Kategorie: historischer Krimi

Karina Urbach | Das Haus am Gordon Place

Karina Urbach | Das Haus am Gordon Place

„Institutionen laufen immer Gefahr, in eine Art Gruppendenken zu verfallen. Der MI6 ist da keine Ausnahme. Wir brauchen Außenseiter, die anders denken, anders an diese ganze Sache herangehen, um den Fall zu lösen. Ich habe Ihnen auch nicht gesagt, dass ich ziemlich sicher bin, wer Gerald Fraser umgebracht hat. Aber ich kann es nicht beweisen. Und ich verstehe das Motiv dahinter nicht. Da ist eine große, gähnende Lücke. Und um sie zu füllen, brauche ich Sie.“ (Auszug Seite 188)

Nach einem anstrengenden Flug wird dem Historiker Professor Hunt die Einreise in die USA verweigert. Erst nach einer Nacht in der Flughafenarrestzelle erfährt er von Emma Spencer vom britischen Geheimdienst den Grund. In seiner Wohnung in London am Gordon Place wurde sein Nachbar Gerald Fraser erschlagen aufgefunden. Spencer bittet den Professor um Mithilfe bei der Aufklärung und Hunt kommt aufgrund seiner Recherchen und viel historischem Fingerspitzengefühl einer alten Geschichte auf die Spur, die mit Daphne Parson zusammenhängt, die nicht nur eine Legende in Spionagekreisen war, sondern auch Vorbesitzerin seiner Wohnung. Und nicht nur das. Drei weitere Bewohner der Luxusimmobilie waren kurz nach dem 2. Weltkrieg als Agenten des MI6 in Wien eingesetzt.

Wiener Abhörtunnel
In einer weiteren Perspektive wird immer wieder ins Wien der Besatzungszeit zurückgeblendet. Wien ist damals genau wie Berlin in vier Zonen eingeteilt, die Menschen hungern und verkaufen ihr letztes Hab und Gut, um zu überleben. Hier entsteht für die Leserin ein reales Bild der damaligen Lebensbedingungen in den Anfangszeiten des Kalten Krieges mit Schmuggel, Verbrechen und ehemaligen Nazis, die an- und abgeworben werden. Daphne Parson gehört zu einer Gruppe britischer Nachrichtenoffiziere, deren Aufgabe es ist, Informationen über die Gegenseite zu sammeln und in einem extra dafür gegrabenen Tunnel in Wien den sowjetischen Telefonverkehr abzuhören. Zutiefst schockiert erkennt Parson in einem dieser Telefonate die Stimme eines ehemaligen SS-Offiziers wieder, der sie Jahre zuvor in Griechenland gefoltert hatte. Die Möglichkeit zur Rache ergibt sich für Parson, als sie für eine verdeckte Operation eingesetzt wird. Ein früherer SS-Mann, der über den Verbleib geraubtes Nazi-Gold Bescheid weiß, soll aus seinem Versteck gelockt werden. Als der Einsatz scheitert, greift ein riskanter wie spektakulärer Plan.

Der dritte Mann
Um in den russischen Sektor Wiens zu gelangen, werden Agenten des britischen Geheimdienstes als Hilfskräfte zu den Dreharbeiten zum Film „Der dritte Mann“ eingeschleust. Die Verfilmung von Graham Greenes Roman spielt am Wiener Prater, der sich damals im sowjetischen Sektor befand, aber auch in den Abwasserkanälen des Wiener Untergrunds. Diese geheimnisvolle sowie gefährliche Operation bildet den Höhepunkt, die Verknüpfung mit dem 1949 entstandenen Filmklassiker Noir ist für mich das Highlight in diesem Agenten-Thriller. Die realen Umstände der Dreharbeiten spielen dabei eine besondere Rolle. Vor allen Dingen, wenn man weiß, dass alle wichtigen Mitarbeiter der Filmcrew, der Autor Greene, die Filmemacher Korda, Reed und Montagu dem britischen Geheimdienst nahe standen, so dass bis heute in weiten Teilen völlig unklar ist, was sich wirklich in den Abwasserkanälen zugetragen hat. Die Gerüchte, die aufwendigen Dreharbeiten dienten nur als Tarnung und wären nur ein perfides Ablenkungsmanöver für nachrichtdienstliche Arbeiten, verstummten nie.

„Orson Welles hat sich bisher geweigert runterzukommen, der hat einen Sauberkeitsfimmel und glaubt, sich hier was einzufangen. Das wird schwierig mit dem, der besteht auf einem Double….“ (Auszug Seite 266)

In einem interessanten Nachwort erfährt man, dass es den Wiener Abhörtunnel tatsächlich gab und dass viele der Akteure reale Vorbilder haben, allen voran Daphne Parson, die in Teilen auf der MI6-Agentin Daphne Park, später Baroness Park of Monmouth basiert. Park war eine Legende, im Geheimdienst bekannt für ihre Loyalität und Nervenstärke und einer der wenigen Frauen, die schon Ende der 1940er Jahre für den MI6 arbeiteten. Dabei wusste sie auch ihr harmloses Aussehen (Miss Marple-Look-alike) einzusetzen.

Fazit
Karina Urbach ist eine aus Düsseldorf stammende habilitierte Historikerin und das merkt man jeder Zeile ihres Krimis an. Faktenreich und sehr fundiert entfaltet sich auf zwei Erzählebenen eine fesselnde Geschichte. In einem Mix aus Krimi und historischem Agenten-Thriller verbindet die Autorin reale Geschehnisse und Fiktion recht unterhaltsam, ohne dass es nach dröger Geschichtsstunde anmutet. Wien im Jahr 1948 und die teure Londoner Wohngegend in der heutigen Zeit werden bildhaft dargestellt und die handelnden Figuren darin lebendig eingearbeitet.

Ich kannte die Autorin vorher nicht, aber als großer Fan von Spionage-Geschichten werde ich mir mal ihren 2018 mit mehreren Preisen ausgezeichneten Roman „Cambridge 5 – Zeit der Verräter“ noch unter ihrem Pseudonym Hannah Coler ansehen.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Das Haus am Gordon Place | Erschien am 20. März 2024 im Limes Verlag
ISBN 978-3-8090-2766-9
384 Seiten | 18,00 Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Tomasz Duszyński | Glatz

Tomasz Duszyński | Glatz

„Sie sind ein gescheiter Mann, Herr Klein. Sie wissen, was für Schrecken Krieg verbreitet. Und was hier geschieht, ist gewissermaßen der Beweis für den fortschreitenden Wahnsinn. […] Die Morde passieren zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt. Sie sind das Symptom einer Krankheit, die nicht nur unser kleines Glatz hier am Rande Deutschlands, sondern das ganze Reich zerfrisst.“ (Auszug S.165)

Frühjahr 1920: Die Kleinstadt Glatz in Niederschlesien, südlich von Breslau, war von den Kriegshandlungen des ersten Weltkriegs nicht betroffen, hat aber dennoch erheblich mit den Nachwirkungen zu kämpfen. Neben den Kriegsheimkehrern und den Auswirkungen des Versailler Vertrags gibt es zudem im Hintergrund noch tschechische Gebietsansprüche auf die alte Grafschaft Glatz. Da kommt es innerhalb kürzester Zeit zu zwei Morden. Zunächst wird der Major Peschke von einem Scharfschützen auf offener Straße erschossen, wenig später wird die verstümmelte Leiche des Stadtrats Dinter an der Brücktorbrücke aufgehängt aufgefunden.

Der Bürgermeister lässt alte Kontakte spielen und so kommt der Sohn seiner Cousine, der Militärermittler Wilhelm Klein, in die Stadt und nimmt mit zwei abgestellten Polizisten unabhängig die Ermittlungen auf – sehr zum Ärger der städtischen Polizei und der Militärgendarmerie. Klein ist ein geheimnisvoller Mann, von zahlreichen Narben entstellt. Er war offenbar Spion im Krieg und entkam aus französischer Gefangenschaft, man erzählt Geschichten, wie er sich bei seinen Folterern rächte. Klein verfügt über enorme ermittlerische Fähigkeiten, hat ein selbstbewusstes Auftreten und dennoch schleppt er ein Kriegstrauma mit sich herum, betäubt sich mit Opiaten. Als ein dritter Mord geschieht, wird klar, dass die Opfer nicht zufällig gewählt wurden. Doch die Botschaft der Täter ist unklar und sorgt für zusätzliche Unruhe in Glatz.

Tomasz Duszyński ist Journalist, Schriftsteller, Computerspielautor und Bibliothekar. Seine Familie stammt aus Kłosdzko, wie Glatz im Polnischen heißt. „Glatz“ erschien 2019 im polnischen Original, inzwischen sind vier Bände dieser historischen Krimireihe erschienen. Die Wahl auf Glatz als Schauplatz einer historischen Krimireihe ist durchaus reizvoll, Reihen, die in den 1920er Jahren in diversen deutschen Großstädten spielen, gibt es nun wahrlich genug. Tatsächlich lässt Duszyński die bürgerliche Kleinstadt an der Neiße, Verwaltungssitz der Grafschaft Glatz und Sitz alter böhmischer und preußischer Festungsbauten, sehr lebhaft vor des Lesers Augen auferstehen.

Der eigentliche Kriminalfall erscheint hingegen sehr verworren, wird erst ganz zum Schluss aufgerollt und erscheint im Nachgang etwas zu sehr daraufhin konstruiert, den thematischen Bogen hin zur fragilen Stimmungslage in der neuen Republik im Allgemeinen und im beschaulichen, aber angespannten Glatz im Besonderen zu schlagen. So werden immer neue Drahtzieher hinter den Morden vermutet und durch die Stadt getrieben: Juden, Freimaurer, Nazis. Das gibt natürlich einen Vorgeschmack auf kommende historische Entwicklungen, ist mir hier aber in der Verdichtung einen Tick zu konstruiert. Nichtsdestotrotz bleibt „Glatz“ aufgrund der komplexen Figuren, des kontiniuerlichen Spannungsbogens und vor allem durch das sehr gelungene Setting ein lesenswerter Roman, der seine eigene Nische unter den zahlreichen historischen Krimialromanen, die zu ähnlicher Zeit spielen, gefunden hat.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Glatz | Erschienen am 01.03.2024 im Jaron Verlag
ISBN 978-3-89773-891-1
336 Seiten | 18,- €
Originaltitel: Glatz | Übersetzung aus dem Polnischen von Markus Schnabel
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Christof Weigold | Der böse Vater (Band 4)

Christof Weigold | Der böse Vater (Band 4)

Nach langer Wartezeit und einem Wechsel zum Kampa-Verlag erschien endlich der vierte Band um den deutschstämmigen Privatdetektiv Hardy Engel in Los Angeles. Wir befinden uns im Jahr 1929 und unser Held sitzt seit mehreren Jahren unschuldig im Gefängnis. Völlig unerwartet kommt er auf Bewährung frei. Dafür sorgt der allmächtige Filmmogul und Verleger William R. Hearst unter dubiosen Umständen. Seine Freilassung ist an die Bedingung geknüpft, herauszufinden, wer den Tycoon erpresst.

Tod auf der Luxusyacht
Dabei geht es um einen mysteriösen Todesfall, der sich vor fünf Jahren auf Hearsts Luxusyacht Oneida ereignete. Der berühmte Filmpionier und Erfinder des Westerns Thomas Ince erkrankte während seiner Geburtstagsfeier schwer und verstarb kurz darauf vermeintlich an Herzversagen. Es geht um Schüsse, die angeblich gehört wurden und seitdem verstummen in Hollywood die Gerüchte nicht, Hearst sei nicht ganz unschuldig am Tod von Ince. Der unbekannte Erpresser soll im Besitz belastenden Materials sein, dass er dem Staatsanwalt zu übergeben droht. Hardy kann niemandem trauen, alle damals an Bord Anwesenden scheinen etwas zu verbergen, auch sein Auftraggeber verrät nicht die volle Wahrheit. Aber Hardy bleibt seinem Ruf treu, er will ohne Rücksicht die Wahrheit herausfinden und gerät bald zwischen die Machenschaften der großen Filmschaffenden.

„Wir müssen dringend sparen und ein Stummfilm wäre so dermaßen viel billiger!“ gab Uncle Carl zu bedenken. „Man sieht die Männer ja auch so fallen, ist das nicht ohne Ton viel unheimlicher?“ assistierte Bergerman. „Nein“, sagte ich und wechselte einen Blick mit Junior. „Die Schüsse, das Pfeifen und die Schreie, das ist der Krieg! Glauben Sie einem Veteranen!“ (Auszug Seite 429)

Einer davon ist der schwäbisch-stämmige Filmmogul Carl Laemmle, der seinem Sohn Julius „Junior“ Laemmle zum 21. Geburtstag die Universal Filmstudios übergibt. Junior will den Bestseller von Erich Maria Remarque „Im Westen nichts Neues“ gegen den Willen seines Vaters Carl Laemmle als Tonfilm herausbringen. Er überredet Kriegsveteran Hardy für dieses Projekt als Berater zur Verfügung zu stehen. Für Hardy, der immer noch unter seinen Kriegserlebnissen des 1. Weltkrieges leidet, kein einfaches Unterfangen. Und wäre das nicht genug Sorge, sucht er immer noch nach seiner Freundin Polly Brandeis, die schwanger nach einigen Besuchen im Knast spurlos verschwand.

Vom Stummfilm zum Tonfilm
Wie schon in den drei vergangenen Bänden der historischen Krimireihe schildert Christof Weigold das vielfältige Leben in Hollywoods goldenem Zeitalter. Die Traumfabrik hat sich in den fünf Jahren, die Engel einsaß, schon wieder stark verändert, es gibt viel mehr Stars, bereits Touristen und einen höheren Glamourfaktor. Weigold hat erneut hervorragend recherchiert, geschickt reale Fakten mit Fiktion verknüpft und fängt das Flair dieser Zeit wirklich gut ein. Die Filmindustrie befindet sich auf der Schwelle vom Stummfilm zum Tonfilm. Der Wandel bringt neue Stars hervor, bedeutet für manchen Stummfilmstar aber auch das Ende der Karriere. Unter anderem befürchtete die Schauspielerin Marion Davies, jahrelange Geliebte Hearsts aufgrund ihres Stotterns auf dem Abstellgleis zu landen.

Die Zeit um 1929 ist eine höchst instabile, die Prohibition ist noch aktuell, der Börsencrash steht unmittelbar bevor. Filmstudios stehen am Rand der Pleite, werden aufgekauft. Es geht um Macht, feindliche Übernahmen und das ganz große Geld, wobei Hearst einer der wirklich großen Player ist. Wir begegnen bekannten Schauspielerinnen und Schauspielern mit komplizierten Liebesleben. Es gibt ungewollte Schwangerschaften, heimliche Kinder, falsche Mütter und böse Väter. Wir begleiten Harry nicht nur zum Dreh von „Im Westen nichts Neues“, sind auch auf den aufregendsten Partys dieser Zeit dabei, wo er Größen wie der nackten Greta Garbo begegnet, treffen Charlie Chaplin im ältesten Restaurant Hollywoods „Musso & Frank‘s“ oder verfolgen die Intrigen der ersten Oscar-Verleihung, bevor es dann noch mal spannend auf einem Casinoschiff wird, auf dem sich die vergnügungs- uns spielsüchtigen Amerikaner treffen.

Meine Meinung
Ich bin wieder so gerne in diese alte Hollywood-Welt eingetaucht. Ich mag einfach den lässigen, humorvollen aber auch ausschweifenden Erzählstil Weigolds. Es ist amüsant, wenn Harry auf einer Kostümparty auf dem Hearst-Anwesen einem hübschen Jungen namens Jack Kennedy begegnet, der sich als US-Präsident Teddy Roosevelt verkleidet. Dramatisch wird es, wenn Engel mit der jüdischen Laemmle-Familie im Zeppelin in die alte Heimat fliegt und in Wilhelmshafen auf jubelnde Nazis stößt. Interessant, wenn sie in Berlin versuchen, den charismatischen Remarque zu überreden, die Hauptrolle zu übernehmen.

Ein großer Lesespaß auf über 600 Seiten besonders für Filmfans, mit einigen gewagten Handlungssprüngen. Ich bin gespannt auf den nächsten Band, es gibt ja noch einige unaufgeklärte sowie legendäre Skandalfälle.

Funfact: Orson Welles portraitierte 1941 in seinem legendären, von vielen Filmkritikern als bester Film aller Zeiten gewählten Klassiker „Citizen Kane“ die Beziehung zwischen William Randolph Hearst, dem Erfinder der Boulevard-Presse und seiner Geliebten Marion Davies.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Der böse Vater | Erschienen am 28. August 2023 im Kampa Verlag
ISBN 978-3-311-12068-1
624 Seiten | 28.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Andys Rezensionen zur Hardy Engel-Reihe von Christof Weigold

Val McDermid | 1989 – Wahrheit oder Tod (Band 2)

Val McDermid | 1989 – Wahrheit oder Tod (Band 2)

Im zweiten Band um die Journalistin Allie Burns sind 10 Jahre vergangen, wir schreiben das Jahr 1989. Allie lebt mittlerweile in Manchester mit ihrer geliebten Partnerin Rona zusammen und ist leitende Redakteurin für den Sunday Globe. Beruflich hat sie sich weiterentwickelt und führt nun ein Team von Journalisten an. Ihr Arbeitgeber, der Medienmogul Wallace „Ace“ Lockhart ist allerdings an kritischem Investigativjournalismus nicht sonderlich interessiert und schiebt Allie in die Klatschspalte.

Mit ihrer Situation unzufrieden, stößt sie auf einen Skandal bei der Entwicklung eines AIDS-Medikamentes. Edinburgh gilt zu der Zeit als AIDS-Hauptstadt und viele HIV-Patienten sehen sich gezwungen, aus ihrer Heimat zu fliehen um überhaupt Behandlung zu erfahren. Allie bekommt Wind davon, dass obwohl bei den klinischen Studien aufgrund schädlicher Nebenwirkungen schon mehrere Teilnehmer gestorben sind, diese einfach von Edinburgh nach Ost-Berlin verlegt wurden. Allie nimmt sich Urlaub und will in Eigeninitiative die ethisch ziemlich verwerfliche Geschichte verfolgen. Durch ihren waghalsigen Alleingang, bei dem sie auch noch versucht, einem Wissenschaftler und seiner Freundin bei der Flucht aus Ost-Berlin in den Westen zu helfen, wird sie als Spionin verhaftet.

„Weißt du, was das Lustige daran ist? In der Einrichtung im Norden von Manchester gibt es fünfzehn Betten. Und mehr als die Hälfte davon ist mit euren Leuten belegt.“ Aufrichtig verwirrt fragte Allie: „Was meinst du mit ‚unseren Leuten‘?“ „Schotten. Ihr exportiert heutzutage nicht nur Whisky. Sondern auch Junkies.“ (Auszug Pos. 314)

In einem zweiten Handlungsstrang geht es um Ace Lockhart, ein hochdekorierter Kriegsveteran, ein Überlebender des Nazi-Regimes, welches sein polnisches Dorf ausgelöscht hat. Lockhart, offensichtlich angelehnt an den real existenten Robert Maxwell, steckt in finanziellen Schwierigkeiten, da er Pensionsfonds abgeschöpft hat. Hilfe erhofft er sich durch seine politischen und wirtschaftlichen Verwicklungen mit den sowjetischen Blockstaaten. Der Medienmogul beauftragt seine ehrgeizige Tochter Genevieve Lockhart, die alten Verbindungen im Osten Europas zu sichern. Sie soll sich bei idealistischen Dissidenten einschmeicheln und wird nach Berlin entsandt.

Im Gegensatz zum ersten Band um Allie konnte mich der Nachfolger nur bedingt begeistern. Er schwächelt an so vielen Stellen, als hätte McDermid ihn mit grober Nadel hastig gestrickt. 1989 war ein spannendes Jahr in der Geschichte mit vielen Wendepunkten, beispielsweise der Öffnung des Eisernen Vorhangs, der später zum Fall der Berliner Mauer mündete. Der historische Krimi ist dies leider über große Strecken nicht. Es ist die Hochzeit der AIDS-Epidemie ohne Aussicht auf Heilung. Am Anfang ist Ally auf der Trauerfeier für die Opfer des Lockerbie-Bombenanschlages. In einer amerikanischen Boeing war eine Bombe explodiert und über der schottischen Kleinstadt abgestürzt. Und es endet mit der größten Katastrophe in der Geschichte des Fußballs, als sich im Hillsborough Stadium in Sheffield ein schweres Zuschauerunglück mit vielen Toten und Verletzten abspielte. Anstatt sich hierauf zu konzentrieren, werden diese beiden Ereignisse lediglich kurz angerissen, nur um es auch noch unterzubringen. Dafür ist die Handlung rund um Ost-Berlin an vielen Stellen völlig überzogen und unglaubwürdig.

Außerdem bedient sich die schottische Autorin vieler Klischees. Als beispielsweise zwei Flüchtige Westberlin erreichen und kichernd auf alle Embleme des westlichen Kapitalismus deuten, überwältigt von den Farben und den leuchtend bunten Klamotten in den Schaufenstern, konnte ich nur mit den Augen rollen. Auch Allie, mit einem starken moralischen Kompass und großem Gerechtigkeitssinn ausgestattet, immer bereit für Außenseiter oder Schwächere in die Bresche zu springen und zu helfen, ist viel zu glatt und ohne Brüche gestaltet.

Alles in allem viel zu viele Themen, wie AIDS, Pharmamissbrauch, Schwulen- und Lesbenhass, aufhetzende Yellow-Press, Stasi, Nazis etc., die den Roman überfrachten. Allie hetzt hinter der großen Geschichte hinterher, während sie sich persönlich an den Katastrophen des Jahres sowohl abarbeitet als auch aufreibt. Der Krimianteil ist nur mäßig ausgebaut, der Schwerpunkt liegt auf den historischen Fakten. Trotzdem entfaltet er nicht die Magie wie „1979 – Jägerin und Gejagte“, bei dem ich den Zigarettenrauch förmlich riechen und das Geklapper der Schreibmaschinen hören konnte. Zusätzlich bietet der Roman einen Blick hinter die Kulissen der Medienlandschaft. Auf was man sich bei McDermid immer verlassen kann, ist eine gehörige Portion Gesellschaftskritik und authentische Zeitgeschichte.
Ich bin trotzdem auf 1999 gespannt und werde dem nächsten Band eine weitere Chance geben.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

1989 – Wahrheit und Tod | Erschienen am 3. Juli 2023 bei Knaur
ISBN 9-7834-2652-984-3
464 Seiten | 14,99 Euro
Als E-Book: ISBN 978-3-426-46660-5 | 9,99 Euro
Originaltitel: 1989 | Übersetzung aus dem Englischen von Dr. Kirsten Reimers
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Rezension zu Band 1 „1979“

Tom Hillenbrand | Die Erfindung des Lächelns

Tom Hillenbrand | Die Erfindung des Lächelns

1911 wurde das berühmteste Gemälde der Welt, die „Mona Lisa“ von Leonardo da Vinci, aus dem Pariser Louvre gestohlen. Es ist die Zeit der Belle Époque, die Blütezeit von Kunst und Kultur. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg dominiert in den Großstädten, besonders in Paris , das mondäne Leben der tonangebenden Pariser Bohème. Es findet auf den Boulevards, in den Cafés und Cabarets, in den Ateliers und Galerien, in den Konzertsälen und Salons statt.

Die Ermittlungen der Pariser Polizeipräfektur gingen ins Leere, der Diebstahl der Joconde blieb auch nach Aussetzung großer Summen als Belohnung mehr als zwei Jahre lang ungeklärt. Für die stolzen Franzosen, besonders für den Louvre, ein Riesenskandal. Der Museumsdirektor wurde entlassen, wochenlang beherrschte die Geschichte die Titelseiten der Zeitungen und das weltweit. Viele Bürger gingen in den Louvre, um sich die leere Stelle an der Wand anzusehen. Und erst danach, wurde aus da Vincis Ölgemälde „La Joconde“, dessen geheimnisvolles Lächeln und das Rätsel um die wahre Identität der Dargestellten bis dahin nur Kunstinteressierte betörte, das weltbekannte und meistbesuchte Kunstwerk.

Picasso in Nöten
Auch der spanische Künstler Pablo Picasso und sein Freund, der Schriftsteller Guillaume Apollinaire, gerieten unter Verdacht, da beide mit Géry Pieret, einem Kleinkriminellen, in Verbindung standen. Und tatsächlich hatte der aufstrebende Picasso sich von Pieret verschiedene Statuetten und Masken aus dem Louvre „besorgen“ lassen. Apollinaire wurde sogar verhaftet, musste aber aus Mangel an Beweisen wieder freigelassen werden.

„Es muss logischerweise die sein, die da Vinci seinerzeit mit nach Frankreich genommen hat, an den Hof von Francois I. Oder glaubst du etwa, er hätte die zweitklassige eingepackt?“ „Wieso denn nicht? Vielleicht brauchte er Geld für die Reise. Er hat die gute Lisa in Florenz meistbietend verkauft. Und die mit dem schiefen Lächeln hat er mitgenommen, weil ihr Franzosen den Unterschied eh nicht bemerkt.“ (Auszug Position 6483)

Neben dem jungen Picasso und Apollinaire, die schon einen großen Raum im Roman einnehmen, werden noch viele andere historische Persönlichkeiten vorgestellt. Das sind beispielsweise die Ausdruckstänzerin Isadora Duncan und ihr Guru, der Satanist Aleister Crowley. Oder die gewalttätigen Anarchisten der Bonnot-Bande, die mit schonungsloser Brutalität ganz Paris in Angst und Schrecken versetzten. Und wieder stand die Pariser Polizei stümperhaft da, kann den Revoluzzern, die nach den Raubüberfällen schnell mit Hilfe gestohlener Kraftwagen entkamen, nicht habhaft werden, da ihnen Automobile noch nicht zur Verfügung standen. Wir begleiten Commissaire Juhel Lenoir von der Sureté Générale bei seinen schwierigen Ermittlungen, der auch nach Einstellung der Suchaktion an der Sache dranblieb.

Satanische Séancen und Opiumräusche
Tom Hillenbrand, der sich als Schriftsteller in unterschiedlichen Genres bewegt, hat einen der größten Kunstraube der Geschichte und seine späte Aufdeckung als Rahmenhandlung genommen, hat historisch verbriefte Fakten und Fiktion miteinander verbunden und rausgekommen ist eine launige und sehr unterhaltsame Story. Es ist aber auch ein wilder Ritt, der die damalige Faszination für Okkultismus mit satanischen Séancen und Halluzinationen ausgelöst durch viel Opium porträtiert.

Ich hatte etwas Mühe in das Buch hineineinzufinden. Das lag an der Vielzahl der Akteure, aber auch an dem episodenhaften Schreibstil. In jedem Kapitel wechseln Schauplätze, Handlungsstränge und Personen und zahlreiche Themen, wie das Entstehen des Kubismus, das Leben der Pariser Künstlerszene sowie die politischen Umtriebe der Anarchisten werden ausführlich beschrieben. Der vielschichtig konstruierte und glänzend recherchierte Roman lässt seine Leser tief in das historische Paris eintauchen. Dass diese brodelnde, pulsierende Stadt voller Umbrüche und rasantem Fortschritt damals das Zentrum der modernen Welt darstellte, kann man intensiv zwischen den Zeilen spüren.

Ausführlich schreibt Hillenbrand von den Diskussionen der Künstler in den Cafés, auf privaten Festen, in der Oper und beim Ballett. Eine hohe Konzentration ist gefordert, aber für Kunst- und Geschichtsinteressierte bietet der Roman eine Fülle an Informationen. Das Finale ist dann wieder ein spektakulärer sowie spannender Showdown mit einer augenzwinkernden Theorie und die Leser können darüber grübeln, was wahr und was erfunden ist.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Die Erfindung des Lächelns | Erschienen am 07. September 2023 bei Kiepenheuer & Witsch
ISBN 978-3-462-00328-4
512 Seiten | 25,- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

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