine bekannte Redewendung in der mexikanischen Politik: „Ein armer Politiker ist ein armseliger Politiker.“ Insgesamt bietet „Die Korrupten“ einen sehr anregenden Einblick in die politischen Gegebenheiten Mexikos und ist dabei sehr leichtgängig geschrieben. Für diesen Roman gebe ich eine ausdrückliche Leseempfehlung.

 

Rezension und Foto von Gunnar.

American Dirt | Erschienen am 21.04.2020 im Rowohlt Verlag
ISBN: 978-3-499-27682-8
560 Seiten | 15,- €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Genre: Thriller
Wertung: 3.5 von 5.0

Die Korrupten | Im Original erschienen 2013,
die deutsche Ausgabe erschien am 17.02.2020 im Elster Verlag
ISBN: 978-3-906-90315-6
520 Seiten | 24,- €
als E-Book: ISBN: 978-3-906-90315-6 | 14,99 €
Originaltitel: Los corruptores
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Genre: Politthriller
Wertung: 4.5 von 5.0