Kategorie: 5 von 5

Peter Temple | Wahrheit

Peter Temple | Wahrheit

Als er sich zurücklehnte, den Adrenalinschub spürte, hatte er kurz das Gefühl, auf Singos Platz zu gehören: Stephen Villani, Chef des Morddezernats. Jemand, der es verdient hatte, Chef des Morddezernats zu sein.

Kurz. (Auszug S. 162)

Ich habe schon immer viel gelesen, überwiegend im Krimigenre. Seit etwa zehn Jahren als Amateurrezensent nochmal mehr als vorher. Dadurch habe ich eine gewisse Routine entwickelt, welches Buch mir denn gefallen könnte. Durch Wälzen von Vorschauen, Informationen über den Autor und Vorgängerbüchern, durch Meinungen anderer Rezensenten ist die Trefferquote dann eigentlich sehr hoch. Ich greife kaum noch zu Flops, weil ich schon vorher erahne, was mir nicht so passen könnte. Was ich auf der anderen Seite aber auch feststelle: Ich bin sehr zurückhaltend bei Superlativen geworden. Ich lese viele wirklich gute Bücher, aber dass ich die Höchstnote vergebe, kommt inzwischen sehr selten vor. In den letzten 18 Monaten nur drei Mal. Damit ich die 5 von 5 vergebe, muss inzwischen viel zusammenkommen: Setting, Figuren, Thema und ein sprachlich-literarischer Anspruch. Ich muss von Beginn an merken: Oha, hier will es der Autor oder die Autorin wissen. Und den hatte ich bei „Wahrheit“ direkt im ersten Absatz:

Sie fuhren über die West Gate Bridge, hinter Ihnen lag eine Wohnung in Altona, eine tote Frau, eigentlich noch ein Teenager, schmutzige, rot gefärbte Haare, ausgebleichte Tätowierungen, Stichverletzungen in Bauch, Brustkorb, Rücken, Gesicht, zu viele, um sie zu zählen. Dem Kind, männlich, zwei oder drei Jahre alt, hatte man den Kopf eingetreten. Überall war Blut. Auf dem Nylonteppich in Pfützen, eine Kette klebriger schwarzer Pfützen. (Auszug S.7)

Die beiden Männer, die eben an diesem grausigen Tatort waren, sind Kripochef Villani und sein Kollege Birkerts aus dem Morddezernat in Melbourne. Der grausige Doppelmord ist zwei Seiten weiter schon geklärt, aber er setzt den Ton für den weiteren Roman. Denn schon werden die Mordermittler zum nächsten Tatort gerufen. In einem Luxusapartment eines neu erbauten Hochhauskomplexes (inklusive Casino) wird die Leiche einer jungen Frau gefunden. Von Beginn an werden die Mordermittler um Stephen Villani nur unzureichend unterstützt. Die Security vor Ort ist keine Hilfe, auch bei den Vorgesetzten scheint der Fall keine Priorität zu besitzen. Da gerät ein zweiter Fall in den Fokus: In einer Gewerbeimmobilie wurden drei Kriminelle zum Teil brutal gefoltert und ermordet. Hier wird schnelle Aufklärung verlangt. Der Fall scheint eine Abrechnung im Milieu gewesen zu sein, hier ist zur Beruhigung der Bevölkerung ein rascher Erfolg vonnöten.
Nebenbei hat Inspector Villani auch privat einige Baustellen: Seine Ehe kriselt, er hat eine Geliebte, eine Journalistin eines lokalen Fernsehsenders. Seine minderjährige Tochter ist verschwunden und hängt offenbar mit Drogenabhängigen ab. Als Polizisten die Tochter aufgreifen, lässt Villani sie einige Stunden in Polizeigewahrsam schmoren und verschärft damit die familiäre Situation noch. Derweil hockt sein Vater im Hinterland auf seiner Farm, während gerade gewaltige Buschbrände toben. Villanis Versuche, ihn dort wegzulocken, sind vergeblich.

Orong winkte sie näher. Gillam und Barry neigten sich zu ihm hin.
„Ein Beispiel ist Prosilio“, sagte er und sah dabei Villani an, „man will nicht, dass irgendeine Nuttengeschichte ein Multimillionen-Dollar-Projekt beschädigt, ein Vorzeigeprojekt, ein Kronjuwel dieses Bezirks.“ […]
„Man findet jeden Tag tote Schlampen, stimmt’s, Inspector?“, sagte Orong. (Auszug S. 126)

Autor Peter Temple wurde 1946 in Südafrika geboren, arbeitete als Journalist. Er verlies bewusst 1977 das Apartheidregime, lebte einige Jahre in Deutschland und emigrierte dann 1980 nach Australien. Er arbeitete dort als Literaturdozent. Erst 1996 erschien „Bad Debts“, sein Debütroman und erster Band der vierteiligen Serie um den Privatermittler Jack Irish. Leider verstarb Temple bereits 2018 an Krebs. Er gilt aber weiterhin als einer der besten Krimiautoren Australiens. Fünfmal gewann er Australiens wichtigsten Krimipreis, den Ned Kelly Award, 2007 für „The Broken Shore“ auch als erster Australier den Gold Dagger, 2012 den Deutschen Krimipreis für „Wahrheit“. Und eigentlich reicht sein Ruf auch übers Genre hinaus, denn „Wahrheit“ ist einfach sensationell starke Literatur. In seiner Heimat gewann er mit dem Roman überraschend als Genreautor den allgemeinen Literaturpreis „Miles Franklin Award“.

Was den Roman so herausragend macht, ist das Zusammenspiel aller Zutaten. Schon allein sprachlich ist der Roman aus meiner Sicht außergewöhnlich gut, weil er dem Leser einiges abverlangt. Hier wird nichts nebenbei erklärt, keine Erklärdialoge geführt. Alles ist sprachlich höchst authentisch, verknappt, salopp, lakonisch. Die Stimmung ist düster und explosiv. Inspector Villani wird hier auf einer wahren Tour de Force begleitet, sowohl beruflich als auch privat. Dabei werden nebenbei große gesellschaftliche Probleme Australiens wie Machtmissbrauch und Korruption eingebettet und ein äußerst spannendes Bild von Polizeiarbeit gegeben. Temple bleibt aber permanent beim Protagonisten Villani und dessen Konflikten um Liebe, Ehe, Familie, das Verhältnis zum eigenen Vater und beruflich um die Loyalität im eigenen Team, das schwierige Agieren im Polizeiapparat und der Umgang mit den eigenen Leichen im Keller. Ein großartiger Roman.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Wahrheit | Erstmals erschienen 2009
Aktuell in der deutschen Übersetzung nur als E-Book verfügbar:
ISBN 978-3-641-06681-9 | 8,99 €
Originaltitel: Truth | Übersetzung aus dem Englischen von Hans M. Herzog
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Gunnars Rezension zu Peter Temples Roman „Die Schuld vergangener Tage“

Don Winslow | City On Fire (Band 1)

Don Winslow | City On Fire (Band 1)

Danny Ryan sieht die Frau dem Wasser entsteigen, sie taucht auf wie ein Bild aus einem Traum vom Meer, wie eine Vision. Nur dass sie real ist und es wegen ihr Ärger geben wird. Wie meistens mit schönen Frauen. (Auszug Anfang)

Mitte der 80er Jahre regieren in Providence im US-Bundesstaat Rhode Island zwei lokale Mafiaclans fast friedlich nebeneinander. Den irischstämmigen Murphys gehören die Docks und die Gewerkschaften, die italienischstämmigen Morettis kontrollieren die Restaurants, das Glücksspiel und die Prostitution. Bei Unstimmigkeiten trifft man sich zum Bier im Hinterzimmer des örtlichen Pubs. Skrupel hatte man bisher nur beim Drogenhandel und überlässt dieses Geschäftsfeld lieber noch den Afro-Amerikanern. In „Dogtown“, einem ärmeren Viertel, benannt nach den Rudeln wilder Hunde, die hier vor langer Zeit nach Schlachtabfällen suchten, müssen alle zusehen, wie sie zurechtkommen. Die Fischerei bringt nicht mehr viel ein und auch die Werften und Fabriken sichern immer weniger die Einkommen. Schon seit Generationen haben sich die ehemaligen Einwanderer gegen die verhassten Yankees verbündet.

Eklat bei Strandparty
Der alte italienische Clanboss Pasco Ferri veranstaltet immer am Labor-Day-Wochenende ein großes Grillfest am Strand. Natürlich sind bei diesem Clambake auch die irischen Mobster eingeladen und lassen es sich bei gegrillten Meeresfrüchten und Bier am Goshen Beach gutgehen. Ausgerechnet hier bekommt die fragile Koexistenz der beiden Clans Risse und eine Spirale der Gewalt setzt sich in Gang. Paulie Moretti, Bruder des angehenden Clanbosses Peter Moretti präsentiert stolz seine neue Eroberung, Pam, eine Ostküstenschönheit, die jedem den Kopf verdreht. Als Liam Murphy, nichtsnutziger Sohn des irischen Paten und Weiberheld sich an Pam heranmacht, führt gekränkte männliche Eitelkeit zur Katastrophe. Der Zwischenfall löst eine Lawine der Gewalt aus und es kommt zu einem erbitterten tödlichen Bandenkrieg.

Immer wieder versucht der kluge, umsichtige Danny Ryan, Hauptfigur in Winslows neuem Thriller und Sohn des früheren irischen Clanchefs Marty Ryan die Wogen zu glätten. Aber seine tiefe Verbundenheit zu den Murphys bringt ihn immer wieder dazu, mitzumischen. Seine Mutter hatte ihn als Baby im Stich gelassen, sein Vater ist dem Alkohol verfallen und so verbrachte er einen Großteil seiner Kindheit bei den Murphys. Pat Murphy ist für ihn wie ein Bruder und mit dessen Schwester Terri ist er glücklich verheiratet. In Gewissenskonflikte kommt er auch durch das Auftreten des FBI in Gestalt des Agenten Jardine, der ihm einen Deal anbietet: Zeugenschutz, wenn er kooperiert. Danny will eigentlich schon lange das Business verlassen und träumt davon, nach Kalifornien zu ziehen. Aber soll er deshalb zum Verräter werden? Als die blutigen Revierkämpfe immer weiter eskalieren, muss Danny widerwillig selbst das Zepter übernehmen. Er steigt vom Handlanger zum vollwertigen Mitglied des Clans auf und findet sich schlussendlich an der Spitze wieder.

Dass mal jemand erschossen wird, ist das eine – die Öffentlichkeit erwartet das praktisch. Aber Autobomben? Durch die Unschuldige verletzt werden könnten? Das ist was ganz anderes – das ist Nordirland-Scheiße, und die Leute werden das nicht einfach hinnehmen. (Auszug Seite 206)

Winslow lässt die 80er Jahre in einem fast greifbaren Setting wieder aufleben und zeigt uns dabei ein authentisches Bild der Mafia in dieser Zeit. Die alternden Mafiabosse, die den Friedenspakt ausgehandelt hatten, müssen um ihre Macht kämpfen. Auf der anderen Seit ist die junge, hitzige Generation unzufrieden, hat ihre eigenen Vorstellungen und trifft immer wieder weitreichende Fehlentscheidungen.

Klassischer Thriller, Epos und Drama
Winslow erzählt die Geschichte in dem für ihn so typisch mitreißenden Sound im Präsenz mit kurzen, markanten Sätzen. Die tempo- und wendungsreiche Erzählweise des Autors, die er einfach perfekt beherrscht, löste bei mir ein Kopfkino aus und ich konnte den eng getakteten Thriller nicht mehr aus der Hand legen. Ganz nüchtern, ohne zu urteilen schildert er die Intrigen und Bündnisse, die geschmiedet werden und die immer wieder zu neuen Gewalttaten führen. Man ist immer ganz nah an den allzu menschlichen Charakteren, mit denen man mitfiebert und bangt, man vergisst mitunter, dass es sich um das organisierte Verbrechen handelt. Neben Protagonist Danny Ryan stattet Winslow auch seine zahlreichen Nebencharaktere mit einer eigenen Geschichte aus, und sorgt damit für viele emotionale Noten. Eine gut konstruierte, ganz klassische Geschichte, in der Macht, Loyalität, Familie, Freundschaft und Verrat eine große Rolle spielen.

Heimkehr zum Karriere-Ende
City on Fire ist der erste Teil einer Trilogie, die Don Winslow bereits komplett fertig gestellt hat. Inspiration holte er sich bei den großen Klassikern, die seiner Ansicht nach, alle Themen der modernen Kriminalliteratur wie Macht, Gewalt, Rache, Korruption und Wiedergutmachung abdecken. Den drei Teilen des Thrillers ist jeweils ein Vers aus der Ilias von Homer vorangestellt. Winslow hat den Stoff, bei dem aus der fatalen Liebesgeschichte um die schöne Helena ein Krieg, der berühmte Kampf um Troja entstand, in die Mafiazeit der 80er Jahre transferiert. Winslow ist an der Küste von Rhode Island aufgewachsen, viele seiner Erfahrungen mit dem kriminellen Milieu flossen in die Geschichte ein und zum ersten Mal ist seine Heimatstadt Schauplatz eines Romans. Praktisch eine Heimkehr zum Karriere-Ende! Denn der Ausnahmeschriftsteller verkündete nach Abschluss der Trilogie das Ende seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Alle Geschichten wären erzählt und der 68-Jährige, der immer schon politisch sehr engagiert war, will fortan eigenfinanziert mit digitalen Kampagnen eine mögliche Wiederwahl Donald Trumps verhindern.

City on Fire ist kein weiterer monumentaler Meilenstein wie ‚Tage der Toten‘ doch sehe ich hier Winslow in Bestform, auf dem Höhepunkt seines Schaffens und ich kann den zweiten Band ‚City of Dreams‘ kaum erwarten. Und die Filmrechte wurden schon verkauft.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

City on Fire | Erschienen am 24.05.2022 bei HarperCollins
ISBN 978-3-74990-320-7
400 Seiten | 22,- €
Originaltitel: City on Fire | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Conny Lösch
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Weitere Rezensionen zu Romanen von Don Winslow

Rumaan Alam | Inmitten der Nacht

Rumaan Alam | Inmitten der Nacht

Amanda und Clay haben über Airbnb ein luxuriöses Ferienhaus gemietet, um mit ihren beiden Teenager-Kindern Archie und Rose eine unbeschwerte Ferienwoche auf Long Island zu verbringen. Eine typisch weiße New Yorker Mittelschichtsfamilie, Amanda arbeitet im Marketing und Clay als Dozent an einem College. Die schicke Villa, die mit Swimmingpool, Jakuzzi und hochwertiger Ausstattung samt Klimaanlage keine Wünsche offenlässt, können sie sich nur leisten, weil sie ziemlich abgelegen am Rande eines Waldgebietes liegt. Keine Nachbarn in der Nähe und zum Einkaufen muss man einige Zeit fahren. Doch die Erholung währt nur kurz, denn mitten in der ersten Nacht, die Kinder sind schon im Bett, Amanda und Clay sitzen vor dem Fernseher, steht jemand draußen vor der Tür.

Und da war es wieder, unverkennbar: ein Geräusch. Husten, eine Stimme, Schritte, Zögern; jenes unbeschreibliche Tierwissen, dass sich ein Vertreter der eigenen Spezies in unmittelbarer Nähe befindet. Die drückende Stille, in der man sich fragt, ob er Böses im Schilde führt. Es klopfte an der Tür. (Auszug Seite 48)

Amandas erster Reflex ist der Griff zum Baseballschläger, doch als Clay ängstlich die Tür öffnet, steht vor ihm ein schwarzes Paar in den Sechzigern und bittet um Einlass. Der Finanzmakler George G.H. und seine Frau Ruth erklären sich als die Besitzer des Feriendomizils, die vor einem großflächigen Stromausfall aus Manhattan hierher geflohen sind. Die ganze Ostküste sei lahmgelegt, sie hätten es nicht mehr in ihre Wohnung in der Park Avenue geschafft und aufgrund der chaotischen Zustände in New York hier Zuflucht gesucht. Amanda und Clay sind verständlicherweise verunsichert, besonders Amanda sehr skeptisch, ob sie den beiden trauen können, denn der Strom läuft hier noch ordnungsgemäß. Die Aussagen lassen sich auch nicht überprüfen, denn der Handyempfang ist in dieser ländlichen Abgeschiedenheit generell schlecht, aber jetzt funktionieren weder TV, Internet noch Telefon. Sämtliche Verbindungen zur Außenwelt scheinen gekappt.

G.H. verstand es bestens, das Verhalten anderer Menschen vorherzusagen, doch das brauchte Zeit. Sie waren im Haus. Nur darauf kam es an. (Auszug Seite 57)

Aus dieser Ausgangssituation entwickelt sich ein immer bedrohlicher werdendes Szenario. Anhand des fesselnden Klappentextes erwartete ich eine Mischung aus Thriller und Psychospiel. Während der Lektüre ist man sich aber nicht mehr sicher, ob es sich um einen Psychothriller oder doch eher um eine Dystopie handelt. Das Unheil schleicht sich unaufhaltsam an und es verdichten sich die Hinweise darauf, dass sich eine Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes ereignet hat. Durch einen allwissenden Erzähler weiß die Leser*in immer ein wenig mehr als die Protagonist*innen. Dabei verstärkt es die latent bedrohliche Spannung, dass man immer nur versteckte kleine Andeutungen bekommt, die jedoch nie das explizite Ausmaß der Katastrophe enthüllen.

Auch die sechs Menschen, die in einer zufällig zusammengewürfelten Gemeinschaft auf kleinem Raum in dem abgelegenen Ferienhauses zusammengeschweißt sind, wissen nicht, was da draußen vorgeht und ob sie das vermeintlich sichere Refugium verlassen und in die Stadt zurückkehren sollen. Wie die beiden Familien fernab von jeder Informationsquelle versuchen mit der Situation umzugehen, wie sie sich in vermeintlich logischen Erklärungen versuchen, um sich selbst zu beruhigen und die Angst zu verdrängen, wie sie verzweifelt versuchen, die Normalität aufrechtzuerhalten und zwischen Tatkraft und Erstarrung wechseln, das ist beklemmend und allzu menschlich dargestellt. Auf sich selbst zurückgeworfen schwanken sie zwischen Verwirrung, Ablehnung und Angst vor Kontrollverlust. Die Geschichte lebt von der Dynamik zwischen der widerwilligen Schicksalsgemeinschaft und dass weder die Figuren noch wir erfahren, was außerhalb Long Islands passiert. Es mutet fast surrealistisch zu, wenn plötzlich Hunderte Rehe am Waldesrand oder Dutzende Flamingos am Pool auftauchen.

Auch sie würden bald verstummen wie vor einem plötzlichen Sommergewitter, denn die Insekten wussten Bescheid; sie klammerten sich mit aller Kraft an der gefurchten Baumrinde fest und warteten auf das, was da kommen würde. (Auszug Seite 164)

„Inmitten der Nacht“ ist eine anspruchsvolle Lektüre, die mich von der ersten Seite an gefesselt und über die etwas mehr als 300 Seiten nicht mehr losgelassen hat. Das lag zum einen an der Sprachgewalt des Autors. Rumaan Alam nimmt sich viel Zeit, seine Figuren genüsslich zu sezieren und ihre Charaktere ambivalent zu zeichnen. Sein Blick ist präzise, genau und glaubwürdig. Er beschreibt Durchschnittsmenschen mit Fehlern, Eigenarten und Lastern. Amanda schämt sich für den Gedanken, dass es nicht die Sorte Haus zu sein scheint, in dem Schwarze wohnen. Clay, der sich mit dem Auto nach Hilfe aufmacht, ist der Situation überhaupt nicht gewachsen und mag nicht mal zugeben, dass er sich verfahren hat. Aber auch Ruth und G.H. blicken mit einigen Vorbehalten auf den Lebensstil der Weißen herab und fühlen sich Ihnen intellektuell und gesellschaftlich überlegen. Dadurch besteht die ganze Zeit eine Unbehaglichkeit, auch weil nicht klar ist, wer Gast und wer Gastgeber ist. Dabei sind die teilweise irrationalen Verhaltensweisen für mich absolut nachvollziehbar.

Rumaan Alam hat einen dynamischen Erzählstil und verfügt über die Gabe, die Alltäglichkeiten des Zusammenlebens einer Familie dicht an die Leser*in heranzutragen, oft mit feinem Humor, ohne jemand lächerlich zu machen. Ob es die detaillierte Beschreibung der Ferienwohnung ist, oder die Einkäufe, die Amanda noch kurz vorher tätigt und deren Beschreibung sich über eine Seite zieht. Für mich kein Wort zu viel, eine unglaubliche Lesereise und ein wunderbares sowie verstörendes Vergnügen, dass sich schwer einem bestimmten Genre zuordnen lässt. Ein Psycho- oder Katastrophenthriller, Kammerspiel und Sozialsatire, in dem der Autor soziale Themen wie Klimawandel, Alltagsrassismus und Konsumgesellschaft ohne große Effekthascherei streift.

Der Roman stand auf der Shortlist des Booker Prize 2020 und befand sich übrigens auch auf Barack Obamas Liste der besten Bücher 2021, was seinen Humor beweist, wenn man an die Stellen über den ehemaligen Präsidenten im Buch denkt. Der Roman soll von Netflix mit Julia Roberts und Mahershala Ali in den Hauptrollen verfilmt werden.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Inmitten der Nacht | Erschienen am 18.10.2021 im btb Verlag
ISBN 978-3-4427-5928-6
320 Seiten | 22,- €
Originaltitel: Leave the World Behind (Übersetzt aus dem Englischen von Eva Bonné)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Stephanie Bart | Deutscher Meister

Stephanie Bart | Deutscher Meister

Im Frühjahr 1933 ist der Vorsitzender des Verbandes deutscher Faustkämpfer bestrebt, den Boxsport besonders schnell im Sinne der neuen Machthaber aufzustellen. Daher wird der jüdische Halbschwergewichtler Erich Seelig im Vorfeld seines Meisterschaftskampfes bedroht, ihm die Teilnahme entzogen und der Meistertitel aberkannt. Dadurch ergibt sich ein vakanter Meisterschaftstitel, um den nun Johann „Rukeli“ Trollmann kämpfen darf.

Doch Trollmann ist ein Sinto und daher dem Verband natürlich ebenfalls ein Dorn im Auge. Schon mehrfach sind dem sehr talentierten Trollmann Steine in den Weg gelegt worden, aber er ist ein Publikumsliebling. Trollmann ist für hervorragende Beinarbeit und Defensivtaktik bekannt, zudem neigt er im Ring zur Demonstration seiner Überlegenheit, in dem er den Gegner vorführt und provoziert (Der Leser zieht selbstverständlich direkt Parallelen zu Muhammed Ali). Für den Verbandsvorsitzenden ist das kein „arisches“ Boxen und für ihn steht fest: Trollmann darf den Meisterschaftskampf am 09.06.1933 gegen Adolf Witt nicht gewinnen. Aufgrund der Popularität Trollmanns aber am besten durch eine halbwegs reguläre Niederlage, um das Publikum zu beruhigen. So wird im Vorfeld aber an einigen Fäden gezogen, um die Niederlage Trollmanns vorzubereiten.

Die wahre Geschichte des Boxers Johann „Rukeli“ Trollmann wird hier in mehreren Monaten des Jahres 1933 nacherzählt, bei der man, ohne zu spoilern, von einer tragischen Geschichte sprechen darf. Das Schicksal Trollmann steht dabei exemplarisch für die Zerstörung von vielversprechenden Karrieren und Leben durch nationalsozialistische Funktionäre. Erst 2003 wurde Trollmann, der 1944 im KZ starb, postum in die Reihe der deutschen Boxmeister aufgenommen.

Die Autorin Stephanie Bart zeichnet das Porträt Trollmanns als das eines lebenslustigen, fröhlichen Mannes, eitel, aber mit Sportsgeist und Familiensinn, im Ring manchmal ein etwas schlampiges Genie. Die Benachteiligung als Sinto ist ihm allgegenwärtig, trotzdem hofft er auf den Meistertitel. Dagegen wird der Vorsitzende des Verbandes nie mit seinem richtigen Namen erwähnt, ein biederer Funktionär und Opportunist ersten Ranges. Die Figurenzeichnungen der Autorin sind bis in die Nebenfiguren brillant, vom betrunkenen SA-Schläger, die eitle und anbiedernde Sportpresse über die zynisch kommentierenden Boxhonorationen, bis hin zum Edelboxfan Bishop und den beiden Bäckereiverkäuferinnen und Trollmann-Fans Kurzbein und Plaschnikow, die bis zuletzt den Naziblockwart provozieren.

Man hätte nicht sagen können, ob das Schreien den Körper steuerte oder ihm folgte: Vereinigt waren die Menschen, hatten Bäckereien, SA und Zigeunersein, hatten die Welt verlassen, um in der Gegenwart des Augenblicks aufzugehen. Trollmann gab sich der Bewegung hin, ließ jenseits der Seile ausatmend die Beine herab, setzte mit beden Füßen auf und hatte damit den Ring betreten. Hinter ihm glitt der Saum des Mantels vom Seil. Es war der Kampf um den Titel des Deutschen Meisters im Halbschwergewicht am 9. Juni 1933 in der Bockbrauerei, Fidicinstraße, Berlin-Kreuzberg. (Auszug S.9)

Eine zentrale Rolle im Roman nehmen die meisterhaften Schilderungen der Boxkämpfe ein, allen voran der Kampf Trollmann vs. Witt, der zu einem Kampf der System hochstilisiert wird. Nicht nur der Kampf selbst, auch das Geschehen rund um den Ring wird im Stile einer Reportage brillant wiedergegeben. Auch der zweite große Kampf Eder vs. Trollmann wird prägnant geschildert – der letzte Kampf Trollmanns, eine Farce von Anfang bis Ende, bei der Trollmann aber durch seine Inszenierung der Farce seinen eigenen Stempel aufdrückt.

„Deutscher Meister“ ist ein aufrüttelnder Roman über die „Gleichschaltung“ des Sports in der NS-Zeit und im speziellen über einen großen Sportler, dem große Ungerechtigkeit und Niedertracht widerfährt. Auch für den Leser heutzutage fühlt sich das an wie ein Faustschlag ins Gesicht. Daneben bettet die Autorin weitere Ereignisse der ersten Monate unter NS-Herrschaft in die Handlung ein. Bestechend sind neben den Figuren vor allem die Beschreibung der Kämpfe, die fast filmisch beschrieben werden. Ein großartiger Roman, der nicht nur für Fans des Boxsports eine Lektüre wert sein sollte.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Deutscher Meister | Erschienen am 12.08.2014 im Hoffmann & Campe Verlag
ISBN 978-3-455-65092-1
Als Taschenbuchausgabe: 384 Seiten | 12,- €
Die gelesene Ausgabe erschien 2015 als Lizenzausgabe der Büchergilde Gutenberg
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Reingehört | Hörbücher-Kurzrezensionen ♬ März 2022

Reingehört | Hörbücher-Kurzrezensionen ♬ März 2022

Hörbuch-Kurzrezensionen Anfang März 2022

 

Henri Faber | Ausweglos ♬

Elias Blom von der Kripo Hamburg war vor einigen Jahren daran gescheitert, einen brutalen Serienmörder, in der Öffentlichkeit als Ringfinger-Mörder bekannt, zur Strecke zu bringen und wurde ins Einbruchdezernat versetzt. Doch er sieht eine neue Chance, sich zu rehabilitieren, als jetzt erneut eine Bluttat geschieht, die die Handschrift des Killers einschließlich abgetrennten Fingers trägt. Denn diesmal gibt es einen wichtigen Zeugen. Noah Klingberg hatte Wäsche auf dem Dachboden eines Mehrfamilienhauses auf gehangen, als er mit einem Messer attackiert und gezwungen wurde, den Unbekannten zu seiner Frau Linda zu bringen. Noah sieht einen Ausweg und lotst den Angreifer in die Nachbarwohnung, zu der er einen Zweitschlüssel besitzt und in der er das Ehepaar Falk im Urlaub wähnt. Am anderen Morgen wacht er schwer verletzt neben der toten Nachbarin Emma Falk auf.

Henri Faber hat mit seinem Debüt einen fesselnden Thriller geschaffen, der mit relativ kurzen Kapiteln und wechselnden Perspektiven von Beginn an spannend ist und sich im weiteren Verlauf zu einem Verwirrspiel der verschiedenen Charaktere wandelt. Dreh- und Angelpunkt der Geschichte sind die Figuren, die wir durch vier versierte Sprecher mit ihren Geheimnissen, Schwächen und Stärken kennenlernen. Besonders durch das Eintauchen in die Privatleben der Ehepaare Klingberg und Falk wird die Geschichte immer undurchsichtiger. Wir erfahren die Zusammenhänge aus der Sicht von Noah, einem erfolglosen Schriftsteller, der alles für seine Frau tun würde. Linda leidet aufgrund eines unerfüllten Kinderwunsches unter psychischen Problemen und dann ist da noch Elias Blom, der verbissene Kommissar, dessen Charakterisierung ich etwas blass fand. Zwischendurch nimmt uns auch immer wieder der Serienmörder mit in seine krude Gedankenwelt.

Der Autor schafft es gekonnt einen an der Nase herum zu führen und bietet eine Bandbreite an vermuteten Tatabläufen, falschen Geständnissen sowie ungeahnten Wendungen. Die Auflösung ist in keiner Weise vorhersehbar und birgt einen dramatischen wenn auch durch den Alleingang Bloms reichlich unrealistischen Showdown und ein abstruses Ende.

 

Ausweglos | Als Hörbuch am 20. August 2021 im Der Audio Verlag erschienen
ISBN 978-3-7424-2084-8
Ungekürzte Lesung | Sprecher: Simon Jäger, Vera Teltz, Philipp Schepmann und Uve Teschner
Laufzeit: 12 Stunden, 45 Minuten | 14,99 Euro
Weitere Angaben und Hörprobe
Die Printausgabe erschien bei dtv Verlagsgesellschaft.

Wertung: 3,0 von 5
Genre: Psychothriller

 

 

Agatha Christie | Tod auf dem Nil ♬

Im Kino läuft gerade die Neuverfilmung von „Tod auf dem Nil“ mit Kenneth Branagh. Das hat mich auf den Geschmack gebracht und ich habe mir den Klassiker sowie eines der bekanntesten Werke der britischen Autorin bei Audible als Hörbuch runtergeladen.

Während seines Urlaubes in Ägypten lernt der berühmte belgische Detektiv Hercule Poirot auf einem Nilkreuzfahrtschiff ein jung verheiratetes Paar kennen. Die bildschöne Millionenerbin Linnet Ridgeway und ihr Ehemann Simon Doyle können ihre Hochzeitsreise auf der „Karnak“ aber nicht wirklich genießen. Linnets beste Freundin Jacqueline de Bellefort, die vorher mit dem mittellosen Doyle verlobt war und die beiden miteinander bekannt gemacht hatte, verfolgt sie rachedurstig überall hin und macht ihnen die Flitterwochen zur Hölle. Heute würde man das Stalking nennen. Linnets Ermordung bringt schließlich die Krimihandlung ins Rollen. Da es nicht bei der einen Toten bleibt, ist der Spürsinn des klugen wie auch eitlen Detektivs mit dem imposanten Moustache gefragt und er steht vor der intellektuellen Herausforderung, den Tathergang penibel zu rekonstruieren. Als Poirot die anderen Passagiere des Nildampfers befragt und nach möglichen Mord-Motiven durchleuchtet (kleiner Spoiler: Sie haben fast alle eins) muss er mit Hilfe seiner genialen Kombinationsgabe die perfekten Alibis zerpflücken und den Mörder trotz vieler falscher Fährten nur aufgrund von Indizien entlarven.

Es handelt sich um einen klassischen Whodunit, dessen Handlung sich auch typisch für Christie in einem isolierten Raum vor exotischer Kulisse abspielt. Der wendungsreiche Krimi-Plot lebt von seinen pointierten Dialogen und einem bissigen Blick auf die damalige bessere Gesellschaft. Die vielen überspitzt dargestellten Charaktere werden mit viel Liebe zum Detail ins Bild gesetzt und dank eines auktorialen Erzählers erfahren wir alles über ihre Beweg- und Hintergründe. Dem Charme dieses fintenreichen Rätselkrimis, bei dem auch die Wirtschaftskrise und der Börsencrash eine Rolle spielen, konnte ich mich nicht entziehen. Die Lösung ist überraschend und immer wieder faszinierend, wie auf den ersten Blick unscheinbare Details im Rückblick eine wichtige Bedeutung erlangen.

 

Tod auf dem Nil | Erschienen am 16.11.2018 im Der Hörverlag
ISBN: 978-3-8445-3279-1
Ungekürzte Lesung | Sprecher: Martin Maria Schwarz
Laufzeit: 9 Stunden 42 Minuten | 7,95 Euro
Weitere Angaben & Hörprobe
Originaltitel: Death on the Nile (Übersetzt aus dem Englischen von Pieke Biermann)
Die aktuelle Printausgabe erschien im Atlantik Verlag.

Wertung: 4,5 von 5
Genre: Krimi

 

Agatha Christie | Mord im Orient-Express ♬

An einem kalten Wintertag steigt der Privatdetektiv Hercule Poirot in Istanbul in einen Luxuszug, der ihn nach London bringen soll. Der Orientexpress ist für die Jahreszeit überraschend voll besetzt, nur durch seine Beziehung zu dem ebenfalls mitreisenden Eisenbahn-Direktor Monsieur Bouc bekommt er noch ein freies Abteil. Nach einer unruhigen Nacht bleibt der Zug in einer Schneewehe stecken und im Nachbarabteil wird der amerikanische Geschäftsmann Samuel Edward Ratchett durch 12 Messerstiche erstochen aufgefunden. Zur Unbeweglichkeit verdammt sitzen der Detektiv und die Mitreisenden fest und Monsieur Bouc bittet den Meisterdetektiv den Fall aufzuklären. Das stellt Poirot vor einige Herausforderungen, hatte doch der mysteriöse Mr. Ratchett ihn am Tag davor im Speisewagen von Morddrohungen berichtet und um Schutz gebeten. Der Täter kann nur einer der Passagiere sein und es stellt sich heraus, dass nicht alle (Ratchett eingeschlossen) die sind, für die sie sich ausgeben.

Ich habe zum ersten Mal die Geschwindigkeit des Hörbuchs etwas erhöht und dann bot der Krimiklassiker großes Unterhaltungspotential mit allem, wofür die Queen of Crime bewundert wird: Ein großes Figurenensemble unterschiedlicher Couleur, ein exotisches Setting, falsche Alibis, zahlreiche Verdächtige sowie die Suche nach dem Motiv. Durch den geschlossenen Raum erleben wir fast ein Kammerspiel mit einem Meisterdetektiv, dessen kleine, graue Zellen auf Hochtouren arbeiten. Dialoge, die nur so vor Schlagkraft und zynischem Wortwitz strotzen. Dazu sieht sich Poirot diesmal, dem ein tiefsitzendes Bedürfnis nach Halt und Ordnung innewohnt, mit Fragen der Moral und Ethik konfrontiert. Der Mordfall ist vertrackt, das ausgeklügelte Ende wirklich erstaunlich und hat nach all den Jahren nichts von seinem Charme verloren. Auch dieser Roman wurde von und mit Kenneth Branagh neu verfilmt.

 

Mord im Orientexpress | Erschienen am 12.05.2014 in Der Hörverlag
ISBN: 978-3-8445-1482-7
ungekürzte Lesung | Sprecher: Friedhelm Ptok
Laufzeit: 7 Stunden 28 Minuten | 6,95 Euro
Weitere Angaben & Hörprobe
Originaltitel: Murder on the Orient Express (aus dem Engischen übersetzt von Otto Bayer)
Die aktuelle Printausgabe erschien im Atlantik Verlag.

Wertung: 5 von 5
Genre: Krimi

 

Fotos und Rezensionen von Andy Ruhr.