Rumaan Alam | Inmitten der Nacht

Rumaan Alam | Inmitten der Nacht

Amanda und Clay haben über Airbnb ein luxuriöses Ferienhaus gemietet, um mit ihren beiden Teenager-Kindern Archie und Rose eine unbeschwerte Ferienwoche auf Long Island zu verbringen. Eine typisch weiße New Yorker Mittelschichtsfamilie, Amanda arbeitet im Marketing und Clay als Dozent an einem College. Die schicke Villa, die mit Swimmingpool, Jakuzzi und hochwertiger Ausstattung samt Klimaanlage keine Wünsche offenlässt, können sie sich nur leisten, weil sie ziemlich abgelegen am Rande eines Waldgebietes liegt. Keine Nachbarn in der Nähe und zum Einkaufen muss man einige Zeit fahren. Doch die Erholung währt nur kurz, denn mitten in der ersten Nacht, die Kinder sind schon im Bett, Amanda und Clay sitzen vor dem Fernseher, steht jemand draußen vor der Tür.

Und da war es wieder, unverkennbar: ein Geräusch. Husten, eine Stimme, Schritte, Zögern; jenes unbeschreibliche Tierwissen, dass sich ein Vertreter der eigenen Spezies in unmittelbarer Nähe befindet. Die drückende Stille, in der man sich fragt, ob er Böses im Schilde führt. Es klopfte an der Tür. (Auszug Seite 48)

Amandas erster Reflex ist der Griff zum Baseballschläger, doch als Clay ängstlich die Tür öffnet, steht vor ihm ein schwarzes Paar in den Sechzigern und bittet um Einlass. Der Finanzmakler George G.H. und seine Frau Ruth erklären sich als die Besitzer des Feriendomizils, die vor einem großflächigen Stromausfall aus Manhattan hierher geflohen sind. Die ganze Ostküste sei lahmgelegt, sie hätten es nicht mehr in ihre Wohnung in der Park Avenue geschafft und aufgrund der chaotischen Zustände in New York hier Zuflucht gesucht. Amanda und Clay sind verständlicherweise verunsichert, besonders Amanda sehr skeptisch, ob sie den beiden trauen können, denn der Strom läuft hier noch ordnungsgemäß. Die Aussagen lassen sich auch nicht überprüfen, denn der Handyempfang ist in dieser ländlichen Abgeschiedenheit generell schlecht, aber jetzt funktionieren weder TV, Internet noch Telefon. Sämtliche Verbindungen zur Außenwelt scheinen gekappt.

G.H. verstand es bestens, das Verhalten anderer Menschen vorherzusagen, doch das brauchte Zeit. Sie waren im Haus. Nur darauf kam es an. (Auszug Seite 57)

Aus dieser Ausgangssituation entwickelt sich ein immer bedrohlicher werdendes Szenario. Anhand des fesselnden Klappentextes erwartete ich eine Mischung aus Thriller und Psychospiel. Während der Lektüre ist man sich aber nicht mehr sicher, ob es sich um einen Psychothriller oder doch eher um eine Dystopie handelt. Das Unheil schleicht sich unaufhaltsam an und es verdichten sich die Hinweise darauf, dass sich eine Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes ereignet hat. Durch einen allwissenden Erzähler weiß die Leser*in immer ein wenig mehr als die Protagonist*innen. Dabei verstärkt es die latent bedrohliche Spannung, dass man immer nur versteckte kleine Andeutungen bekommt, die jedoch nie das explizite Ausmaß der Katastrophe enthüllen.

Auch die sechs Menschen, die in einer zufällig zusammengewürfelten Gemeinschaft auf kleinem Raum in dem abgelegenen Ferienhauses zusammengeschweißt sind, wissen nicht, was da draußen vorgeht und ob sie das vermeintlich sichere Refugium verlassen und in die Stadt zurückkehren sollen. Wie die beiden Familien fernab von jeder Informationsquelle versuchen mit der Situation umzugehen, wie sie sich in vermeintlich logischen Erklärungen versuchen, um sich selbst zu beruhigen und die Angst zu verdrängen, wie sie verzweifelt versuchen, die Normalität aufrechtzuerhalten und zwischen Tatkraft und Erstarrung wechseln, das ist beklemmend und allzu menschlich dargestellt. Auf sich selbst zurückgeworfen schwanken sie zwischen Verwirrung, Ablehnung und Angst vor Kontrollverlust. Die Geschichte lebt von der Dynamik zwischen der widerwilligen Schicksalsgemeinschaft und dass weder die Figuren noch wir erfahren, was außerhalb Long Islands passiert. Es mutet fast surrealistisch zu, wenn plötzlich Hunderte Rehe am Waldesrand oder Dutzende Flamingos am Pool auftauchen.

Auch sie würden bald verstummen wie vor einem plötzlichen Sommergewitter, denn die Insekten wussten Bescheid; sie klammerten sich mit aller Kraft an der gefurchten Baumrinde fest und warteten auf das, was da kommen würde. (Auszug Seite 164)

„Inmitten der Nacht“ ist eine anspruchsvolle Lektüre, die mich von der ersten Seite an gefesselt und über die etwas mehr als 300 Seiten nicht mehr losgelassen hat. Das lag zum einen an der Sprachgewalt des Autors. Rumaan Alam nimmt sich viel Zeit, seine Figuren genüsslich zu sezieren und ihre Charaktere ambivalent zu zeichnen. Sein Blick ist präzise, genau und glaubwürdig. Er beschreibt Durchschnittsmenschen mit Fehlern, Eigenarten und Lastern. Amanda schämt sich für den Gedanken, dass es nicht die Sorte Haus zu sein scheint, in dem Schwarze wohnen. Clay, der sich mit dem Auto nach Hilfe aufmacht, ist der Situation überhaupt nicht gewachsen und mag nicht mal zugeben, dass er sich verfahren hat. Aber auch Ruth und G.H. blicken mit einigen Vorbehalten auf den Lebensstil der Weißen herab und fühlen sich Ihnen intellektuell und gesellschaftlich überlegen. Dadurch besteht die ganze Zeit eine Unbehaglichkeit, auch weil nicht klar ist, wer Gast und wer Gastgeber ist. Dabei sind die teilweise irrationalen Verhaltensweisen für mich absolut nachvollziehbar.

Rumaan Alam hat einen dynamischen Erzählstil und verfügt über die Gabe, die Alltäglichkeiten des Zusammenlebens einer Familie dicht an die Leser*in heranzutragen, oft mit feinem Humor, ohne jemand lächerlich zu machen. Ob es die detaillierte Beschreibung der Ferienwohnung ist, oder die Einkäufe, die Amanda noch kurz vorher tätigt und deren Beschreibung sich über eine Seite zieht. Für mich kein Wort zu viel, eine unglaubliche Lesereise und ein wunderbares sowie verstörendes Vergnügen, dass sich schwer einem bestimmten Genre zuordnen lässt. Ein Psycho- oder Katastrophenthriller, Kammerspiel und Sozialsatire, in dem der Autor soziale Themen wie Klimawandel, Alltagsrassismus und Konsumgesellschaft ohne große Effekthascherei streift.

Der Roman stand auf der Shortlist des Booker Prize 2020 und befand sich übrigens auch auf Barack Obamas Liste der besten Bücher 2021, was seinen Humor beweist, wenn man an die Stellen über den ehemaligen Präsidenten im Buch denkt. Der Roman soll von Netflix mit Julia Roberts und Mahershala Ali in den Hauptrollen verfilmt werden.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Inmitten der Nacht | Erschienen am 18.10.2021 im btb Verlag
ISBN 978-3-4427-5928-6
320 Seiten | 22,- €
Originaltitel: Leave the World Behind (Übersetzt aus dem Englischen von Eva Bonné)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

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