Kategorie: 5 von 5

Stephanie Bart | Deutscher Meister

Stephanie Bart | Deutscher Meister

Im Frühjahr 1933 ist der Vorsitzender des Verbandes deutscher Faustkämpfer bestrebt, den Boxsport besonders schnell im Sinne der neuen Machthaber aufzustellen. Daher wird der jüdische Halbschwergewichtler Erich Seelig im Vorfeld seines Meisterschaftskampfes bedroht, ihm die Teilnahme entzogen und der Meistertitel aberkannt. Dadurch ergibt sich ein vakanter Meisterschaftstitel, um den nun Johann „Rukeli“ Trollmann kämpfen darf.

Doch Trollmann ist ein Sinto und daher dem Verband natürlich ebenfalls ein Dorn im Auge. Schon mehrfach sind dem sehr talentierten Trollmann Steine in den Weg gelegt worden, aber er ist ein Publikumsliebling. Trollmann ist für hervorragende Beinarbeit und Defensivtaktik bekannt, zudem neigt er im Ring zur Demonstration seiner Überlegenheit, in dem er den Gegner vorführt und provoziert (Der Leser zieht selbstverständlich direkt Parallelen zu Muhammed Ali). Für den Verbandsvorsitzenden ist das kein „arisches“ Boxen und für ihn steht fest: Trollmann darf den Meisterschaftskampf am 09.06.1933 gegen Adolf Witt nicht gewinnen. Aufgrund der Popularität Trollmanns aber am besten durch eine halbwegs reguläre Niederlage, um das Publikum zu beruhigen. So wird im Vorfeld aber an einigen Fäden gezogen, um die Niederlage Trollmanns vorzubereiten.

Die wahre Geschichte des Boxers Johann „Rukeli“ Trollmann wird hier in mehreren Monaten des Jahres 1933 nacherzählt, bei der man, ohne zu spoilern, von einer tragischen Geschichte sprechen darf. Das Schicksal Trollmann steht dabei exemplarisch für die Zerstörung von vielversprechenden Karrieren und Leben durch nationalsozialistische Funktionäre. Erst 2003 wurde Trollmann, der 1944 im KZ starb, postum in die Reihe der deutschen Boxmeister aufgenommen.

Die Autorin Stephanie Bart zeichnet das Porträt Trollmanns als das eines lebenslustigen, fröhlichen Mannes, eitel, aber mit Sportsgeist und Familiensinn, im Ring manchmal ein etwas schlampiges Genie. Die Benachteiligung als Sinto ist ihm allgegenwärtig, trotzdem hofft er auf den Meistertitel. Dagegen wird der Vorsitzende des Verbandes nie mit seinem richtigen Namen erwähnt, ein biederer Funktionär und Opportunist ersten Ranges. Die Figurenzeichnungen der Autorin sind bis in die Nebenfiguren brillant, vom betrunkenen SA-Schläger, die eitle und anbiedernde Sportpresse über die zynisch kommentierenden Boxhonorationen, bis hin zum Edelboxfan Bishop und den beiden Bäckereiverkäuferinnen und Trollmann-Fans Kurzbein und Plaschnikow, die bis zuletzt den Naziblockwart provozieren.

Man hätte nicht sagen können, ob das Schreien den Körper steuerte oder ihm folgte: Vereinigt waren die Menschen, hatten Bäckereien, SA und Zigeunersein, hatten die Welt verlassen, um in der Gegenwart des Augenblicks aufzugehen. Trollmann gab sich der Bewegung hin, ließ jenseits der Seile ausatmend die Beine herab, setzte mit beden Füßen auf und hatte damit den Ring betreten. Hinter ihm glitt der Saum des Mantels vom Seil. Es war der Kampf um den Titel des Deutschen Meisters im Halbschwergewicht am 9. Juni 1933 in der Bockbrauerei, Fidicinstraße, Berlin-Kreuzberg. (Auszug S.9)

Eine zentrale Rolle im Roman nehmen die meisterhaften Schilderungen der Boxkämpfe ein, allen voran der Kampf Trollmann vs. Witt, der zu einem Kampf der System hochstilisiert wird. Nicht nur der Kampf selbst, auch das Geschehen rund um den Ring wird im Stile einer Reportage brillant wiedergegeben. Auch der zweite große Kampf Eder vs. Trollmann wird prägnant geschildert – der letzte Kampf Trollmanns, eine Farce von Anfang bis Ende, bei der Trollmann aber durch seine Inszenierung der Farce seinen eigenen Stempel aufdrückt.

„Deutscher Meister“ ist ein aufrüttelnder Roman über die „Gleichschaltung“ des Sports in der NS-Zeit und im speziellen über einen großen Sportler, dem große Ungerechtigkeit und Niedertracht widerfährt. Auch für den Leser heutzutage fühlt sich das an wie ein Faustschlag ins Gesicht. Daneben bettet die Autorin weitere Ereignisse der ersten Monate unter NS-Herrschaft in die Handlung ein. Bestechend sind neben den Figuren vor allem die Beschreibung der Kämpfe, die fast filmisch beschrieben werden. Ein großartiger Roman, der nicht nur für Fans des Boxsports eine Lektüre wert sein sollte.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Deutscher Meister | Erschienen am 12.08.2014 im Hoffmann & Campe Verlag
ISBN 978-3-455-65092-1
Als Taschenbuchausgabe: 384 Seiten | 12,- €
Die gelesene Ausgabe erschien 2015 als Lizenzausgabe der Büchergilde Gutenberg
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Reingehört | Hörbücher-Kurzrezensionen ♬ März 2022

Reingehört | Hörbücher-Kurzrezensionen ♬ März 2022

Hörbuch-Kurzrezensionen Anfang März 2022

 

Henri Faber | Ausweglos ♬

Elias Blom von der Kripo Hamburg war vor einigen Jahren daran gescheitert, einen brutalen Serienmörder, in der Öffentlichkeit als Ringfinger-Mörder bekannt, zur Strecke zu bringen und wurde ins Einbruchdezernat versetzt. Doch er sieht eine neue Chance, sich zu rehabilitieren, als jetzt erneut eine Bluttat geschieht, die die Handschrift des Killers einschließlich abgetrennten Fingers trägt. Denn diesmal gibt es einen wichtigen Zeugen. Noah Klingberg hatte Wäsche auf dem Dachboden eines Mehrfamilienhauses auf gehangen, als er mit einem Messer attackiert und gezwungen wurde, den Unbekannten zu seiner Frau Linda zu bringen. Noah sieht einen Ausweg und lotst den Angreifer in die Nachbarwohnung, zu der er einen Zweitschlüssel besitzt und in der er das Ehepaar Falk im Urlaub wähnt. Am anderen Morgen wacht er schwer verletzt neben der toten Nachbarin Emma Falk auf.

Henri Faber hat mit seinem Debüt einen fesselnden Thriller geschaffen, der mit relativ kurzen Kapiteln und wechselnden Perspektiven von Beginn an spannend ist und sich im weiteren Verlauf zu einem Verwirrspiel der verschiedenen Charaktere wandelt. Dreh- und Angelpunkt der Geschichte sind die Figuren, die wir durch vier versierte Sprecher mit ihren Geheimnissen, Schwächen und Stärken kennenlernen. Besonders durch das Eintauchen in die Privatleben der Ehepaare Klingberg und Falk wird die Geschichte immer undurchsichtiger. Wir erfahren die Zusammenhänge aus der Sicht von Noah, einem erfolglosen Schriftsteller, der alles für seine Frau tun würde. Linda leidet aufgrund eines unerfüllten Kinderwunsches unter psychischen Problemen und dann ist da noch Elias Blom, der verbissene Kommissar, dessen Charakterisierung ich etwas blass fand. Zwischendurch nimmt uns auch immer wieder der Serienmörder mit in seine krude Gedankenwelt.

Der Autor schafft es gekonnt einen an der Nase herum zu führen und bietet eine Bandbreite an vermuteten Tatabläufen, falschen Geständnissen sowie ungeahnten Wendungen. Die Auflösung ist in keiner Weise vorhersehbar und birgt einen dramatischen wenn auch durch den Alleingang Bloms reichlich unrealistischen Showdown und ein abstruses Ende.

 

Ausweglos | Als Hörbuch am 20. August 2021 im Der Audio Verlag erschienen
ISBN 978-3-7424-2084-8
Ungekürzte Lesung | Sprecher: Simon Jäger, Vera Teltz, Philipp Schepmann und Uve Teschner
Laufzeit: 12 Stunden, 45 Minuten | 14,99 Euro
Weitere Angaben und Hörprobe
Die Printausgabe erschien bei dtv Verlagsgesellschaft.

Wertung: 3,0 von 5
Genre: Psychothriller

 

 

Agatha Christie | Tod auf dem Nil ♬

Im Kino läuft gerade die Neuverfilmung von „Tod auf dem Nil“ mit Kenneth Branagh. Das hat mich auf den Geschmack gebracht und ich habe mir den Klassiker sowie eines der bekanntesten Werke der britischen Autorin bei Audible als Hörbuch runtergeladen.

Während seines Urlaubes in Ägypten lernt der berühmte belgische Detektiv Hercule Poirot auf einem Nilkreuzfahrtschiff ein jung verheiratetes Paar kennen. Die bildschöne Millionenerbin Linnet Ridgeway und ihr Ehemann Simon Doyle können ihre Hochzeitsreise auf der „Karnak“ aber nicht wirklich genießen. Linnets beste Freundin Jacqueline de Bellefort, die vorher mit dem mittellosen Doyle verlobt war und die beiden miteinander bekannt gemacht hatte, verfolgt sie rachedurstig überall hin und macht ihnen die Flitterwochen zur Hölle. Heute würde man das Stalking nennen. Linnets Ermordung bringt schließlich die Krimihandlung ins Rollen. Da es nicht bei der einen Toten bleibt, ist der Spürsinn des klugen wie auch eitlen Detektivs mit dem imposanten Moustache gefragt und er steht vor der intellektuellen Herausforderung, den Tathergang penibel zu rekonstruieren. Als Poirot die anderen Passagiere des Nildampfers befragt und nach möglichen Mord-Motiven durchleuchtet (kleiner Spoiler: Sie haben fast alle eins) muss er mit Hilfe seiner genialen Kombinationsgabe die perfekten Alibis zerpflücken und den Mörder trotz vieler falscher Fährten nur aufgrund von Indizien entlarven.

Es handelt sich um einen klassischen Whodunit, dessen Handlung sich auch typisch für Christie in einem isolierten Raum vor exotischer Kulisse abspielt. Der wendungsreiche Krimi-Plot lebt von seinen pointierten Dialogen und einem bissigen Blick auf die damalige bessere Gesellschaft. Die vielen überspitzt dargestellten Charaktere werden mit viel Liebe zum Detail ins Bild gesetzt und dank eines auktorialen Erzählers erfahren wir alles über ihre Beweg- und Hintergründe. Dem Charme dieses fintenreichen Rätselkrimis, bei dem auch die Wirtschaftskrise und der Börsencrash eine Rolle spielen, konnte ich mich nicht entziehen. Die Lösung ist überraschend und immer wieder faszinierend, wie auf den ersten Blick unscheinbare Details im Rückblick eine wichtige Bedeutung erlangen.

 

Tod auf dem Nil | Erschienen am 16.11.2018 im Der Hörverlag
ISBN: 978-3-8445-3279-1
Ungekürzte Lesung | Sprecher: Martin Maria Schwarz
Laufzeit: 9 Stunden 42 Minuten | 7,95 Euro
Weitere Angaben & Hörprobe
Originaltitel: Death on the Nile (Übersetzt aus dem Englischen von Pieke Biermann)
Die aktuelle Printausgabe erschien im Atlantik Verlag.

Wertung: 4,5 von 5
Genre: Krimi

 

Agatha Christie | Mord im Orient-Express ♬

An einem kalten Wintertag steigt der Privatdetektiv Hercule Poirot in Istanbul in einen Luxuszug, der ihn nach London bringen soll. Der Orientexpress ist für die Jahreszeit überraschend voll besetzt, nur durch seine Beziehung zu dem ebenfalls mitreisenden Eisenbahn-Direktor Monsieur Bouc bekommt er noch ein freies Abteil. Nach einer unruhigen Nacht bleibt der Zug in einer Schneewehe stecken und im Nachbarabteil wird der amerikanische Geschäftsmann Samuel Edward Ratchett durch 12 Messerstiche erstochen aufgefunden. Zur Unbeweglichkeit verdammt sitzen der Detektiv und die Mitreisenden fest und Monsieur Bouc bittet den Meisterdetektiv den Fall aufzuklären. Das stellt Poirot vor einige Herausforderungen, hatte doch der mysteriöse Mr. Ratchett ihn am Tag davor im Speisewagen von Morddrohungen berichtet und um Schutz gebeten. Der Täter kann nur einer der Passagiere sein und es stellt sich heraus, dass nicht alle (Ratchett eingeschlossen) die sind, für die sie sich ausgeben.

Ich habe zum ersten Mal die Geschwindigkeit des Hörbuchs etwas erhöht und dann bot der Krimiklassiker großes Unterhaltungspotential mit allem, wofür die Queen of Crime bewundert wird: Ein großes Figurenensemble unterschiedlicher Couleur, ein exotisches Setting, falsche Alibis, zahlreiche Verdächtige sowie die Suche nach dem Motiv. Durch den geschlossenen Raum erleben wir fast ein Kammerspiel mit einem Meisterdetektiv, dessen kleine, graue Zellen auf Hochtouren arbeiten. Dialoge, die nur so vor Schlagkraft und zynischem Wortwitz strotzen. Dazu sieht sich Poirot diesmal, dem ein tiefsitzendes Bedürfnis nach Halt und Ordnung innewohnt, mit Fragen der Moral und Ethik konfrontiert. Der Mordfall ist vertrackt, das ausgeklügelte Ende wirklich erstaunlich und hat nach all den Jahren nichts von seinem Charme verloren. Auch dieser Roman wurde von und mit Kenneth Branagh neu verfilmt.

 

Mord im Orientexpress | Erschienen am 12.05.2014 in Der Hörverlag
ISBN: 978-3-8445-1482-7
ungekürzte Lesung | Sprecher: Friedhelm Ptok
Laufzeit: 7 Stunden 28 Minuten | 6,95 Euro
Weitere Angaben & Hörprobe
Originaltitel: Murder on the Orient Express (aus dem Engischen übersetzt von Otto Bayer)
Die aktuelle Printausgabe erschien im Atlantik Verlag.

Wertung: 5 von 5
Genre: Krimi

 

Fotos und Rezensionen von Andy Ruhr.

Michael Connelly | Schwarzes Echo (Band 1)

Michael Connelly | Schwarzes Echo (Band 1)

Aufgrund ihrer Kriegs- und Polizeierfahrungen, insbesondere der oben erwähnten Schüsse, die den Tod eines Menschen zur Folge hatten, zeigt sich die Versuchsperson körperlicher Gewalt gegenüber als in hohem Maße desensibilisiert. Sie spricht von Gewalt oder auch Aspekten der Gewalt als normalem Teil ihres alltäglichen Lebens, ihres Lebens insgesamt. (Auszug S. 109)

Die Versuchsperson, die hier in einem psychologischem Memo charakterisiert wird, ist niemand anderes als Harry Bosch. Dem aktuellen Krimipublikum am ehesten vertraut durch die ab 2014 produzierte siebenstaffelige Fernsehserie mit Titus Welliver als Detective Hieronymus, genannt Harry, Bosch. Doch die Figur ist inzwischen schon fast dreißig Jahre alt. Damals, Ende Januar 1992, erschien beim Verlag „Little, Brown and Company“ das Debüt des Journalisten Michael Connelly. „The Black Echo“ wurde direkt ein Erfolg, gewann ein Jahr später den Edgar Award für das beste Erstlingswerk und begründete eine bis heute andauernde Erfolgsreihe.

Michael Connelly war bereits früh von der Kriminalliteratur fasziniert. Raymond Chandler war sein großes Vorbild und schon in jungen Jahren stellte sich bei ihm der Wunsch ein, Kriminalschriftsteller zu werden. Doch er machte sich, auch mit seiner Familie, über den richtigen Weg dorthin Gedanken: „…to get into the world of crime I needed to be a lawyer, a cop or a reporter“(1). Connelly machte schließlich einen Abschluss in Journalistik und begann 1980 als Polizeireporter in Florida, zunächst bei der kleinen Zeitung „Daytona Beach News Journal“, später beim „Fort Lauderdale News and Sun-Sentinel“. Er schrieb während dieser Zeit an zwei Private Eye-Romanen, die er aber selbst als nicht gut genug empfand, insbesondere die Figuren betreffend. Seine fortschreitende journalistische Tätigkeit gab ihm aber zunehmend tiefere Einblicke in die Welt des Verbrechens und der Polizeiarbeit. Eine Reportage über die Überlebenden eines Absturzes einer Passagiermaschine 1985 in Dallas brachte Connelly schließlich landesweite Reputation, die Nominierung für den Pulitzerpreis und ein Jobangebot der „Los Angeles Times“. Dort intensivierte er nochmal den Aufwand: „I did a lot of shoe leather. I talked to about 100 detectives a week.“(2) Sein Ziel war es vor allem, einen in sich stimmigen Charakter für seinen ersten Roman aufzubauen. Zwei Jahre schrieb er an „The Black Echo“ mit seinem Protagonisten Harry Bosch. Als Debütant hatte Connelly natürlich auch mit einigen Absagen zu kämpfen, bis sich schließlich James Lee Burkes Agent Phil Spitzer vom Manuskript überzeugt wurde und bei Little, Brown and Company platzieren konnte. „The Black Echo“ war damals ein erfolgreiches Debüt, wenn auch kein Megaseller. Doch es begründete eine der heute erfolgreichsten Krimiserien.

Aber nun auch was zum Inhalt: Detective Harry Bosch war sowas wie ein Superstar im LAPD, hatte spektakuläre Erfolge als Mordermittler, einer seiner Fälle wurde sogar für das Fernsehen adaptiert. Andererseits war Bosch schon immer ein einsamer und knurriger Held, dem die Meinungen der Kollegen wenig bedeuteten und der Dienstvorschriften immer großzügig auslegte. So war es nur eine Frage der Zeit, bis die Dienstaufsicht eine gute Gelegenheit ausnutzen würde. Nachdem eine Festnahme mit dem Tod des (zu recht) Tatverdächtigen endete, gab es Ermittlungen gegen Harry, denn der Getötete war unbewaffnet. Eine Zeugin behauptete, Harry habe gewusst, dass der Mann nicht nach einer Waffe, sondern nach seinem Toupet unter dem Kopfkissen greifen wollte. Doch die Zeugin hatte nicht den allerbesten Leumund, sodass Harry nicht degradiert wurde. Allerdings reichte es, um ihn aus dem Scheinwerferlicht der Mordkommission in Downtown L.A. in die weniger spektakuläre Hollywood Division zu versetzen. Doch der stellvertretende Leiter des Departments für innere Angelegenheiten, Chief Irvin Irving, wartet nur auf den nächsten Fehler von Harry Bosch.

Dieser macht erstmal wie gewohnt seinen Job. Diesmal wird er zu einem Leichenfund am Lake Hollywood gerufen. Ein toter Mann wurde in einer Röhre gefunden, in dem sich schon mal Obdachlose und Junkies aufhalten. Tatsächlich hatte der Mann noch eine Spritze im Arm. Ein klarer Fall also, auch Harrys neuer Partner Jerry Edgar will sich mit dem Fall nicht lange aufhalten. Und doch kommt Harry einiges merkwürdig vor: Es sieht so aus, als wäre der Mann in die Röhre gebracht worden, ein Finger ist seltsam gebrochen, der Einstich zum goldenen Schuss war der allererste seit langer Zeit – und außerdem kennt Bosch den Mann.

William, genannt Billy, Meadows war wie Harry Bosch ein Vietnamveteran. Genauer gesagt eine „Tunnelratte“, Männer, die in die unterirdischen Tunnelsysteme des Vietcong eindrangen, um in den dunklen, unheimlichen Gängen den Feind auszuschalten. Doch wehe, man geriet selbst dort unten in Feindeshand. „Schwarzes Echo“ nennen sie diese Gänge bis heute.

„Es gab keine Bezeichnung dafür, also haben wir uns eine ausgedacht. Es war die Dunkelheit, die feuchte Leere, die du gefühlt hast, wenn du allein da unten in diesen Tunneln warst. Du fühltest dich dort wie tot – tot und begraben in der Finsternis. Aber du warst am Leben. Und du hattest Angst. Dein eigener Atem hallte aus der Finsternis zurück, laut genug, dich zu verraten. Oder zumindest glaubtest du das. Ich weiß nicht. Es ist schwer zu erklären. Eben… das schwarze Echo.“ (Auszug S. 402-403)

Harry ist überzeugt, dass Meadows umgebracht wurde. In der Wohnung findet er einen Pfandschein. Im Pfandbüro angekommen, stellt Harry fest, dass in dieses eingebrochen wurde und ausgerechnet das verpfändete Stück, eine Jadearmband, entwendet wurde. Zu viel des Zufalls für Bosch. Er recherchiert, dass das Armband im Rahmen eines spektakulären Raubs vor einigen Monaten abhanden gekommen war, als über einen selbstgegrabenen Tunnel in den Schließfachraum der WestLand National Bank eingebrochen wurde – die Verbindung zu Billy Meadows. Harry sucht Kontakt zum FBI, das den Bankraub bearbeitet. Er blitzt zunächst ab, darf aber dann doch an der Seite der Agentin Eleanor Wish weiterermitteln.

„You get into a situation where plot is king and you really should know character is King“.(3) So beschreibt Michael Connelly selbst seinen Prozess auf dem Weg zu einem erfolgreichen Kriminalautor. Am Ende stand die Entwicklung seines Protagonisten Harry Bosch, der hier als einsamer Wolf des LAPD durch die Gegend streift. Harry ist ein Moralist, sein Credo „Jeder zählt oder niemand zählt“ lässt ihn jeden Mord unabhängig vom Status des Opfers betrachten – was im LAPD nicht unbedingt üblich ist. Damit eckt Harry natürlich auch immer wieder an, isoliert ihn unter den Kollegen. Seine großzügige Dehnung der Dienstvorschriften bringt ihn zudem immer wieder ins Visier der internen Ermittlungen. Seine Brillanz in der Polizeiarbeit nötigt jedoch auch seinen Gegnern Respekt ab. Auch privat ist Harry nicht unbedingt ein geselliger Typ, er ist als Kind zumeist in Heimen aufgewachsen, seine alleinerziehende Mutter arbeitete als Prostituierte und wurde ermordet, als er elf war. Später war Bosch dann bei der Army und ist Veteran des Vietnamkrieges, was ihn durchaus noch belastet. Schließlich hat er dann bei der Polizei angefangen. Als Leser spürt man sofort, diese Figur hat das gewisse Etwas, ein moralischer Charakter mit Ecken und Kanten und einer interessanten Vergangenheit. Neben diversen echten Personen aus seiner Zeit als Polizeireporter stand bei der Figur Harry Bosch natürlich – wir bewegen uns in L.A. – auch Philip Marlowe Pate. Spannend für alle diejenigen, die wie ich mehr Serienstaffeln als Bücher von Bosch gelesen haben, ist die Tatsache, dass Connelly schon zahlreiche Figuren des weiteren Bosch-Universums wie Eleanor Wish und Irvin Irving hier als einflussreiche Nebencharaktere anlegt.

Der Schauplatz Los Angeles ist selbstredend ein klassisches Setting amerikanischer Kriminalromane und wird von Connelly dennoch um weitere Facetten erweitert. Daneben entwirft der Autor einen spannenden und durchaus komplexen Plot um ungewöhnliche, skrupellose Bankräuber, alte Vietnam-Connections und Querelen und Querschüsse aus den eigenen Reihen des Polizei- und Behördenapparates. Hier zeigen sich die Qualitäten des Reporters Connelly, der es vermag, den Polizeialltag, die (oftmals schwierige) Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Ermittlungsbehörden, zwischen Polizei und Presse und interne Streitigkeiten innerhalb der Polizei authentisch und spannend darzustellen. Insgesamt ist „Schwarzes Echo“ ein herausragendes Debüt, eine Cop Novel, die von der Handlung vollkommen überzeugt und dennoch durch diese Hauptfigur Harry Bosch nochmal auf ein weiteres Level gehoben wird – ein echter Krimiklassiker.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Schwarzes Echo | Erstmals erschienen 1992
Die aktuelle Taschenbuchausgabe erschien am 02.06.2021 im Kampa Verlag
ISBN 978-3-311-15508-9
507 Seiten | 13,- €
Originaltitel: Black Echo (Übersetzung aus dem Englischen von Jörn Ingwersen)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Zitate (1),(2) und (3) sowie weitere Hintergrundinfos aus: „My first thriller: Michael Connelly“ auf crimereads.com

Weiterlesen: Besprechung zu „Schwarzes Echo“ auf Crimealleyblog

Chris Whitaker | Von hier bis zum Anfang

Chris Whitaker | Von hier bis zum Anfang

Sie marschierten durch den Wald wie eine Armee, angeführt von Polizisten, Taschenlampenlicht überall, der Ozean hinter den Bäumen war noch ein ganzes Stück entfernt, aber das Mädchen konnte nicht schwimmen. (Auszug Seite 7)

Cape Heaven, eine fiktive, kleine Küstenstadt in Kalifornien, wird überschattet von einem tragischen Unglück, welches vor 30 Jahren stattfand. Damals verschwand ein kleines Mädchen und das erste Kapitel blickt auf das vergangene, tragische Geschehen zurück, denn die kleine Sissy Radley konnte nur noch tot geborgen werden. Gleich die ersten Sätze schüren eine bedrückende Atmosphäre und der empathische und tiefgründige Erzählstil hat mich total mitgerissen. Die Suche nach dem vermissten Kind durch das ganze Dorf in Form einer menschlichen Kette darzustellen, ist sehr bildgewaltig.

30 Jahre später sind die Auswirkungen immer noch zu spüren. Star Radley hat nicht nur im Teenageralter ihre kleine Schwester verloren, des Weiteren hat es ihr den Boden unter den Füßen weggezogen, dass ihr damaliger Jugendfreund, der 15-jährige Vincent King als Täter für 30 Jahre hinter Gitter kam. Mittlerweile ist die schöne Star alleinerziehende Mutter von zwei Kindern und sucht Vergessen in Drogen und Alkohol. Zwischen ihren depressiven Phasen tritt sie gelegentlich als Sängerin in einer heruntergekommenen Kneipe auf, zieht stets die falschen Männer an, während es die Aufgabe ihrer Tochter Duchess ist, die dysfunktionale Familie zusammenzuhalten. Die Dreizehnjährige muss sich um sich selbst, ihre Mutter und um den kleinen Bruder Robin kümmern, wobei ihre aufopferungsvolle Fürsorge im Besonderen dem Fünfjährigen gilt.

Ein unzumutbarer Zustand und nur der gutmütige Chief Walker, Polizist des Ortes und Teil der damaligen Freundschaftsclique hat zwischendurch ein Auge auf die Familie und kümmert sich nach seinen Möglichkeiten. Er ist auch der einzige, der seinen ehemaligen Freund Vincent King regelmäßig im Gefängnis besucht und sich um ihn bemüht und hilft, als der jetzt nach 30 Jahren entlassen wird und nach Cape Heaven zurückkehrt.

Haftentlassung nach 30 Jahren
Die Haftentlassung Kings schürt zusätzliches Konfliktpotenzial und setzt sich überschlagene Ereignisse in Gang. Es kommt zu einigen Tötungsdelikten, aber es ist schwierig, die Geschehnisse in Worte zu fassen, ohne zu viel zu spoilern. Denn für mich waren es grade die vielen überraschenden Wendungen sowie die Verkettung der verschiedenen Kriminalfälle, die mich an die Seiten fesselten und einen Sog entwickelten, dem ich mich nicht entziehen konnte. Insbesondere das Leben der beiden Kinder wird komplett auf den Kopf gestellt und es geht nur noch rasant bergab. Die unverhofften Schicksalsschläge erschüttern nicht nur die Figuren, sondern gehen auch der sensiblen Leserin ans Herz.

Die Ereignisse in der Vergangenheit werden nach und nach enthüllt und mit den unterschiedlichen Biografien verwoben, so dass eine permanente Spannung und emotionale Wucht entsteht. Whitakers intensiver Schreibstil, die stimmungsvollen Naturbeschreibungen, wie er die unterschiedlichen Figuren der Kleinstadt mit ihren Brüchen zum Leben erweckt, das alles hat mich durchaus an Stephen King erinnert. Die tief ausgeleuchteten Charaktere sind ein großer Pluspunkt, sie wirken authentisch, man meint sie zu kennen und fiebert mit ihnen mit.

Outlaw und Prinz
Im Mittelpunkt steht die zornige, ständig rebellierende Duchess. Sie musste schon viel zu früh erwachsen werden und geht keinem Streit oder Prügelei aus dem Weg. Mit ihrem viel zu großen Cowboyhut hat sie sich einen harten Panzer zugelegt und begreift sich als Nachfahre der Outlaws, denn die zeigten keine Schwäche und fürchteten sich vor niemandem. Ihren kleinen ängstlichen Bruder sieht sie als Prinz, den es zu beschützen gilt. Ein weiterer wichtiger Protagonist ist der loyale Chief Walker, der verzweifelt versucht, die alten und neuen Ereignisse aufzuklären. Der übergewichtige Sheriff versucht die Ordnung in Cape Heaven aufrechtzuhalten und stellt sich immer in den Hintergrund. Seine Umwelt hält ihn für einen Alkoholiker, doch den krankheitsbedingten Grund für seine ständig zitternden Hände will er niemandem verraten, aus Angst, seinen Job zu verlieren. Dann Hal, der stoische, schroffe Großvater auf seiner Ranch in Montana, zudem Duchess nur vorsichtig Nähe aufbaut. Es tauchen noch viele weitere interessante Charaktere auf, die alle auf ihre Weise die Geschichte lebendig machen.

Das permanente Scheitern ist schwer zu ertragen und zum Schluss ist zwar kein Happy-End in Sicht, aber zumindest kann man ein kleines Licht am Ende des Tunnels sehen. „Von hier bis zum Anfang“ ist Kriminalroman, Western, bewegendes Familiendrama und eine beeindruckende Coming-of-Age-Geschichte mit einer großartigen Heldin. Großes Kino über Schuld und Vergebung und mein Highlight des Jahres!

Zuerst mal hatte mich das wunderschön gestaltete Cover angesprochen, dass auf eine Geschichte im ländlichen Amerika hinweist, und tatsächlich spielt die Handlung nicht nur in Kalifornien, sondern ein ganzer Erzählstrang auch in Montana.

Überraschenderweise ist Chris Whitaker Brite und lebt mit seiner Familie in Herfordshire, wählt als Setting für seine Romane aber gerne amerikanische Kleinstädte. Er war 10 Jahre in der Finanzbranche tätig, bevor er sich dem Schreiben zuwandte. Seine Romane gewannen zahlreiche Preise. „Von hier bis zum Anfang“ wurde vom Guardian zum Buch des Jahres gekürt.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Von hier bis zum Anfang | Erschienen am 01. Juli 2021 im Piper Verlag
ISBN 978-3-492-07129-1
448 Seiten | 22.- Euro
Originaltitel: We begin at the end (Übersetzung aus dem Englischen von Conny Lösch)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Doug Johnstone | Der Bruch

Doug Johnstone | Der Bruch

Seitdem ich Bücher nicht nur lese, sondern auch regelmäßig rezensiere (wenngleich auf Amateurniveau), hat sich bei mir die Betrachtungsweise eines Buches schon etwas verschoben. Man taucht teilweise nicht mehr so tief in die Geschichte ein, achtet mehr auf Logikfehler, auf sprachliche Schwächen, auf Klischees und Plattitüden, zieht schon während der Lektüre Vergleich zu ähnlichen Werken. Auch die Protagonisten dienen nicht mehr als Sympathieträger, sondern werden daran beurteilt, ob sie die Geschichte voranbringen und möglichst authentisch angelegt sind. Das heißt nicht, dass die Lektüre keinen Spaß mehr macht, aber man liest etwas „professioneller“. Umso schöner, wenn man dann doch einen Roman erwischt, der einen nicht nur von den äußeren Merkmalen her völlig überzeugt, sondern der einen auch emotional packt. Spontan fällt mir da aus den letzten Jahren Steve Hamiltons „Der Mann aus dem Safe“ ein, einen sensationellen Coming-Of-Age-Heist-Thriller. Und nun habe ich wieder so einen Roman gelesen, und der spielt im ach so pittoresken Edinburgh.

Die Fläche zwischen hier und da war eine einzige große illegale Mülldeponie, ein Wirrwarr von Gummirohren, feuchten Matratzen, ein paar Autotüren, einer zertrümmerten Windschutzscheibe, Bergen von Müllsäcken, prall gefüllt mit weiß Gott was, und zerbrochenen Zaunfragmenten, die irgendwann mal irgendwen von irgendwo hatten fernhalten wollen. Das alles sah er im Licht der Scheinwerfer des Baugeländes. Er sah kurz zum Wauchope House hinüber, dem Zwilling des Hochhauses, auf dem sie sich befanden. Er würde nie verstehen, warum diese beiden letzten Dinosaurier nicht mit dem Rest abgerissen worden waren. Warum sie nicht ganz einfach Niddrie, Craigmillar und Greendykes mit einer Flächenbombardierung überzogen hatten und fertig. (Auszug S.8-9)

Der 17jährige Tyler wohnt mit seiner Mutter und seiner kleinen achtjährigen Schwester Bean in einer Wohnung in einem heruntergekommenen Hochhaus im Problemstadtteil Niddrie. Seine Mutter Angela ist drogen- und alkoholabhängig, nicht mehr imstande, sich um ihre Familie zu kümmern. In der Wohnung nebenan leben Tyler ältere Halbgeschwister Barry und Kelly in einem inzestuösen Verhältnis. Tyler kümmert sich wie ein Erziehungsberechtigter um Bean und versucht ihr einen halbwegs ordentlichen Alltag zu bieten. Vor allem versucht er, sie vom aggressiven und kokainsüchtigen Barry fernzuhalten. Barry zwingt den eher kleingewachsenen Tyler, sich an den regelmäßigen Einbruchstouren zusammen mit ihm und Kelly zu beteiligen. Sie brechen in die Wohnhäuser der wohlhabenderen Gegenden Edinburghs ein und gerade Tyler ist prädestiniert, in gekippte Fenster oder ähnlich enge Durchlässe einzusteigen.

Eines Nachts brechen die drei wieder in großes freistehendes Haus ein und räumen gerade ihre Beute zusammen, als sie von der heimkommenden Besitzerin überrascht werden. Diese entdeckt Tyler auf der Treppe und wird im nächsten Augenblick von Barry brutal von hinten niedergestochen. Sie können fliehen, aber Tyler ist entsetzt von Barrys Brutalität und wählt heimlich den Notdienst. In Nachhinein wird das Ausmaß der Katastrophe erst sichtbar: Das Haus, in dem sie eingebrochen sind, gehört dem lokalen Gangsterboss Deke Holt und die schwer Verletzte ist dessen Ehefrau und Mutter eines Schulkameraden von Tyler. Deke Holt schwört bittere Rache, falls er die Schuldigen erfährt und lange kann dies nicht mehr dauern, denn Barry hat bereits einen Teil der Beute weitervertickt. Zudem hat die Polizei Tyler und seine Geschwister schon länger auf dem Kieker, kann ihnen aber noch nichts nachweisen. Sie übt Druck auf Tyler aus, seinen Bruder zu verraten, droht ihm damit, seine Schwester Bean aus der Familie zu holen. Tyler steht nun von mehreren Seiten unter Druck. Just in diesem Moment lernt er ein gleichaltriges Mädchen kennen. Flick ist eine Internatsschülerin aus reicherem Hause, doch sie ist auch eine Seelenverwandte mit anders gelagerten, aber auch problematischen Familienverhältnissen.

Er sagte nichts. Sie warf ihm immer wieder Seitenblicke zu, während sie den Kreisverkehr passierte und Richtung Osten fuhr.
„Tut mir leid“, sagte sie schließlich. „Das war unangebracht“.
„Schon okay.“
„Sag doch einfach, ich soll die Klappe halten.“
„Halt die Klappe.“
Sie lachte, und ihm gefiel, wie sich das anhörte. (Auszug S.70-71)

Die schottische Kriminalliteratur genießt unter Genrekennern einen exzellenten Ruf. Angefangen über den „Godfather“ William McIlvanny, über natürich Ian Rankin, Val McDermid, Denise Mina, Chris Brookmyre und zahlreiche andere Hochkaräter. Unter den schottischen Autoren ist Doug Johnston auch kein Unbekannter, ein paar seine Romane wurden auch ins Deutsche übersetzt (zuletzt „Wer einmal verschwindet“ in 2015). Dennoch hatte ich ihn bislang so gar nicht auf dem Schirm. Johnstone hat übrigens eine interessante Vita: Er promovierte in Kernphysik und arbeitete als Radar- und Raketeningenieur. Neben seiner Autorenkarriere ist er auch Journalist und spielt in einer Band aus lauter Krimiautoren („Fun Lovi Crime Writers“). Mit seinem neuesten Werk könnte er sich aber auch in Deutschland einen größeren Namen machen. „Der Bruch“ („Breakers“ im Original) erschien 2019 und war unter anderem auf der Shortlist des wichtigsten schottischen Krimipreises.

Doug Johnstone zeigt dem Leser in diesem Buch die Schattenseiten des schönen Edinburgh. Soziale Brennpunkte, heruntergekommene Wohnungen, dysfunktionale Familien, Armut, Drogen, Kriminalität. All dies kondensiert in Tylers Familie mit Barry als Tyrann, Kelly als dessen willfährige Partnerin und seiner Mutter als Wrack. Tyler alleine muss die ganze Last der Verantwortung schultern. Die Liebe zu seiner kleinen Schwester hält ihn aufrecht. Bei ihr holt er sich die kleinen Erlebnisse, die ihn über den weiteren Tag bringen. Und dennoch ist er oft nah an der Verzweiflung ob dieser Bürde. Johnstone schildert Tylers brutalen Alltag zwischen der Versorgung von Bean, den eigenen (wenigen) Schulstunden, dem Haushalt und der nächtlichen Streifzügen durch Edinburghs Villenviertel mit einer schonungslosen Realität. Dabei zeichnet er den Protagonisten Tyler mit einer tiefen Empathie, der sich der Leser nicht entziehen kann.

„Der Bruch“ ist vieles, ein sozialkritischer Roman, ein Krimi oder besser noch ein spannungsreicher Thriller oder auch ein düsterer Noir, wenngleich mit einigen Funken Hoffnung. Vor allem aber, so spricht es Autorenkollege Mark Billingham auf dem Cover an, „..es geht auch um etwas und spricht wirklich das „Warum“ des Verbrechens an“. Bloggerkollege Philipp Elph urteilte jüngst: „Bereits zu Beginn des Jahres einen Kriminalroman als ein Highlight des Jahres zu bezeichnen, ist eine gewagte Äußerung. Ich sage es trotzdem.“ Und ich mag ihm da nicht widersprechen. Doug Johnstone ist ein großartiger Roman gelungen. Einer dieser, die einen noch emotional richtig mitnehmen – mit authentischen Figuren, einem mitreißenden Plot und einem scharfen Blick für die sozialen Probleme seiner Heimatstadt. „Der Bruch“ ist ein wirklich großer Wurf.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Der Bruch | Erschienen am 15.01.2021 im Polar Verlag
ISBN 978-3-948392-20-8
312 Seiten | 20,- €
Originaltitel: Breakers (Übersetzt aus dem Englischen von Jürgen Bürger)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen I: Philipp Elphs Rezension von „Der Bruch“
Weiterlesen II: Doug Johnstone im Interview mit Hanspeter Eggenberger