Kategorie: historischer Krimi

Val McDermid | 1989 – Wahrheit oder Tod (Band 2)

Val McDermid | 1989 – Wahrheit oder Tod (Band 2)

Im zweiten Band um die Journalistin Allie Burns sind 10 Jahre vergangen, wir schreiben das Jahr 1989. Allie lebt mittlerweile in Manchester mit ihrer geliebten Partnerin Rona zusammen und ist leitende Redakteurin für den Sunday Globe. Beruflich hat sie sich weiterentwickelt und führt nun ein Team von Journalisten an. Ihr Arbeitgeber, der Medienmogul Wallace „Ace“ Lockhart ist allerdings an kritischem Investigativjournalismus nicht sonderlich interessiert und schiebt Allie in die Klatschspalte.

Mit ihrer Situation unzufrieden, stößt sie auf einen Skandal bei der Entwicklung eines AIDS-Medikamentes. Edinburgh gilt zu der Zeit als AIDS-Hauptstadt und viele HIV-Patienten sehen sich gezwungen, aus ihrer Heimat zu fliehen um überhaupt Behandlung zu erfahren. Allie bekommt Wind davon, dass obwohl bei den klinischen Studien aufgrund schädlicher Nebenwirkungen schon mehrere Teilnehmer gestorben sind, diese einfach von Edinburgh nach Ost-Berlin verlegt wurden. Allie nimmt sich Urlaub und will in Eigeninitiative die ethisch ziemlich verwerfliche Geschichte verfolgen. Durch ihren waghalsigen Alleingang, bei dem sie auch noch versucht, einem Wissenschaftler und seiner Freundin bei der Flucht aus Ost-Berlin in den Westen zu helfen, wird sie als Spionin verhaftet.

„Weißt du, was das Lustige daran ist? In der Einrichtung im Norden von Manchester gibt es fünfzehn Betten. Und mehr als die Hälfte davon ist mit euren Leuten belegt.“ Aufrichtig verwirrt fragte Allie: „Was meinst du mit ‚unseren Leuten‘?“ „Schotten. Ihr exportiert heutzutage nicht nur Whisky. Sondern auch Junkies.“ (Auszug Pos. 314)

In einem zweiten Handlungsstrang geht es um Ace Lockhart, ein hochdekorierter Kriegsveteran, ein Überlebender des Nazi-Regimes, welches sein polnisches Dorf ausgelöscht hat. Lockhart, offensichtlich angelehnt an den real existenten Robert Maxwell, steckt in finanziellen Schwierigkeiten, da er Pensionsfonds abgeschöpft hat. Hilfe erhofft er sich durch seine politischen und wirtschaftlichen Verwicklungen mit den sowjetischen Blockstaaten. Der Medienmogul beauftragt seine ehrgeizige Tochter Genevieve Lockhart, die alten Verbindungen im Osten Europas zu sichern. Sie soll sich bei idealistischen Dissidenten einschmeicheln und wird nach Berlin entsandt.

Im Gegensatz zum ersten Band um Allie konnte mich der Nachfolger nur bedingt begeistern. Er schwächelt an so vielen Stellen, als hätte McDermid ihn mit grober Nadel hastig gestrickt. 1989 war ein spannendes Jahr in der Geschichte mit vielen Wendepunkten, beispielsweise der Öffnung des Eisernen Vorhangs, der später zum Fall der Berliner Mauer mündete. Der historische Krimi ist dies leider über große Strecken nicht. Es ist die Hochzeit der AIDS-Epidemie ohne Aussicht auf Heilung. Am Anfang ist Ally auf der Trauerfeier für die Opfer des Lockerbie-Bombenanschlages. In einer amerikanischen Boeing war eine Bombe explodiert und über der schottischen Kleinstadt abgestürzt. Und es endet mit der größten Katastrophe in der Geschichte des Fußballs, als sich im Hillsborough Stadium in Sheffield ein schweres Zuschauerunglück mit vielen Toten und Verletzten abspielte. Anstatt sich hierauf zu konzentrieren, werden diese beiden Ereignisse lediglich kurz angerissen, nur um es auch noch unterzubringen. Dafür ist die Handlung rund um Ost-Berlin an vielen Stellen völlig überzogen und unglaubwürdig.

Außerdem bedient sich die schottische Autorin vieler Klischees. Als beispielsweise zwei Flüchtige Westberlin erreichen und kichernd auf alle Embleme des westlichen Kapitalismus deuten, überwältigt von den Farben und den leuchtend bunten Klamotten in den Schaufenstern, konnte ich nur mit den Augen rollen. Auch Allie, mit einem starken moralischen Kompass und großem Gerechtigkeitssinn ausgestattet, immer bereit für Außenseiter oder Schwächere in die Bresche zu springen und zu helfen, ist viel zu glatt und ohne Brüche gestaltet.

Alles in allem viel zu viele Themen, wie AIDS, Pharmamissbrauch, Schwulen- und Lesbenhass, aufhetzende Yellow-Press, Stasi, Nazis etc., die den Roman überfrachten. Allie hetzt hinter der großen Geschichte hinterher, während sie sich persönlich an den Katastrophen des Jahres sowohl abarbeitet als auch aufreibt. Der Krimianteil ist nur mäßig ausgebaut, der Schwerpunkt liegt auf den historischen Fakten. Trotzdem entfaltet er nicht die Magie wie „1979 – Jägerin und Gejagte“, bei dem ich den Zigarettenrauch förmlich riechen und das Geklapper der Schreibmaschinen hören konnte. Zusätzlich bietet der Roman einen Blick hinter die Kulissen der Medienlandschaft. Auf was man sich bei McDermid immer verlassen kann, ist eine gehörige Portion Gesellschaftskritik und authentische Zeitgeschichte.
Ich bin trotzdem auf 1999 gespannt und werde dem nächsten Band eine weitere Chance geben.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

1989 – Wahrheit und Tod | Erschienen am 3. Juli 2023 bei Knaur
ISBN 9-7834-2652-984-3
464 Seiten | 14,99 Euro
Als E-Book: ISBN 978-3-426-46660-5 | 9,99 Euro
Originaltitel: 1989 | Übersetzung aus dem Englischen von Dr. Kirsten Reimers
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Rezension zu Band 1 „1979“

Tom Hillenbrand | Die Erfindung des Lächelns

Tom Hillenbrand | Die Erfindung des Lächelns

1911 wurde das berühmteste Gemälde der Welt, die „Mona Lisa“ von Leonardo da Vinci, aus dem Pariser Louvre gestohlen. Es ist die Zeit der Belle Époque, die Blütezeit von Kunst und Kultur. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg dominiert in den Großstädten, besonders in Paris , das mondäne Leben der tonangebenden Pariser Bohème. Es findet auf den Boulevards, in den Cafés und Cabarets, in den Ateliers und Galerien, in den Konzertsälen und Salons statt.

Die Ermittlungen der Pariser Polizeipräfektur gingen ins Leere, der Diebstahl der Joconde blieb auch nach Aussetzung großer Summen als Belohnung mehr als zwei Jahre lang ungeklärt. Für die stolzen Franzosen, besonders für den Louvre, ein Riesenskandal. Der Museumsdirektor wurde entlassen, wochenlang beherrschte die Geschichte die Titelseiten der Zeitungen und das weltweit. Viele Bürger gingen in den Louvre, um sich die leere Stelle an der Wand anzusehen. Und erst danach, wurde aus da Vincis Ölgemälde „La Joconde“, dessen geheimnisvolles Lächeln und das Rätsel um die wahre Identität der Dargestellten bis dahin nur Kunstinteressierte betörte, das weltbekannte und meistbesuchte Kunstwerk.

Picasso in Nöten
Auch der spanische Künstler Pablo Picasso und sein Freund, der Schriftsteller Guillaume Apollinaire, gerieten unter Verdacht, da beide mit Géry Pieret, einem Kleinkriminellen, in Verbindung standen. Und tatsächlich hatte der aufstrebende Picasso sich von Pieret verschiedene Statuetten und Masken aus dem Louvre „besorgen“ lassen. Apollinaire wurde sogar verhaftet, musste aber aus Mangel an Beweisen wieder freigelassen werden.

„Es muss logischerweise die sein, die da Vinci seinerzeit mit nach Frankreich genommen hat, an den Hof von Francois I. Oder glaubst du etwa, er hätte die zweitklassige eingepackt?“ „Wieso denn nicht? Vielleicht brauchte er Geld für die Reise. Er hat die gute Lisa in Florenz meistbietend verkauft. Und die mit dem schiefen Lächeln hat er mitgenommen, weil ihr Franzosen den Unterschied eh nicht bemerkt.“ (Auszug Position 6483)

Neben dem jungen Picasso und Apollinaire, die schon einen großen Raum im Roman einnehmen, werden noch viele andere historische Persönlichkeiten vorgestellt. Das sind beispielsweise die Ausdruckstänzerin Isadora Duncan und ihr Guru, der Satanist Aleister Crowley. Oder die gewalttätigen Anarchisten der Bonnot-Bande, die mit schonungsloser Brutalität ganz Paris in Angst und Schrecken versetzten. Und wieder stand die Pariser Polizei stümperhaft da, kann den Revoluzzern, die nach den Raubüberfällen schnell mit Hilfe gestohlener Kraftwagen entkamen, nicht habhaft werden, da ihnen Automobile noch nicht zur Verfügung standen. Wir begleiten Commissaire Juhel Lenoir von der Sureté Générale bei seinen schwierigen Ermittlungen, der auch nach Einstellung der Suchaktion an der Sache dranblieb.

Satanische Séancen und Opiumräusche
Tom Hillenbrand, der sich als Schriftsteller in unterschiedlichen Genres bewegt, hat einen der größten Kunstraube der Geschichte und seine späte Aufdeckung als Rahmenhandlung genommen, hat historisch verbriefte Fakten und Fiktion miteinander verbunden und rausgekommen ist eine launige und sehr unterhaltsame Story. Es ist aber auch ein wilder Ritt, der die damalige Faszination für Okkultismus mit satanischen Séancen und Halluzinationen ausgelöst durch viel Opium porträtiert.

Ich hatte etwas Mühe in das Buch hineineinzufinden. Das lag an der Vielzahl der Akteure, aber auch an dem episodenhaften Schreibstil. In jedem Kapitel wechseln Schauplätze, Handlungsstränge und Personen und zahlreiche Themen, wie das Entstehen des Kubismus, das Leben der Pariser Künstlerszene sowie die politischen Umtriebe der Anarchisten werden ausführlich beschrieben. Der vielschichtig konstruierte und glänzend recherchierte Roman lässt seine Leser tief in das historische Paris eintauchen. Dass diese brodelnde, pulsierende Stadt voller Umbrüche und rasantem Fortschritt damals das Zentrum der modernen Welt darstellte, kann man intensiv zwischen den Zeilen spüren.

Ausführlich schreibt Hillenbrand von den Diskussionen der Künstler in den Cafés, auf privaten Festen, in der Oper und beim Ballett. Eine hohe Konzentration ist gefordert, aber für Kunst- und Geschichtsinteressierte bietet der Roman eine Fülle an Informationen. Das Finale ist dann wieder ein spektakulärer sowie spannender Showdown mit einer augenzwinkernden Theorie und die Leser können darüber grübeln, was wahr und was erfunden ist.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Die Erfindung des Lächelns | Erschienen am 07. September 2023 bei Kiepenheuer & Witsch
ISBN 978-3-462-00328-4
512 Seiten | 25,- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Weitere Rezensionen zu Romanen von Tom Hillenbrand auf Kaliber.17

Dennis Lehane | Sekunden der Gnade

Dennis Lehane | Sekunden der Gnade

Dennis Lehane ist ein vielbeschäftigter Mann. Gerade ist er extrem im Filmbusiness beschäftigt, als Drehbuchautor und Produzent. So sehr, dass er kaum noch zum „normalen“ Schreiben kommt. Er kokettierte sogar damit, dass „Small Mercies“ (Originaltitel) sein letzter Roman sein könnte. Das wäre natürlich ausgesprochen schade, zählt Lehane doch unbestritten zu den stärksten Genre-Autoren der letzten 30 Jahre, wenn man sich etwa seiner Kenzie/Gennaro-Reihe oder Stand Alones wie „Mystic River“ oder „Shutter Island“ erinnert. Dabei bleibt aber immer eine enge Verbundenheit zu seiner Heimat Boston, die sich auch in seinem neuesten Roman „Sekunden der Gnade“ widerspiegelt, seinem ersten seit knapp 6 Jahren.

Lehane springt in die Vergangenheit, genauer ins Jahr 1974. Seit den Bürgerrechtsgesetzen Ende der 1960er hat sich in Bezug auf die Rassentrennung in Schulen noch nicht wirklich viel getan, sodass nun die Aufhebung gerichtlich angeordnet wird. Zukünftig sollen schwarze Schüler mit Bussen in bisher „weiße“ Schulen gebracht werden und umgekehrt. In Boston waren dies die Foxbury High School mit afroamerikanischer Schülerschaft und die South Boston High School mit der großen weißen Schülerschaft aus einem irisch-geprägten Arbeiterstadtteil. Es gab große Proteste von Seiten der weißen Bevölkerung. Lehane geriet als Kind im Auto seines Vaters in eine solche aufgehitzte Demonstration, wie er im Vorwort schreibt.

Auch die 17jährige Jules Fennessy soll an diesem „Busing“ teilnehmen, sehr zum Missfallen ihrer Mutter Mary Pat, die an den Vorbereitungen der Demonstrationen teilnimmt. Eines Nachts kommt Jules nicht nach Hause. In der gleichen Nacht stirbt ein schwarzer Junge, Augustus Williamson, in einer Bahnstation in South Boston. Ein toter Schwarzer wegen eines Konflikts unter Dealern, wird schnell im Viertel behauptet. Doch die Polizei mit Bobby Coyne als Ermittler findet schnell heraus, dass Williamson lediglich am falschen Ort in South Boston das Auto verreckt ist und anschließend von einer Gruppe Jugendlicher auf den Bahnsteig gejagt wurde. Unter den Jugendlichen angeblich Jules Fennessy. Sie ist aber die einzige, die verschwunden bleibt, die anderen drei tauchen auf und geben sich gegenseitig Alibis. Mary Pat spürt, dass ihrer Tochter etwas passiert ist und wacht aus ihrer Lethargie auf, geht Klinkenputzen, fragt sich durch den ganzen Stadtteil – und bringt damit den lokalen Paten der irischen Mafia gegen sich auf, der aktuell auf weitere Aufmerksamkeit verzichten kann. Doch die Stimmung rund ums „Busing“ schaukelt sich immer auf und Mary Pat ist bereit, aufs Äußerste zu gehen, um zu erfahren, was mit ihrer Tochter passiert ist.

Sie trägt den Mülleimer ins Wohnzimmer und fegt die Bierdosen hinein. Leert die Aschenbecher auf dem Beistelltisch und dem Couchtisch und entdeckt noch einen auf dem Fernseher. Ihr blick fällt auf den Bildschirm und ihr Spiegelbild darin, und sie sieht ein Geschöpf, das sie beim besten Willen nicht mit dem Bild von sich in ihrem Kopf zusammenbringen kann, zu wenig Ähnlichkeit damit hat dieser verschwitzte Trampel in Tanktop und Shorts, mit verfilztem Haar und schlaffem Kinn, der da vor ihr steht. (Auszug E-Book Pos. 66)

Hauptfigur Mary Pat Fennessy ist eine alleinerziehende Mutter, Anfang Vierzig, geschieden. Ihren Erstgeborenen hat sie an eine Überdosis verloren. Ihre Tochter Jules ist 17, mit zunehmend eigenem Kopf. Sehr zum Missfallen ihrer Mutter bewegt sie sich im Dunstkreis des Dealers, der ihrem Bruder den Stoff besorgt hat. Mary Pat lebt seit ihrer Kindheit in South Boston, arbeitet im Lager einer Schuhfabrik, ist fest in der irischen Community verwurzelt und hinterfragt die herrschenden Hierarchien in der Gemeinschaft eigentlich nicht. Als sie allerdings auf eine Mauer des Schweigens stößt und ihr von oben gesagt wird, dass sie keinen Staub aufwirbeln soll, ihr gar Geld übergeben wird, verbunden mit einer unverhohlenen Drohung, die Füße nun endlich still zu halten, macht sie keinen Rückzieher. Mit Vehemenz, Willen, Unerschrockenheit und der Bereitschaft, sich auch die Hände schmutzig zu machen, bohrt sie weiter und trotzt allen Drohungen. Dabei hat sie in Bobby Coyne einen Verbündeten wider Willen. Zudem beginnt sie im Verlauf ihres Feldzugs den Rassismus ihrer Generation und ihrer Gemeinschaft immer mehr zu hinterfragen.

Im Vernehmungsraum B sitzt Ronald „Rum“ Collins auf der anderen Seite des Tischs, und sein Gesicht sieht aus als hätte es jemand zum Golftraining benutzt. […] Aber Vincent hat Bobby schon darauf hingewiesen, dass das Schlimmste unterhalb der Gürtellinie kommt. Rum riecht nach Pisse und auch etwas nach Scheiße, und seine Jeans klebt vor Blut an ihm. (Auszug E-Book Pos. 2417)

Dennis Lehane inszeniert diesen historischen Thriller als Feldzug einer Mutter gegen ein System aus Ignoranz und Gewalt. Der irische Pate sieht sich als Hüter über South Boston, doch niemand hinterfragt das System, das sich vordergründig gesellig und nachbarschaftlich gibt, doch sich hintenrum aus Kriminalität, Gewalt und Rassismus speist und das Viertel in Alkohol, Armut und prekärer Arbeit hält. Kritisieren kann man etwas, dass Lehane sich des „Busing“ nur als Rahmen bedient und die afroamerikanischen Stimmen hier nur am Rande vorkommen (Dann aber durchaus wohlbedacht, etwa bei der Beerdigung des Augustus Williamson). Auch dass Mary Pat es schafft, eine ganze Gang erfahrener irischer Gangster in Bedrängnis zu bringen, kratzt zumindest am Rande der Plausibilität. Doch das ist Klagen auf hohem Niveau, denn wie eigentlich fast immer bringt Lehane die wichtigsten Zutaten souverän zustande: Ein mitreißender, aufwühlender Plot, realistische Figuren, ein starkes Gefühl für Setting und Szenen sowie starke Dialoge. Das alles macht auch „Sekunden der Gnade“ zu einem richtig guten Roman, sodass uns Lesern nur die Hoffnung bleibt, dass der Autor noch nicht ganz ans visuelle Medium verloren ist.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Sekunden der Gnade | Erschienen am 23.08.2023 im Diogenes Verlag
ISBN 978-3-257-07258-7
400 Seiten | 26,- €
Als E-Book: ISBN 978-3-257-61398-8 | 22,99 €
Originaltitel: Small Mercies | Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Malte Krutzsch
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Weitere Rezensionen zu Romanen von Dennis Lehane auf Kaliber.17

James Kestrel | Fünf Winter

James Kestrel | Fünf Winter

„Ich glaube, er hatte Hilfe.“ „Warum?“ „Nur so ein Gefühl.“ „Haben Sie auch ein Gefühl, was dieses Bett betrifft?“ McGrady warf einen Blick auf das Feldbett. Jetzt wurde es von beiden Taschenlampen angestrahlt. Schmutzige Decken und alte Kleidungsstücke stapelten sich darauf. „Was ist damit?“ „Es blutet.“ (Auszug Seite 36)

Ende November 1941 in einer Bar in Honolulu. Detective Jo McGrady ist eigentlich schon im Feierabend, als ihn der Anruf seines Vorgesetzten ereilt. Auf der anderen Seite der Insel Oahu wurde in einem Geräteschuppen in der Nähe einer Rinderfarm ein Leichenfund gemeldet. Personal ist knapp, es ist der Tag vor Thanksgiving, und so soll der Militärveteran McGrady hinfahren. Er ist kein Einheimischer und gilt immer noch als Außenseiter im Honolulu Police Department. Er sieht seine Chance, sich nach 5 Jahren auf Haiwaii mit seinem ersten Mordfall die nötige Anerkennung zu verdienen und macht sich auf in die Berge Honolulus. Am Tatort in die Nähe der Kahana Bay findet er einen weißen, jungen Mann, der kopfüber an einem Fleischerhaken hängt und brutal ausgeweidet wurde. Erst auf den zweiten Blick findet McGrady eine zweite Leiche, eine junge japanisch-stämmige Frau, die ebenfalls auf grausamste Weise gefoltert wurde. Es stellt sich heraus, dass beide mit einem Grabendolch aus dem ersten Weltkrieg ermordet wurden. Der Fall wird zum Politikum, da es sich bei dem ermordeten Jungen um den Neffen des Oberbefehlshabers der Pazifikflotte, Admiral Kimmel handelt, während die Identität seiner mutmaßlichen Freundin, der getöteten Asiatin erst mal ungelöst bleibt.

Zur falschen Zeit am falschen Ort
Relativ schnell zeichnet sich die Spur eines Tatverdächtigen mit dem offensichtlich falschen Namen John Smith ab, die nach Hongkong führt. Während sein Vorgesetzter, Captain Beamer ihn an der kurzen Leine halten will, setzt Kimmel alles dran, den Detective in geheimer Mission an Smiths Fersen zu heften und inoffiziell ermitteln zu lassen. Trotz der unruhigen Zeiten, die Welt befindet sich im Krieg, gelingt es McGrady über Manila nach Hongkong zu fliegen. Allerdings scheint der übermächtige Killer ihm immer einen Schritt voraus zu sein. In der britischen Kronkolonie Kowloon angekommen gerät McGrady alsbald in eine Falle und wird unter einem Vorwand verhaftet. Während er in der Zelle schmort, erreicht der Weltkrieg die Pazifikregion. Am 07. Dezember 1941 überfallen die Japaner Pearl Harbour und die USA tritt in den zweiten Weltkrieg ein. Als die Japaner auch Hongkong einnehmen, wird McGrady mit anderen westlichen Gefangenen per Schiff nach Tokio deportiert, wo er als angeblicher Spion auf seine wahrscheinliche Hinrichtung wartet.

Überraschend wird er von dem stellvertretenden Außenminister Takahashi Kansei befreit. Der Diplomat, der heimlich gegen die Kriegspolitik Japans arbeitet, ist ebenfalls an der Aufklärung des Mordfalls interessiert und versteckt Jo McGrady in seinem Haus in der Nähe Tokios. Tatsächlich kümmern sich Kansei und seine Tochter Sachi bis zum Kriegsende um den Detective und riskieren dabei ihre Leben. Dieser darf das Haus nicht verlassen, nutzt die Zeit um Japanisch und viel über die japanische Kultur zu lernen und überlebt den Feuersturm, den die amerikanischen Bomber in der japanischen Hauptstadt entfesseln. Dabei verzehrt er sich die ganze Zeit nach seiner Freundin Molly, von der er sich nach seiner überstürzten Abreise aus Hawaii nicht verabschieden konnte.

Er würde herausfinden, dass sich zu dem Zeitpunkt, an dem er die Badewanne verließ und sich fragte, wann Sachi zurückkommen würde, in zweitausend Kilometern Entfernung die Bomber von den Startbahnen drängten …. Es waren so viele Maschinen, dass es dreieinhalb Stunden dauerte, bis alle in der Luft waren und Richtung Norden schwenkten …. Zusammengenommen waren sie mit gut anderthalb Millionen Kilo Napalm beladen. Auszug Seite 284

Erst nach der Kapitulation Japans gelingt ihm die Rückkehr in die Heimat und hier beginnt wieder die alte Jagd nach dem Killer, auch weil er sich an sein Versprechen gegenüber Takahashi gebunden fühlt. Auf Hawaii hat sich nach fünf Jahren vieles verändert, an der Aufklärung der Mordfälle zeigt auch keiner mehr Interesse.

Meine Meinung
Der rasante Einstieg hat mich sofort in den Bann gezogen. Aufgrund der bildhaften Erzählweise war ich gleich mitten in der Geschichte, saß mit den Matrosen an der Bar, schmeckte den Whiskey und spürte die tropische Hitze. Die Atmosphäre ist düster und beklemmend, der Erzählton hart und militärisch kühl, die Dialoge lakonisch und trocken. Ein klassischer Noir eben!

Spätestens in Hongkong ändert sich die Tonalität der Geschichte und wird zu einem historischen Roman, wobei das Kriegsgeschehen im Pazifik den geschichtlichen Hintergrund bildet. Viele zeithistorische Aspekte werden in den Roman eingewoben, es entsteht jedoch keine trockene Geschichtsstunde, sondern ein intensives Bild jener Zeit. Die Gräueltaten des Krieges werden ohne Beschönigung geschildert, jedoch erzählt James Kestrel sein großartiges Drama mit nüchternen Worten, sachlich kühl und ohne große Sentimentalitäten, passend zu seinem Protagonisten.

Jo McGrady ist der typisch hartgesottene Held, zynisch und desillusioniert. Kein Freund großer Worte, leidensfähig, schlau und absolut verbissen, die einmal aufgenommene Fährte wird auch nach fünf Jahren nicht losgelassen. Dabei auch zu großen Gefühlen fähig, denn der Roman ist auch eine bittersüße, nie kitschig werdende Liebesgeschichte. Selten habe ich einen Roman gelesen, auf dem die Beschreibung „episch“ besser gepasst hätte. James Kestrel schlägt einen wirklich großen Bogen in seinen mehrfach ausgezeichneten Roman, aber das ist durchgehend fesselnd, süffig zu lesen und beeindruckend mit exotischen Schauplätzen und einem unbeirrbaren Helden in Szene gesetzt. Hut ab vor diesem Mix aus Thriller, historischem Kriminalroman, Kriegsdrama und Romanze.

James Kestrel ist das Pseudonym des amerikanischen Autors und Anwalt Jonathan Moore, der mit seiner Familie auf Hawaii lebt. Und erfreut stellte ich fest, dass ich seinen Roman „Poison Artist“ auch noch auf dem SuB habe.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Fünf Winter | Erschienen am 12. März 2023 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-51847-317-7
499 Seiten | 22,- Euro
Originaltitel: Five Decembers | Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Stefan Lux
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Reingehört | Hörbücher-Kurzrezensionen ♬ November 2022

Reingehört | Hörbücher-Kurzrezensionen ♬ November 2022

Hörbuch-Kurzrezensionen Anfang November 2022

Alex Reeve | Der Mord in der Rose Street (Band 2) ♬

Der zweite Band der historischen Krimi-Reihe um Leo Stanhope führt wieder ins viktorianische London und spielt vor dem Hintergrund der Industrialisierung Englands. Im Hinterhof eines Anarchistenclubs, in dem sich Sozialisten und Revolutionäre treffen, wird die Leiche einer ermordeten Frau gefunden. Unser Protagonist rückt mal wieder ins Visier der Mordermittlung, da die nur notdürftig verscharrte Dora Hannigan einen Zettel mit seinem Namen und Adresse bei sich trägt. Am Tatort trifft Leo auf einen ehemaligen Bekannten, den jungen Adeligen John Thackery. Dieser lebt wie Stanhope unter falschem Namen und spielt eine führende Rolle in der sich grade formierenden Arbeiterbewegung, auch um gegen seinen tyrannischen Vater, einen reichen Fabrikanten, zu rebellieren. Da er Leos Geheimnis kennt, erpresst er ihn, um ein Alibi für die Tatzeit zu bekommen. Widerwillig spielt dieser mit, eine Entlarvung seiner Transidentität hätte lebensbedrohliche Konsequenzen für ihn. Leo beschließt sein unauffälliges Leben aufzugeben und Detektiv zu spielen, zumal die beiden kleinen Kinder des Opfers seinen Beschützerinstinkt wecken. Bei der Mördersuche steht ihm wieder die zupackende Pastetenbäckerin Rosie Flowers zur Seite.

Erneut wird aus der Ich-Perspektive von Stanhope erzählt und wir sind seiner Gefühlswelt sehr nah. Die Schilderungen über das Alltagsleben im 19. Jahrhundert und die Schwierigkeiten, die sich für ihn ergeben, falls sein biologisches Geschlecht entdeckt würde, werden nachvollziehbar beschrieben. Das geht leider zu Ungunsten des Kriminalfalles. Dieser ist abermals schön verworren und weiß mit falschen Fährten und Twists zu unterhalten, hatte in der Mitte schon mit einigen Längen zu kämpfen. Die Einblicke in die viktorianische Zeit hätten noch ausführlicher ausfallen können. Eine angenehme Krimilektüre, kurzweilig und gern gehört, kann jedoch für mich nicht ganz mit dem ersten Teil mithalten.

Die Sprecherin und Schauspielerin Viola Müller ist eine gute Wahl, wenn es darum geht, die inneren Dialoge unseres Protagonisten Leos darzustellen. Mit angenehmer Stimme nimmt sie die Hörer*innen mit auf diese Zeitreise nach London und versteht es die unterschiedlichen Charaktere mit Lebendigkeit auszufüllen.

 

Der Mord in der Rose Street | Das Hörbuch erschien am 02. Mai 2022 bei United Soft Media (USM Audio)
ISBN: 978-3-8032-9288-9
Ungekürzte Lesung | Sprecherin: Viola Müller
Laufzeit: 11 Stunden 16 Minuten | 13,99 Euro
Weitere Angaben & Hörprobe
Originaltitel: The Anarchist’s Club | Übersetzung aus dem Englischen von Christine Gaspard
Die aktuelle Printausgabe erschien bei Knaur TB

Wertung: 3,0 von 5
Genre: historischer Kriminalroman

 

 

Oliver Pötzsch | Das Buch des Totengräbers (Band 1) ♬

Der Auftaktband von Oliver Pötzsch historischer Krimireihe führt nach Wien ins Jahr 1893. Wir begleiten Leopold von Herzfeldt bei seinem Dienstantritt in der Wiener Polizeidirektion. Der jüdisch-stämmige Adelsmann war zuvor Untersuchungsrichter in Graz, spricht perfektes Hochdeutsch und ist modernen Ermittlungsmethoden sehr zugetan. Dadurch hat er es anfänglich bei seinen Kollegen nicht leicht, stößt auch mit seiner besserwisserischen Art den ein oder anderen vor den Kopf. Gleich am ersten Tag bekommt er es mit dem brutalen Mord an einer jungen Frau zu tun, die post mortem auch noch schändlich zugerichtet wurde. Weitere Frauen werden auf die gleiche Weise mit durchgeschnittener Kehle aufgefunden und es deutet alles auf eine Mordserie hin. Dabei wird der Tatortexperte Herzfeld erstmal aufs Abstellgleis geschoben. Er soll den Selbstmord von Bernhard Strauss, dem Halbbruder des berühmten Komponisten Johann Strauss untersuchen, dessen Leichnam von zwielichtigen Gestalten nachts nach der Beerdigung versucht wurde zu rauben. Nach Unterstützung suchend trifft Herzfeldt auf Augustin Rothmayer, den kauzigen, aber sehr belesenen Totengräber des Wiener Zentralfriedhofs, der sich aufgrund langjähriger praktischer Erfahrungen überraschend als fundierter Experte für Leichen und Todesursachen jeder Art herausstellt. Die Ergebnisse seiner vielen Studien verewigt er in seinem „Almanach für Totengräber“. Komplettiert wird die kleine Gruppe durch Julia Wolf, Telefonistin bei der Polizei, die im Wiener Nachtleben ein Doppelleben führt.

Hans Jürgen Stockerl hat den Historienkrimi mit viel Charme und Wiener Schmäh eingesprochen und dabei den ewig grantelnden Totengräber Rothmayer mit dem Herz am rechten Fleck oder dem ehrgeizigen, von allen misstrauisch beäugten Jungspund Herzfeldt ein Gesicht gegeben. Band 1 der Leopold-von-Herzfeldt-Reihe zeigt eine Gesellschaft in Aufbruchstimmung und die Anfänge moderner Kriminalistik mit Spurensicherung, Tatortfotografie und ein wenig Profiling. Trotz süffigem Erzählstil und überraschenden Wendungen fehlte mir mal was Neues, von dem ich noch nicht an anderer Stelle gelesen habe. Auch war es mir ein bisschen zu viel an inszenierten Gewalttaten wie die brutal gepfählten Opfer, Enthauptungen und lebendig Begrabenen. Viele zeithistorische Aspekte werden von Oliver Pötzsch, der mit seiner Henkerstochter-Serie weit über die Grenzen Deutschlands bekannt wurde, detailliert beschrieben und geben ein gutes Bild der auslaufenden Donaumonarchie. Das Ambiente der Kaiserstadt, die morbide Atmosphäre des Wiener Zentralfriedhofs, zu dieser Zeit der größte in Europa sowie die Darstellung des Wiener Gemüts werden auch aufgrund des hervorragenden Sprechers wunderbar eingefangen.

 

Das Buch des Totengräbers | Das Hörbuch erschien am 31. Mai 2021 bei Audible / Hörbuch Hamburg HHV GmbH
ASIN: B09446X1RQ
Ungekürzte Lesung | Sprecher: Hans Jürgen Stockerl
Laufzeit: 15 Stunden, 12 Minuten
Die gekürzte Audio-CD erschien am 27.05.22 für 10,95 Euro
Weitere Angaben & Hörprobe
Die Printausgabe erschien bei Ullstein Paperback

Wertung: 3,0 von 5
Genre: historischer Kriminalroman

 

 

Fotos und Rezensionen von Andy Ruhr