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Hervé Le Corre | Durch die dunkelste Nacht

Hervé Le Corre | Durch die dunkelste Nacht

Es ist dunkel und man sieht keine Bäume. Man sieht nichts außerhalb des Lichts der Straßenlaternen. Es ist Nacht, aber man sieht nicht mal die Nacht. (Auszug Seite 84)

Der Titel „Durch die dunkelste Nacht“ ist hier Programm. Es ist nicht das pittoreske, von Touristen für seinen Wein geliebte Bordeaux. Wir begleiten Commandante Jourdan von der Police Judicaire in die dunkelsten Ecken, finster und unwirtlich, es könnte jede Großstadt sein. Von der ersten Seite an regnet es ununterbrochen. Gleich am ersten Tatort findet die Polizei drei tote Kinder, noch im Schlafanzug, erschossen von ihrem Vater, die Mutter liegt im Bad, das Auge ausgeschossen. Der mörderische Vater ist auf der Flucht. Jourdan ist zutiefst erschüttert, unterdrückt nur mühsam seine Wut. Der desillusionierte Polizist zerbricht langsam an dem Elend, dass er täglich sieht, macht aber trotzdem fast zombiehaft immer weiter. Während er seiner Truppe Halt bietet, stürzt er immer mehr in Düsternis und Depressionen. Er ist der typische ausgebrannte Cop, später wird ihn seine schöne sowie kluge Frau Marlène verlassen, die Tochter Barbara geht mit. Als Marlène mit gepackten Koffern vor ihm steht, ist er nicht in der Lage, etwas zu sagen.

Dann machten sie sich wieder an die Arbeit. Jourdan hatte manchmal das Gefühl, der Tod schaute ihnen zu und glitt mit eisiger Präsenz umher, um sie am Arbeiten zu hindern, verstimmt, weil sie versuchten, Licht in das von ihm gesäte Dunkel zu bringen. (Auszug Seite 83)

Aber da ist der Frauenmörder, den er kriegen will. Und Jourdan ist gut in seinem Job. Ihm sind die gleichen Stichverletzungen bei mehreren weiblichen Opfern aufgefallen, die auf einen Serienmörder hindeuten. Weiter bringt die DNA eines Toten auf dem Trottoir vor dem Polizeigebäude die Polizei auf eine heiße Spur. Und auch der hektische Polizeialltag mit drogensüchtigen Zwangsprostituierten, Minderjährigen, die einen anderen Jungen wegen 100 Euro Schulden zu Tode prügelten sowie einer weiteren Frauenleiche, die seit vier Tagen in einem Abrisshaus liegt, geht unerbittlich weiter.

In einem zweiten Handlungsstrang lernen wir den Serienkiller kennen. Christian, ein Psychopath und ehemaliger Elitesoldat im Tschad wurde jahrelang von seiner Mutter missbraucht. Tagsüber arbeitet er als Lastwagenfahrer, nachts geht er mit dem Messer auf die Jagd nach Prostituierten und anderen Frauen. Man spürt, wie hier etwas aus dem Ruder läuft, wie Christian immer mehr eskaliert und die Kontrolle verliert.

Die dritte Perspektive besetzt Louise, eine junge alleinerziehende Mutter eines 8-jährigen Sohnes mit einem Händchen für die falschen Männer. Die junge Frau war nach dem Unfalltod ihrer Eltern in die Drogen- und Alkoholszene abgerutscht. Doch für ihren kleinen Jungen, ihren Sonnenschein, hatte sie sich aus dem Sumpf von Drogen, Sex und Gewalt herausgekämpft und schlägt sich als Haushaltshilfe für Senioren durch. Wäre da nicht ihr Ex-Freund, der sie immer wieder belästigt und schwer misshandelt. Louises angsterfülltes Leben setzt der Leserin zu, besonders die Weigerungen der Polizei, ihre Beschwerden ernst zu nehmen. Erst als Sam, ihr kleiner Sohn mit in die Gewaltspirale reingezogen wird, zieht Louise die Reißleine.

Jourdan versucht, in alldem einen Sinn zu erkennen: diese Verbrechen, die Täter, die Arbeit als Polizist. Festnehmen, verurteilen und bestrafen? Wozu, wo doch die Toten nicht wieder lebendig werden? (Auszug Seite 200)

Drei Menschen, deren Schicksale sich im Laufe der Seiten kreuzen. Jeder von ihnen geht durch seine eigene schauerliche Nacht, mit einem kurz auf blitzenden Hoffnungsschimmer, als sich Jourdan und Louise begegnen, der aber schnell wieder in der Dunkelheit versinkt. Erträglich wird diese beklemmende Geschichte durch die intensive fast poetische Sprache. Ganz großes Lob an die Übersetzerin Anne Thomas. Hervé Le Corre breitet seine Geschichte sehr wortreich aus, mit gnadenlosen Worten voll finsterer Schönheit, die die Verzweiflung einfühlsam beschreibt und einem Realismus, der nicht verschont. Hervé le Corre ist ein scharfsinniger Beobachter kleinster Gesten, ein Dialogschreiber von höchster Präzision, jedes Detail ist wichtig und trotzdem ist kein Wort zu viel. Von Anfang an zieht dieser desillusionierte Polizeiroman die Leserin in den Bann, in einen Strudel von Gewalt, Sprachlosigkeit und Schmerz. Ein außergewöhnlicher atemberaubender Roman, den man immer weiter liest, weil man stets auf einen Lichtblick hofft, der diese Nacht zu erhellen verspricht.

Hervé Le Corre ist schon länger einer der großen Namen des französischen Noir, und „Traverser la nuit“ ist nicht sein erster mit einem Krimipreis ausgezeichneter Roman, aber sein erster ins Deutsche übersetzter.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Durch die dunkelste Nacht | Erschienen am 15.01.2024 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-51847-369-6
339 Seiten | 17,- €
Originaltitel: Traverser la nuit | Übersetzung aus dem Französischen von Anne Thomas
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Robert Harris | Vaterland

Robert Harris | Vaterland

Im Fokus der Handlung steht Xaver March, Mordermittler der Berliner Kriminalpolizei. Er wird 1964 zu einem Mordfall gerufen. Die in der Havel in der Nähe des Grunewalds aufgefundene Leiche eines alten Mannes wird später als Josef Bühler identifiziert, ein ehemaliger Staatssekretär des Innenministeriums.

In Robert Harris‘ Alternativweltroman hat Deutschland den Krieg gewonnen. Das Großdeutsche Reich existiert weiterhin und reicht vom Rhein bis zum Ural. Polen und große Teile der Sowjetunion existieren nicht mehr, doch an den ostdeutschen Landesgrenzen toben Partisanenkriege. Die Russen führen mit Hilfe der USA einen erbitterten Zermürbungskrieg gegen die Deutschen, den das Deutsche Reich nicht gewinnen kann. Wir schreiben das Jahr 1964 und stehen kurz vor dem 75. Geburtstag des Führers. Nur zu gerne möchte Hitler den Kalten Krieg mit den USA beenden. Mit Präsident Joseph P. Kennedy wird erstmals ein amerikanischer Regierungschef zum Staatsbesuch erwartet. Vor diesem Hintergrund kommt das gewaltsame Ableben eines ehemaligen hochrangigen Parteifunktionärs höchst ungelegen und bedarf sofortiger Aufklärung.

Pralinen aus Zürich
SS-Obersturmbannführer March hat grade erst mit den kriminaltechnischen Untersuchungen zum Tode Bühlers angefangen, als er durch die Gestapo unter der Leitung von Odilo Globocnik, genannt Globus, von dem Fall abgezogen wird. Xaver March ist ein aufrichtiger, nahe am Genreklischee gebauter ganz klassischer Polizist. Als Kriminaler ist er ein brillanter Detektiv, aber auch ein gebrochener Charakter. Er ist geschieden und leidet als Kriegsveteran unter den Kriegstraumata als U-Bootfahrer. Sein im Nationalsozialismus bei der Ex-Frau aufgewachsener Sohn verachtet ihn immer mehr, da er den Hitlergruß verweigert und auch bisher nicht in die Partei eintreten will, wobei er sich jeden beruflichen Aufstieg verbaut. Als er feststellt, dass die Gestapo die Zuständigkeit an dem Mordfall an sich reißt, um irgendetwas zu vertuschen, ermittelt er heimlich und unter Lebensgefahr weiter. Neben der ehemaligen Politgröße Bühler kommen in einer Folge von Unfällen und Morden nacheinander weitere Ex-Parteibonzen ums Leben. Allen Opfern waren Pralinenschachteln aus Zürich zugestellt worden. March erhält überraschend Unterstützung durch Arthur Nebe, dem Chef der Kriminalpolizei, der ihn beauftragt, den Morden unter dem Radar nachzugehen.

„Menschenrechte?“ „Die Tausenden von Andersdenkenden, die ihr in Lager gesperrt habt. Die Millionen Juden, die im Krieg verschwunden sind. Die Folter. Das Morden. Tut mir leid, davon zu sprechen, aber wir haben die spießige Vorstellung, dass menschliche Wesen Rechte haben. Wo haben Sie denn die letzten zwanzig Jahre verbracht?“ (Auszug Seite 137/138)

Mithilfe der deutsch-amerikanischen Journalistin Charlotte „Charlie“ Maguire, die als Berliner Vertreterin für eine amerikanischen Nachrichtenagentur arbeitet, stößt March auf ein in den Kriegsjahren eröffnetes Schließfach in einer Züricher Bank. Zusammen mit Charlie macht er sich auf nach Zürich. Hier entdecken sie jedoch nur ein im Krieg verschollenes Gemälde, „Dame mit dem Hermelin“ von Leonardo da Vinci. Waren die NSDAP-Veteranen in ein großes Netzwerk von Kunsträubern verwickelt? March entdeckt, dass die Morde mit einem viel weitreichenderen Geheimnis zusammenhängen, das zwei Jahrzehnte zurückliegt und bis in die höchsten Kreise der nationalsozialistischen Führung hineinreicht.  Alle Opfer waren Teilnehmer der Wannseekonferenz, wo 1942 die „Endlösung“ operativ geplant wurde. March lässt nicht locker und ist dazu bereit, sich selbst zu opfern, um die Wahrheit ans Licht zu bringen.

Berlin der Gigantomanie
Der englische Autor beeindruckt in seinem Debüt von 1992 mit einem überzeugendem Bild eines authentisch anmutenden, düsteren Nachkriegsdeutschlands, in dem der architektonische Wahnsinn realistisch beschrieben wird. Durch eine Stadtrundfahrt am Anfang der Handlung erscheint das fiktive Berlin dieser Zeit sehr plastisch vor dem inneren Auge. Es ist eine 10-Millionen-Metropole, in der die von Albert Speer geplanten monströsen Monumentalbauten im Stile der Welthauptstadt Germania tatsächlich verwirklicht worden sind, u.a. die alles dominierende Große Halle, die als größtes Gebäude der Welt gilt, der riesige Triumphbogen, um ein Vielfaches größer als der Pariser, während der Champs Élysée gegen die Siegesstraße eher wie eine Passage wirkt. Das Regime herrscht im Deutschen Reich mit eiserner Hand, sämtliche Lebensbereiche sind dem Nationalsozialismus untergeordnet und Andersdenkende werden nicht geduldet. Eine gleichgeschaltete Gesellschaft ohne Individualismus.

In Form eines Polizeiromans bedient Harris sich einer rasanten und ausdrucksstarken Erzählweise. Ein beklemmendes Gedankenspiel, welches durchgehend spannend ist, mit bis zum Ende hin zahlreichen Wendungen, die durchaus überraschen. Ein Großteil der im Roman vorkommenden Dokumente sind authentisch und schwer zu ertragen. Die Gegenspieler wie der menschenverachtende SS-Obergruppenführer Odilo Globocnik, der schwer durchschaubare Arthur Nebe oder Josef Bühler haben im Gegensatz zu March einen realen Hintergrund, die biografischen Angaben sind bis 1942 zutreffend. Eine düstere Vision, in der tatsächliche Geschichte und Fiktion geschickt zusammengefügt wurden, die mich von der ersten Seite gefesselt und bis zum bitteren Schluss sehr beeindruckt hat.

Im Nachwort berichtet Harris, dass der Roman zunächst nicht auf Deutsch veröffentlicht werden konnte, weil kein Verlag es wollte.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Die aktuelle Taschenbuchausgabe erschien am 13.03.2017 im Heyne Verlag
ISBN 978-3-4534-2171-4
448 Seiten | 12,00 €
Originaltitel: Fatherland | Übersetzung aus dem Englischen von Hanswilhelm Haefs
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Diese Rezension erscheint im Rahmen des Genrespezials Alternativweltgeschichten.

Andreas Pflüger | Wie sterben geht

Andreas Pflüger | Wie sterben geht

Die Brücke lag im Dunkel. Auf dem See tanzten die Lichter von Booten im wirbelnden Schnee. Hier war sie, die Bühne für die größte Show, die der Kalte Krieg zu bieten hatte. … Hüben und drüben mussten an die zweihundert Personen mit dem Austausch beschäftigt sein. Alles für nur zwei Männer, von denen der eine Ehre besaß und der andere die Giftspritze verdient hätte. (Auszug Seite 21-22)

Ein guter Film fängt mit eine Explosion an, um sich dann langsam zu steigern. Ein Zitat, das Billy Wilder nachgesagt wird, und genau das hat, der auch als Drehbuchautor bekannte Schriftsteller Andreas Pflüger, beherzigt. Gleich zu Beginn seines Thrillers kommt es auf der Glienicker Brücke in Berlin zu einem spektakulären Agentenaustausch. Es ist 1983, tiefster Winter, als der KGB-Offizier und Doppelagent Rem Kukura gegen den Sohn eines Politbüromitglieds ausgetauscht werden soll und alles, wirklich alles schiefgeht. Nina Winter soll die Übergabe begleiten, da nur sie den Moskauer Top-Agenten Kukura mit dem Decknamen „Pilger“ identifizieren kann. Die Situation eskaliert und stellt die Supermächte dieser Welt vor neue Herausforderungen, jeder falsche Schritt könnte einen Atomkrieg auslösen.

Regeln des Agentenhandwerks
Rückblick vier Jahre zuvor: Nina Winter arbeitet als Analystin beim BND im bayerischen Pullach, als sie das Angebot bekommt, als „Verbindungsoffizierin“ eine sogenannte Quelle in Moskau zu führen. Ihre Aufgabe ist es, vor Ort zu sein und alles an Informationen entgegenzunehmen, was diese Quelle liefern kann. Nina ist völlig perplex, denn Rem Kukura ist ein sogenannter „Pink Star“, der den Westen mit wertvollsten Informationen versorgt. Er hat explizit sie verlangt und seine weitere Zusammenarbeit mit Deutschland von ihrer Zusage abhängig gemacht. Die unerfahrene aber ehrgeizige Winter sieht es als Chance ihres Lebens und begibt sich auf eine kurze, intensive Schulung. Das Erlernen des Handwerks einer Spionin wird als Ninas erste Herausforderung eingehend beschrieben. Nach dem spektakulären Auftakt wird erst mal das Tempo rausgenommen und wir lernen mit Nina die wichtigsten Überlebensstrategien. Die Versetzung nach Moskau gleicht einem Himmelfahrtskommando, denn von Anfang an weiß die Gegenseite über ihre Tätigkeit Bescheid und sie gerät in das Visier brutaler sowjetischer Militärs, die ihr nur zu gerne zeigen wollen, „Wie sterben geht.“ Ein Prinzip der Agententätigkeit lautet: Lass dich nie emotional auf eine Quelle ein. Und doch tut sie genau das, sie baut Vertrauen zu Pilger auf und verliebt sich in dessen Sohn Leo, einem ehemaligen Star-Boxer. Nina beschließt, Vater und Sohn aus Russland herauszuholen.

Immer wenn sie in dieser Station die mit Edelstahl verblendeten, federleicht wirkenden Bögen sah, wurden ihr die Pole bewusst, zwischen denen Moskau ständig oszillierte. Not und Verschwendung. Hochmut und Sehnsucht. Leere und Fülle. Wahrheit und Lüge. (Auszug Seite 166)

In diesem anspruchsvollem Polit-Thriller nimmt uns Andreas Pflüger mit auf eine spannende Zeitreise, die gleichzeitig erschreckend aktuell ist. Penibel recherchiert und mit viel Hintergrundwissen sowie Ortskenntnis brilliert der Autor in detaillierten Schilderungen der 80er Jahre sowie ausführlichen Abläufen deutscher und sowjetischer geheimdienstlicher Tätigkeiten. Schließlich unterhält Pflüger freundschaftliche Beziehungen zu Personen vom BND und BKA, wie er auf einer Lesung verriet. Es ist die Hochphase des Kalten Krieges. Zwischen atomarem Wettrüsten und Nato-Doppelbeschluss, Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan sowie dem Boykott der Olympischen Sommerspiele in Moskau begleiten wir Nina in ihrer Zeit durch Moskau. Man bestaunt mit der jungen Frau die Gegensätze des Moskauer Stadtbilds, das Nebeneinander von Protz und Plattenbau, die leeren Prospekte, die Schlangen vor den Läden. Man zittert mit ihr vor der eisigen Kälte aber auch vor Angst aufgrund der permanenten Unsicherheit des Agentenlebens mit einer falschen Identität und kann nur mutmaßen, wer Feind und wer Freund ist. Das ständige Misstrauen, die permanente Wachsamkeit waren für die Leserin fast körperlich spürbar.
Der Wechsel in den Zeiten baut zusätzlich Spannung auf. Dabei verliert Andreas Pflüger nie den roten Faden aus den Augen. Mit dem richtigen Gespür für Dramaturgie zelebriert er sein raffiniertes Spiel von Vertrauen und Misstrauen, Täuschung und Verrat. Filmreife Actionszenen wechseln sich mit beklemmenden Verhörsituationen und klug prägnanten Dialogen ab. Pflüger konnte mich auch sprachlich und mit seinen treffenden Metaphern begeistern, seine Sätze haben Rhythmus und erzeugen Tempo, sind rotzig frech oder lyrisch verdichtet aber immer präzise.

Wie Thriller geht
Als großer Fan der Jenny Aaron Trilogie interessierte mich der neue Thriller von Andreas Pflüger sehr. Das Cover mit der stilisierten Glienicker Brücke hat mich zusammen mit dem Klappentext gleich in den Bann gezogen. Der Thriller fesselt von der ersten Seite und erzählt atemlos ein hochspannendes Abenteuer aus der Welt der Spionage voller Intrigen und dunkler Geheimnisse. Mit Nina Winter hat Pflüger nach der blinden Elitepolizistin Aaron eine weitere weibliche Superheldin erschaffen. Sie spricht 6 Sprachen, läuft täglich Marathonstrecken und ist jedem ihrer meist männlichen Verfolgern an Fitness überlegen. Ihr Weg von der Schreibtischtäterin und Lyrikliebhaberin zur Top-Agentin des BND wirkt lebendig und vielschichtig. Wie bei jedem Spionageroman darf man nicht in seiner Konzentration nachlassen, denn schnell kann man sich dabei in dem dichten Personen- und Handlungsgeflecht aus BND-Mitarbeitern, Agenten, Psychopathen und Killern, historischen Figuren und normalen Bürgern verirren. Meine Erwartungen waren sehr hoch, aber Andreas Pflüger weiß einfach, wie Thriller geht. Ganz großes Kino!

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Wie Sterben geht | Erschienen am 09.10.2023 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-43150-4
448 Seiten | 25,- €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen I: Alf Mayer im Gespräch mit Andreas Pflüger im Crimemag

Weiterlesen II: Weitere Rezensionen zu Romanen von Andreas Pflüger

James Kestrel | Fünf Winter

James Kestrel | Fünf Winter

„Ich glaube, er hatte Hilfe.“ „Warum?“ „Nur so ein Gefühl.“ „Haben Sie auch ein Gefühl, was dieses Bett betrifft?“ McGrady warf einen Blick auf das Feldbett. Jetzt wurde es von beiden Taschenlampen angestrahlt. Schmutzige Decken und alte Kleidungsstücke stapelten sich darauf. „Was ist damit?“ „Es blutet.“ (Auszug Seite 36)

Ende November 1941 in einer Bar in Honolulu. Detective Jo McGrady ist eigentlich schon im Feierabend, als ihn der Anruf seines Vorgesetzten ereilt. Auf der anderen Seite der Insel Oahu wurde in einem Geräteschuppen in der Nähe einer Rinderfarm ein Leichenfund gemeldet. Personal ist knapp, es ist der Tag vor Thanksgiving, und so soll der Militärveteran McGrady hinfahren. Er ist kein Einheimischer und gilt immer noch als Außenseiter im Honolulu Police Department. Er sieht seine Chance, sich nach 5 Jahren auf Haiwaii mit seinem ersten Mordfall die nötige Anerkennung zu verdienen und macht sich auf in die Berge Honolulus. Am Tatort in die Nähe der Kahana Bay findet er einen weißen, jungen Mann, der kopfüber an einem Fleischerhaken hängt und brutal ausgeweidet wurde. Erst auf den zweiten Blick findet McGrady eine zweite Leiche, eine junge japanisch-stämmige Frau, die ebenfalls auf grausamste Weise gefoltert wurde. Es stellt sich heraus, dass beide mit einem Grabendolch aus dem ersten Weltkrieg ermordet wurden. Der Fall wird zum Politikum, da es sich bei dem ermordeten Jungen um den Neffen des Oberbefehlshabers der Pazifikflotte, Admiral Kimmel handelt, während die Identität seiner mutmaßlichen Freundin, der getöteten Asiatin erst mal ungelöst bleibt.

Zur falschen Zeit am falschen Ort
Relativ schnell zeichnet sich die Spur eines Tatverdächtigen mit dem offensichtlich falschen Namen John Smith ab, die nach Hongkong führt. Während sein Vorgesetzter, Captain Beamer ihn an der kurzen Leine halten will, setzt Kimmel alles dran, den Detective in geheimer Mission an Smiths Fersen zu heften und inoffiziell ermitteln zu lassen. Trotz der unruhigen Zeiten, die Welt befindet sich im Krieg, gelingt es McGrady über Manila nach Hongkong zu fliegen. Allerdings scheint der übermächtige Killer ihm immer einen Schritt voraus zu sein. In der britischen Kronkolonie Kowloon angekommen gerät McGrady alsbald in eine Falle und wird unter einem Vorwand verhaftet. Während er in der Zelle schmort, erreicht der Weltkrieg die Pazifikregion. Am 07. Dezember 1941 überfallen die Japaner Pearl Harbour und die USA tritt in den zweiten Weltkrieg ein. Als die Japaner auch Hongkong einnehmen, wird McGrady mit anderen westlichen Gefangenen per Schiff nach Tokio deportiert, wo er als angeblicher Spion auf seine wahrscheinliche Hinrichtung wartet.

Überraschend wird er von dem stellvertretenden Außenminister Takahashi Kansei befreit. Der Diplomat, der heimlich gegen die Kriegspolitik Japans arbeitet, ist ebenfalls an der Aufklärung des Mordfalls interessiert und versteckt Jo McGrady in seinem Haus in der Nähe Tokios. Tatsächlich kümmern sich Kansei und seine Tochter Sachi bis zum Kriegsende um den Detective und riskieren dabei ihre Leben. Dieser darf das Haus nicht verlassen, nutzt die Zeit um Japanisch und viel über die japanische Kultur zu lernen und überlebt den Feuersturm, den die amerikanischen Bomber in der japanischen Hauptstadt entfesseln. Dabei verzehrt er sich die ganze Zeit nach seiner Freundin Molly, von der er sich nach seiner überstürzten Abreise aus Hawaii nicht verabschieden konnte.

Er würde herausfinden, dass sich zu dem Zeitpunkt, an dem er die Badewanne verließ und sich fragte, wann Sachi zurückkommen würde, in zweitausend Kilometern Entfernung die Bomber von den Startbahnen drängten …. Es waren so viele Maschinen, dass es dreieinhalb Stunden dauerte, bis alle in der Luft waren und Richtung Norden schwenkten …. Zusammengenommen waren sie mit gut anderthalb Millionen Kilo Napalm beladen. Auszug Seite 284

Erst nach der Kapitulation Japans gelingt ihm die Rückkehr in die Heimat und hier beginnt wieder die alte Jagd nach dem Killer, auch weil er sich an sein Versprechen gegenüber Takahashi gebunden fühlt. Auf Hawaii hat sich nach fünf Jahren vieles verändert, an der Aufklärung der Mordfälle zeigt auch keiner mehr Interesse.

Meine Meinung
Der rasante Einstieg hat mich sofort in den Bann gezogen. Aufgrund der bildhaften Erzählweise war ich gleich mitten in der Geschichte, saß mit den Matrosen an der Bar, schmeckte den Whiskey und spürte die tropische Hitze. Die Atmosphäre ist düster und beklemmend, der Erzählton hart und militärisch kühl, die Dialoge lakonisch und trocken. Ein klassischer Noir eben!

Spätestens in Hongkong ändert sich die Tonalität der Geschichte und wird zu einem historischen Roman, wobei das Kriegsgeschehen im Pazifik den geschichtlichen Hintergrund bildet. Viele zeithistorische Aspekte werden in den Roman eingewoben, es entsteht jedoch keine trockene Geschichtsstunde, sondern ein intensives Bild jener Zeit. Die Gräueltaten des Krieges werden ohne Beschönigung geschildert, jedoch erzählt James Kestrel sein großartiges Drama mit nüchternen Worten, sachlich kühl und ohne große Sentimentalitäten, passend zu seinem Protagonisten.

Jo McGrady ist der typisch hartgesottene Held, zynisch und desillusioniert. Kein Freund großer Worte, leidensfähig, schlau und absolut verbissen, die einmal aufgenommene Fährte wird auch nach fünf Jahren nicht losgelassen. Dabei auch zu großen Gefühlen fähig, denn der Roman ist auch eine bittersüße, nie kitschig werdende Liebesgeschichte. Selten habe ich einen Roman gelesen, auf dem die Beschreibung „episch“ besser gepasst hätte. James Kestrel schlägt einen wirklich großen Bogen in seinen mehrfach ausgezeichneten Roman, aber das ist durchgehend fesselnd, süffig zu lesen und beeindruckend mit exotischen Schauplätzen und einem unbeirrbaren Helden in Szene gesetzt. Hut ab vor diesem Mix aus Thriller, historischem Kriminalroman, Kriegsdrama und Romanze.

James Kestrel ist das Pseudonym des amerikanischen Autors und Anwalt Jonathan Moore, der mit seiner Familie auf Hawaii lebt. Und erfreut stellte ich fest, dass ich seinen Roman „Poison Artist“ auch noch auf dem SuB habe.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Fünf Winter | Erschienen am 12. März 2023 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-51847-317-7
499 Seiten | 22,- Euro
Originaltitel: Five Decembers | Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Stefan Lux
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Rezensions-Doppel: Elizabeth Wetmore | Wir sind dieser Staub & Angie Kim | Miracle Creek

Rezensions-Doppel: Elizabeth Wetmore | Wir sind dieser Staub & Angie Kim | Miracle Creek

Die amerikanische Literaturszene ist ein schier unerschöpflicher Fundus für neue Autoren und Autorinnen. Gerade bei den Autorinnen gab es in letzter Zeit sehr viele neue Stimmen, die sich in den Zwischenräumen zwischen Kriminalliteratur und anderen Genres bewegen. Zwei davon sind Elizabeth Wetmore und Angie Kim. Elizabeth Wetmore ist eine der zahlreichen Spätberufenen. Sie hat in ihrem Leben schon vieles gemacht, eine Bar geschmissen, Englisch gelehrt, Taxi gefahren. Im Alter von 52 Jahren erfolgte dann mit „Valentine“ in begeistert aufgenommes Debüt als Autorin. Auch Angie Kim hat sich erst spät für eine schriftstellerische Karriere entschieden. Die geborene Südkoreanerin zog als Teenagerin in die USA und arbeitete als Anwältin. Ihr Romandebüt „Miracle Creek“ veröffentlichte sie auch erst mit 50 Jahren und gewann dafür 2020 den Edgar für den besten Debütroman. Zeit für eine Doppelrezension.

Elizabeth Wetmore | Wir sind dieser Staub

Odessa, im Westen von Texas Mitte der 1970er Jahre. Es dämmert bereits an diesem Valentins-Morgen, als die 14-jährige Gloria Ramírez schwer misshandelt aus einem Pick-up taumelt, in dem sie die ganze Nacht brutal vergewaltigt wurde. Während ihr Peiniger seinen Rausch ausschläft, flüchtet sie barfuß durch endlos staubige Weite, die Füße von Glasscherben und Kakteen, die Hände von Stacheldraht zerschnitten zur nächstgelegenen Ranch. Die Landschaft scheint nur aus rotem staubigem Wüstensand und Büffelgras zu bestehen. Präriehasen hoppeln zwischen ausrangierten Pipelines und Bohrtürmen umher und unter dem ständigen Auf und Ab der Ölpumpen haben sich Mokassinotter und Klapperschlangen zusammengerollt. Gloria erreicht die Veranda der Whitehead-Ranch und bittet die 26-jährige, mit dem zweiten Kind hochschwangere Mary Rose um Hilfe. Mittlerweile hat sich Dale Strickland in seinem Truck auf den Weg gemacht, um Gloria einzuholen. Während ihre kleine neunjährige Tochter Sheriff und Krankenwagen alarmiert, versucht Mary Rose den jungen Ölarbeiter mit dem Gewehr in Schach zu halten. Dabei befindet sie sich in einem inneren Konflikt und wünscht sich das übel zugerichtete Mädchen wäre auf einer anderen Farm gelandet.

Und da verstummt er, späht sekundenlang an mir vorbei zum Haus und verzieht den Mund zu einem breiten Grinsen. Ich frage mich, ob meine Tochter am Fenster steht, und neben ihr das fremde Mädchen mit den schwarzvioletten Augen und den aufgeplatzten Lippen. …. Wir rühren uns nicht, ich und mein möglicherweise geladenes Gewehr. (Auszug Seite 33)

Nach diesem atemberaubenden Anfangskapitel wird aus der Perspektive verschiedener Frauen, die auf die eine oder andere Weise in die Geschehnisse verwickelt sind, erzählt. Dabei liest sich jede Episode wie eine eigenständige Kurzgeschichte. Trotz ihrer mutigen Tat ist Mary Rose Whitehead danach ständigen Schikanen ausgesetzt. Sie wird bedroht und beschimpft, der Täter, Sohn eines Pfarrers wird verteidigt, das Opfer in den Schmutz gezogen und rassistisch sowie sexistisch beschimpft. Selbst ihr Ehemann Robert versteht nicht, dass sie wegen einer jungen Mexikanerin, die aus purer Langeweile zu einem Fremden ins Auto gestiegen ist, sich und das Leben ihrer Tochter in Gefahr gebracht hat. Trotzdem will Mary Rose unbedingt im späteren Prozess gegen Dale Strickland aussagen. Auf der entlegenen Farm fühlt sie sich nicht mehr sicher. Ihr Mann kümmert sich von früh bis spät fast allein um die Rinderzucht, nachdem die letzten Helfer abgehauen sind, um gegen bessere Bezahlung auf den Ölfeldern zu arbeiten und so zieht sie mit Tochter und Neugeborenem in die Stadt. Auch hier wagt sie es nicht, ihre Tochter auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen.

Neben Mary Rose und Gloria, die sich nach der traumatischen Erfahrung Glory nennt, erfahren wir von der Nachbarin Corrine, einer ehemaligen Lehrerin, die ihren Schmerz über den Tod des geliebten Mannes Potter in Alkohol ertränkt. Weiter von der 10-jährigen Debra Ann, dessen Mutter Ginny abgehauen ist und die sich fürsorglich um einen obdachlosen Vietnam-Veteranen kümmert. Mit viel Empathie aber wenig Nachsicht schaut Elizabeth Wetmore sehr genau auf ihre Frauenfiguren, die alle irgendwie desillusioniert und gebrochen sind, aber mit einem Rest an Würde gegen ausweglose Situationen kämpfen.

Warum hat Gott Texas das Öl geschenkt? Als Wiedergutmachung für alles, was Er dem Land angetan hat. (Auszug Seite 284)

In Odessa bietet die Arbeit auf den Ölfeldern den Männern eine Chance auf gutes Geld und ein besseres Leben. Trotz hoher Unfallrate erscheint diese Tätigkeit den meisten erstrebenswerter als das Leben der Farmer, deren Existenzen durch Dürre, Ungeziefer sowie fallende Rinderpreise bedroht sind. Für Frauen scheint das Land der Ölbarone nicht besonders geeignet. Das zeigt Wetmore auf besondere Weise, indem sie die weibliche Perspektive in diesem männlichen, rauen Setting in den Vordergrund rückt. Sie müssen sich unterordnen, harren unglücklich im tristen Alltag aus, und versuchen, mit wenig Aussicht auf Veränderung irgendwie zu überleben. Die wenigsten sehen eine Perspektive. Noch tiefer als die Frauen stehen nur die illegal eingewanderten Mexikaner. Dennoch ist der Roman nicht komplett deprimierend, der Autorin gelingt es immer wieder auch Szenen der Hoffnung und der Menschlichkeit zu zeigen. Elizabeth Wetmore ist in den 70ern im westlichen Texas in genauso einem Kaff aufgewachsen, inmitten einer trostlosen Landschaft geprägt von Förderanlangen für Erdöl und Erdgas, bis ihr mit 18 Jahren der Absprung gelang. Trotzdem spürt man ihre Liebe zu dieser unwirtlich scheinenden texanischen Natur, denkt man nur an die kleinen, sehr sarkastischen Witze zwischendurch.

Fernab von allen Genreschubladen, denn Elizabeth Wetmores großartiges Debüt ist vielmehr als ein Spannungsroman, zeichnet sie das Bild vom Aufbrechen verkrusteter Strukturen im ländlichen Amerika der 70er Jahre. Dabei ist ihr Schreibstil derart bildgewaltig, man spürt die Hitze und den Staub fast körperlich, man kann die nach Öl stinkende Luft praktisch riechen, die unendliche Weite vor sich sehen und die Langeweile in der Ödnis nachempfinden. Mit großer Ausdruckskraft und rauer, jedoch auch poetischer Sprache schildert sie eine Machogesellschaft, in der Sexismus und Rassismus dominieren. In einem fein austarierten Plot erzählt sie von Ungerechtigkeiten, dem hilflosen Ausgeliefertsein aber auch von einer neuen Generation von Frauen, die sich nicht mehr alles gefallen lassen und erstmalig gegen die Macht des Patriarchats aufbegehren.

Angie Kim | Miracle Creek

In einer Kleinstadt in Virginia beginnt vor dem örtlichen Gericht ein Mordverfahren. Angeklagt ist Elisabeth Ward wegen Mordes an ihrem Sohn Henry und einer Bekannten Kitt Kozlowski. Die Todesumstände waren äußerst ungewöhnlich: Elisabeth und Henry sowie Kitt und ihr Sohn TJ (beide Söhne sind autistisch) besuchten mit weiteren Personen einen ungewöhnlichen Therapieort. Das „Miracle Submarine“ ist eine U-Boot-ähnliche Druckkammer, in der die hyperbare Sauerstofftherapie, die Darreichung 100%igen Sauerstoffs, durchgeführt wird. Betrieben wurde das „Miracle Submarine“ von der Familie Yoo, koreanische Einwanderer, in einer Scheune am Waldrand. Ein Risiko bei dieser Therapie ist jedoch das erhöhte Brand- und Explosionsrisiko aufgrund des reinen Sauerstoffs. Tatsächlich kam es eines Abends zu einer Brandentwicklung nahe der Sauerstoffschläuche, die dann auf die Druckkammer übersprang. Henry und Kitt starben, der Betreiber Pak Yoo konnte die weiteren Insassen der Druckkammer befreien. Er selbst, seine Tochter Mary und der Patient Matt Thompson erlitten dabei noch schwere Verletzungen. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit war Elisabeth nicht mit in der Kammer, sondern außerhalb der Scheune. Aufgrund mehrerer Indizien glaubt die Staatsanwaltschaft, Elisabeth habe die Tat begangen. Motiv: Sie wollte sich endlich der Last ihres autistischen Sohnes befreien.

Die Autorin Angie Kim erzählt die Geschichte abwechselnd aus der Perspektive der beteiligten Personen. Durch diese Perspektivwechsel und auch durch den Fortgang der Gerichtsverhandlung, in der Elisabeths Anwältin einiges unternimmt, um den Verdacht von ihrer Mandantin hin auf andere zu ziehen, entstehen von Beginn an beim Leser Zweifel an der Version der Staatsanwaltschaft. Allerdings erzählen hier sehr viele Personen nicht die Wahrheit oder verschweigen wichtige Dinge, um sich nicht selbst in Misskredit und zumindest in ein schlechtes Licht zu rücken. So wird schnell enthüllt, dass Pak Yoo die Aufsicht im Moment der Katastrophe seiner Frau übertragen hatte. Und was für ein merkwürdiges Verhältnis hatten Matt und Paks minderjährige Tochter Mary? Und wer hatte sich eine Woche vor dem Unglück nach der Brandschutzversicherung erkundigt? Zahlreiche Fragen tauchen auf, die Figuren umspinnt ein immenses Lügennetz, das sich nur langsam entflechtet.

Sie brauchte Antworten. Sie löste die Bremsen, setzte zurück, vom Baum weg, und fuhr zurück zur Straße. Nach links ging es zum Gericht, sie könnte noch vor dem Ende der Mittagspause wieder dort sein, an der Seite ihres Mannes. Aber da würde sie keine Antworten bekommen. Nur noch mehr Lügen, die weitere Fragen aufwarfen. […] Sie fuhr nach rechts. Sie musste nach Antworten suchen. Allein. (Auszug S.256-257)

Ähnlich wie Elisabeth Witmore kann man Angie Kims Roman auch nicht so ganz einem Genre zuordnen. Viele Szenen spielen vor Gericht und doch ist es kein klassischer Justizthriller. Der Roman dringt noch deutlich tiefer in die persönlichen Verhältnisse der Figuren ein, er erzählt von Mutterliebe, Zweifel und Verzweiflung angesichts eines eigenen autistischen Kindes, von Identität und patriarchalem Stolz koreanischer Einwandererfamilien, von Missgunst, Untreue und krankhaftem Kinderwunsch. Alle Figuren sind dabei verbunden in mangelnder Kommunikation, Verschweigen, Vertuschung bis hin zur offenen Lüge.

Insgesamt gelingt Angie Kim ein überzeugender psychologischer Spannungsroman, dem es über die gesamte Zeit gelingt, durch neue Enthüllungen und Wendungen die Spannung und Aufmerksamkeit hochzuhalten. Dabei überzeugt vor allem die Struktur und der Aufbau des Romans und der sehr intime Blick auf die Figuren.

 

Foto und Rezensionen von Andy Ruhr (Wir sind dieser Staub) und Gunnar Wolters (Miracle Creek).

Wir sind dieser Staub | Erschienen am 30.09.2021 im Eichborn Verlag
ISBN 978-3 84790-092-4
320 Seiten | 22,- €
Originaltitel: Valentine | Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Eva Bonné
Bibliografische Angaben & Leseprobe
Wertung: 5 von 5
historischer Kriminalroman | Western

Miracle Creek | Erscheinen am 09.03.2020 bei Hanserblau
ISBN: 978-3-906-90315-6
520 Seiten | 24,- €
Originaltitel: Miracle Creek | Übersetzung aus dem Englischen von Mareike Heimburger
Bibliografische Angaben & Leseprobe
Wertung: 4,0 von 5
Spannungsroman