Kategorie: historischer Krimi

James Kestrel | Fünf Winter

James Kestrel | Fünf Winter

„Ich glaube, er hatte Hilfe.“ „Warum?“ „Nur so ein Gefühl.“ „Haben Sie auch ein Gefühl, was dieses Bett betrifft?“ McGrady warf einen Blick auf das Feldbett. Jetzt wurde es von beiden Taschenlampen angestrahlt. Schmutzige Decken und alte Kleidungsstücke stapelten sich darauf. „Was ist damit?“ „Es blutet.“ (Auszug Seite 36)

Ende November 1941 in einer Bar in Honolulu. Detective Jo McGrady ist eigentlich schon im Feierabend, als ihn der Anruf seines Vorgesetzten ereilt. Auf der anderen Seite der Insel Oahu wurde in einem Geräteschuppen in der Nähe einer Rinderfarm ein Leichenfund gemeldet. Personal ist knapp, es ist der Tag vor Thanksgiving, und so soll der Militärveteran McGrady hinfahren. Er ist kein Einheimischer und gilt immer noch als Außenseiter im Honolulu Police Department. Er sieht seine Chance, sich nach 5 Jahren auf Haiwaii mit seinem ersten Mordfall die nötige Anerkennung zu verdienen und macht sich auf in die Berge Honolulus. Am Tatort in die Nähe der Kahana Bay findet er einen weißen, jungen Mann, der kopfüber an einem Fleischerhaken hängt und brutal ausgeweidet wurde. Erst auf den zweiten Blick findet McGrady eine zweite Leiche, eine junge japanisch-stämmige Frau, die ebenfalls auf grausamste Weise gefoltert wurde. Es stellt sich heraus, dass beide mit einem Grabendolch aus dem ersten Weltkrieg ermordet wurden. Der Fall wird zum Politikum, da es sich bei dem ermordeten Jungen um den Neffen des Oberbefehlshabers der Pazifikflotte, Admiral Kimmel handelt, während die Identität seiner mutmaßlichen Freundin, der getöteten Asiatin erst mal ungelöst bleibt.

Zur falschen Zeit am falschen Ort
Relativ schnell zeichnet sich die Spur eines Tatverdächtigen mit dem offensichtlich falschen Namen John Smith ab, die nach Hongkong führt. Während sein Vorgesetzter, Captain Beamer ihn an der kurzen Leine halten will, setzt Kimmel alles dran, den Detective in geheimer Mission an Smiths Fersen zu heften und inoffiziell ermitteln zu lassen. Trotz der unruhigen Zeiten, die Welt befindet sich im Krieg, gelingt es McGrady über Manila nach Hongkong zu fliegen. Allerdings scheint der übermächtige Killer ihm immer einen Schritt voraus zu sein. In der britischen Kronkolonie Kowloon angekommen gerät McGrady alsbald in eine Falle und wird unter einem Vorwand verhaftet. Während er in der Zelle schmort, erreicht der Weltkrieg die Pazifikregion. Am 07. Dezember 1941 überfallen die Japaner Pearl Harbour und die USA tritt in den zweiten Weltkrieg ein. Als die Japaner auch Hongkong einnehmen, wird McGrady mit anderen westlichen Gefangenen per Schiff nach Tokio deportiert, wo er als angeblicher Spion auf seine wahrscheinliche Hinrichtung wartet.

Überraschend wird er von dem stellvertretenden Außenminister Takahashi Kansei befreit. Der Diplomat, der heimlich gegen die Kriegspolitik Japans arbeitet, ist ebenfalls an der Aufklärung des Mordfalls interessiert und versteckt Jo McGrady in seinem Haus in der Nähe Tokios. Tatsächlich kümmern sich Kansei und seine Tochter Sachi bis zum Kriegsende um den Detective und riskieren dabei ihre Leben. Dieser darf das Haus nicht verlassen, nutzt die Zeit um Japanisch und viel über die japanische Kultur zu lernen und überlebt den Feuersturm, den die amerikanischen Bomber in der japanischen Hauptstadt entfesseln. Dabei verzehrt er sich die ganze Zeit nach seiner Freundin Molly, von der er sich nach seiner überstürzten Abreise aus Hawaii nicht verabschieden konnte.

Er würde herausfinden, dass sich zu dem Zeitpunkt, an dem er die Badewanne verließ und sich fragte, wann Sachi zurückkommen würde, in zweitausend Kilometern Entfernung die Bomber von den Startbahnen drängten …. Es waren so viele Maschinen, dass es dreieinhalb Stunden dauerte, bis alle in der Luft waren und Richtung Norden schwenkten …. Zusammengenommen waren sie mit gut anderthalb Millionen Kilo Napalm beladen. Auszug Seite 284

Erst nach der Kapitulation Japans gelingt ihm die Rückkehr in die Heimat und hier beginnt wieder die alte Jagd nach dem Killer, auch weil er sich an sein Versprechen gegenüber Takahashi gebunden fühlt. Auf Hawaii hat sich nach fünf Jahren vieles verändert, an der Aufklärung der Mordfälle zeigt auch keiner mehr Interesse.

Meine Meinung
Der rasante Einstieg hat mich sofort in den Bann gezogen. Aufgrund der bildhaften Erzählweise war ich gleich mitten in der Geschichte, saß mit den Matrosen an der Bar, schmeckte den Whiskey und spürte die tropische Hitze. Die Atmosphäre ist düster und beklemmend, der Erzählton hart und militärisch kühl, die Dialoge lakonisch und trocken. Ein klassischer Noir eben!

Spätestens in Hongkong ändert sich die Tonalität der Geschichte und wird zu einem historischen Roman, wobei das Kriegsgeschehen im Pazifik den geschichtlichen Hintergrund bildet. Viele zeithistorische Aspekte werden in den Roman eingewoben, es entsteht jedoch keine trockene Geschichtsstunde, sondern ein intensives Bild jener Zeit. Die Gräueltaten des Krieges werden ohne Beschönigung geschildert, jedoch erzählt James Kestrel sein großartiges Drama mit nüchternen Worten, sachlich kühl und ohne große Sentimentalitäten, passend zu seinem Protagonisten.

Jo McGrady ist der typisch hartgesottene Held, zynisch und desillusioniert. Kein Freund großer Worte, leidensfähig, schlau und absolut verbissen, die einmal aufgenommene Fährte wird auch nach fünf Jahren nicht losgelassen. Dabei auch zu großen Gefühlen fähig, denn der Roman ist auch eine bittersüße, nie kitschig werdende Liebesgeschichte. Selten habe ich einen Roman gelesen, auf dem die Beschreibung „episch“ besser gepasst hätte. James Kestrel schlägt einen wirklich großen Bogen in seinen mehrfach ausgezeichneten Roman, aber das ist durchgehend fesselnd, süffig zu lesen und beeindruckend mit exotischen Schauplätzen und einem unbeirrbaren Helden in Szene gesetzt. Hut ab vor diesem Mix aus Thriller, historischem Kriminalroman, Kriegsdrama und Romanze.

James Kestrel ist das Pseudonym des amerikanischen Autors und Anwalt Jonathan Moore, der mit seiner Familie auf Hawaii lebt. Und erfreut stellte ich fest, dass ich seinen Roman „Poison Artist“ auch noch auf dem SuB habe.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Fünf Winter | Erschienen am 12. März 2023 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-51847-317-7
499 Seiten | 22,- Euro
Originaltitel: Five Decembers | Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Stefan Lux
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Reingehört | Hörbücher-Kurzrezensionen ♬ November 2022

Reingehört | Hörbücher-Kurzrezensionen ♬ November 2022

Hörbuch-Kurzrezensionen Anfang November 2022

Alex Reeve | Der Mord in der Rose Street (Band 2) ♬

Der zweite Band der historischen Krimi-Reihe um Leo Stanhope führt wieder ins viktorianische London und spielt vor dem Hintergrund der Industrialisierung Englands. Im Hinterhof eines Anarchistenclubs, in dem sich Sozialisten und Revolutionäre treffen, wird die Leiche einer ermordeten Frau gefunden. Unser Protagonist rückt mal wieder ins Visier der Mordermittlung, da die nur notdürftig verscharrte Dora Hannigan einen Zettel mit seinem Namen und Adresse bei sich trägt. Am Tatort trifft Leo auf einen ehemaligen Bekannten, den jungen Adeligen John Thackery. Dieser lebt wie Stanhope unter falschem Namen und spielt eine führende Rolle in der sich grade formierenden Arbeiterbewegung, auch um gegen seinen tyrannischen Vater, einen reichen Fabrikanten, zu rebellieren. Da er Leos Geheimnis kennt, erpresst er ihn, um ein Alibi für die Tatzeit zu bekommen. Widerwillig spielt dieser mit, eine Entlarvung seiner Transidentität hätte lebensbedrohliche Konsequenzen für ihn. Leo beschließt sein unauffälliges Leben aufzugeben und Detektiv zu spielen, zumal die beiden kleinen Kinder des Opfers seinen Beschützerinstinkt wecken. Bei der Mördersuche steht ihm wieder die zupackende Pastetenbäckerin Rosie Flowers zur Seite.

Erneut wird aus der Ich-Perspektive von Stanhope erzählt und wir sind seiner Gefühlswelt sehr nah. Die Schilderungen über das Alltagsleben im 19. Jahrhundert und die Schwierigkeiten, die sich für ihn ergeben, falls sein biologisches Geschlecht entdeckt würde, werden nachvollziehbar beschrieben. Das geht leider zu Ungunsten des Kriminalfalles. Dieser ist abermals schön verworren und weiß mit falschen Fährten und Twists zu unterhalten, hatte in der Mitte schon mit einigen Längen zu kämpfen. Die Einblicke in die viktorianische Zeit hätten noch ausführlicher ausfallen können. Eine angenehme Krimilektüre, kurzweilig und gern gehört, kann jedoch für mich nicht ganz mit dem ersten Teil mithalten.

Die Sprecherin und Schauspielerin Viola Müller ist eine gute Wahl, wenn es darum geht, die inneren Dialoge unseres Protagonisten Leos darzustellen. Mit angenehmer Stimme nimmt sie die Hörer*innen mit auf diese Zeitreise nach London und versteht es die unterschiedlichen Charaktere mit Lebendigkeit auszufüllen.

 

Der Mord in der Rose Street | Das Hörbuch erschien am 02. Mai 2022 bei United Soft Media (USM Audio)
ISBN: 978-3-8032-9288-9
Ungekürzte Lesung | Sprecherin: Viola Müller
Laufzeit: 11 Stunden 16 Minuten | 13,99 Euro
Weitere Angaben & Hörprobe
Originaltitel: The Anarchist’s Club | Übersetzung aus dem Englischen von Christine Gaspard
Die aktuelle Printausgabe erschien bei Knaur TB

Wertung: 3,0 von 5
Genre: historischer Kriminalroman

 

 

Oliver Pötzsch | Das Buch des Totengräbers (Band 1) ♬

Der Auftaktband von Oliver Pötzsch historischer Krimireihe führt nach Wien ins Jahr 1893. Wir begleiten Leopold von Herzfeldt bei seinem Dienstantritt in der Wiener Polizeidirektion. Der jüdisch-stämmige Adelsmann war zuvor Untersuchungsrichter in Graz, spricht perfektes Hochdeutsch und ist modernen Ermittlungsmethoden sehr zugetan. Dadurch hat er es anfänglich bei seinen Kollegen nicht leicht, stößt auch mit seiner besserwisserischen Art den ein oder anderen vor den Kopf. Gleich am ersten Tag bekommt er es mit dem brutalen Mord an einer jungen Frau zu tun, die post mortem auch noch schändlich zugerichtet wurde. Weitere Frauen werden auf die gleiche Weise mit durchgeschnittener Kehle aufgefunden und es deutet alles auf eine Mordserie hin. Dabei wird der Tatortexperte Herzfeld erstmal aufs Abstellgleis geschoben. Er soll den Selbstmord von Bernhard Strauss, dem Halbbruder des berühmten Komponisten Johann Strauss untersuchen, dessen Leichnam von zwielichtigen Gestalten nachts nach der Beerdigung versucht wurde zu rauben. Nach Unterstützung suchend trifft Herzfeldt auf Augustin Rothmayer, den kauzigen, aber sehr belesenen Totengräber des Wiener Zentralfriedhofs, der sich aufgrund langjähriger praktischer Erfahrungen überraschend als fundierter Experte für Leichen und Todesursachen jeder Art herausstellt. Die Ergebnisse seiner vielen Studien verewigt er in seinem „Almanach für Totengräber“. Komplettiert wird die kleine Gruppe durch Julia Wolf, Telefonistin bei der Polizei, die im Wiener Nachtleben ein Doppelleben führt.

Hans Jürgen Stockerl hat den Historienkrimi mit viel Charme und Wiener Schmäh eingesprochen und dabei den ewig grantelnden Totengräber Rothmayer mit dem Herz am rechten Fleck oder dem ehrgeizigen, von allen misstrauisch beäugten Jungspund Herzfeldt ein Gesicht gegeben. Band 1 der Leopold-von-Herzfeldt-Reihe zeigt eine Gesellschaft in Aufbruchstimmung und die Anfänge moderner Kriminalistik mit Spurensicherung, Tatortfotografie und ein wenig Profiling. Trotz süffigem Erzählstil und überraschenden Wendungen fehlte mir mal was Neues, von dem ich noch nicht an anderer Stelle gelesen habe. Auch war es mir ein bisschen zu viel an inszenierten Gewalttaten wie die brutal gepfählten Opfer, Enthauptungen und lebendig Begrabenen. Viele zeithistorische Aspekte werden von Oliver Pötzsch, der mit seiner Henkerstochter-Serie weit über die Grenzen Deutschlands bekannt wurde, detailliert beschrieben und geben ein gutes Bild der auslaufenden Donaumonarchie. Das Ambiente der Kaiserstadt, die morbide Atmosphäre des Wiener Zentralfriedhofs, zu dieser Zeit der größte in Europa sowie die Darstellung des Wiener Gemüts werden auch aufgrund des hervorragenden Sprechers wunderbar eingefangen.

 

Das Buch des Totengräbers | Das Hörbuch erschien am 31. Mai 2021 bei Audible / Hörbuch Hamburg HHV GmbH
ASIN: B09446X1RQ
Ungekürzte Lesung | Sprecher: Hans Jürgen Stockerl
Laufzeit: 15 Stunden, 12 Minuten
Die gekürzte Audio-CD erschien am 27.05.22 für 10,95 Euro
Weitere Angaben & Hörprobe
Die Printausgabe erschien bei Ullstein Paperback

Wertung: 3,0 von 5
Genre: historischer Kriminalroman

 

 

Fotos und Rezensionen von Andy Ruhr

Val McDermid | 1979 – Jägerin und Gejagte (Band 1)

Val McDermid | 1979 – Jägerin und Gejagte (Band 1)

Die junge Reporterin Allie Burns fängt 1979 frisch bei einer Glasgower Zeitung an. Sie ist ehrgeizig und voller Ambitionen, aber Ende der 70er Jahre haben es Frauen in der männerdominierten Journalistenszene noch schwer. Bei dem fiktiven Boulevardblatt Clarion regiert der „Boys Club“ und die wenigen weiblichen Angestellten sind für die eher leichten Frauenthemen, Familiendramen oder das undankbare Witwenschütteln zuständig.

„Die Kleine hat recht. Wenn wir es auf diese Weise angehen, wird jede Frau in Dundee Gänsehaut bekommen. Ich mag das. Seht ihr, ich hab’s euch doch gesagt, Jungs. Die weibliche Perspektive mit einzubeziehen hat seine Vorteile.“ (Auszug Pos. 1211)

Allie findet in ihrem jungen Kollegen Danny Sullivan einen Verbündeten. Dieser recherchiert in einem brisanten Fall von Steuerbetrug und Geldwäsche im großen Stil, in deren Machenschaften ausgerechnet sein eigener Bruder verwickelt zu sein scheint. Er bittet Allie um Unterstützung und sie hilft ihm nicht nur mit ihren brillanten Formulierungskünsten. Auf einer Scottish National Party kommt Allie dann zufällig einer potenziellen Separatistengruppe auf die Spur, die mit logistischer Hilfe der IRA Anschläge planen, um die Unabhängigkeit Schottlands von Großbritannien voranzutreiben. Als Danny sich als angeblicher Finanzier in die Gruppe einschleust, geraten die beiden aufstrebenden Journalisten in Lebensgefahr.

Allie und Danny bilden ein gutes investigatives Team und betreiben ihre Recherchen typisch für die damalige analoge Welt noch mit Telefonbüchern und Straßenkarten. Mit großem Engagement wollen sie politische und gesellschaftliche Missstände aufdecken und nach den ersten Erfolgen fühlen sie sich schon auf den Spuren der „Watergate«-Journalisten Carl Bernstein und Bob Woodward.

Nostalgische Zeitreise in die 1970er Jahre
1979 ist der erste Band einer 5-teiligen Reihe über die Journalistin Allie Burns, die über 5 Jahrzehnte geplant ist und die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen Schottlands aufzeigt. Da die schottische Autorin selbst in dieser Zeit einige Jahre als Reporterin bei einer Lokalzeitung in Glasgow tätig war, kann sie wunderbar ihre persönlichen Erfahrungen aus der Welt der Medien einbringen. Auch wenn tatsächlich noch ein Mord passiert, steht in dem historischen Kriminalroman die journalistische Arbeit im Vordergrund und hat im Krimiteil schon seine Schwächen. So hatte ich noch mit einem Plottwist zum Ende gerechnet, der dann ausblieb. Der Erzählstil ist betont langsam, die Geschichte plätschert auch so vor sich hin, aber es ist dem Können der Bestseller-Autorin zu verdanken, dass ich es sehr genossen habe. 1979 ist vielmehr eine Zeitreise in ein Schottland, das neben wochenlangen Minusgraden, Schneestürmen sowie Stromausfällen auch mit immensen wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen hat. Die gesellschaftspolitischen Ereignisse dieser Zeit werden gekonnt wiedergegeben. Dabei wird Glasgow als eine Stadt der Gegensätze skizziert, in der extreme Armut neben unverhältnismäßigen Reichtum und Schönes neben Hässlichem existiert.

Speckbrötchen und klappernde Schreibmaschinen
Das erzählt Val McDermid sehr kleinteilig mit viel Nostalgie, wenn es um die tägliche Arbeit in den verrauchten Büros der Redaktion mit klappernden Schreibmaschinen und vielen fetttriefenden Speckbrötchen geht. Aber auch Homophobie, Frauenfeindlichkeit und andere Formen von Sexismus werden lebensnah beschrieben. 1979 steht Homosexualität in Schottland noch unter Strafe. Das erschwert die Lebensumstände des nicht offen schwul lebenden Danny erheblich und er steht auch privat unter permanentem Druck. Retro-Flair entsteht auch durch die Musik, die aus den Radios plärrt (es gibt eine Playlist am Ende des Buches) und Literatur, denn Val McDermid streut immer wieder Referenzen an Glasgows Literaten ein, zum Beispiel William McIlvanney, dessen legendärer Roman „Laidlaw“ 1977 den modernen schottischen Krimi begründete.

Der fesselnde Roman war für mich eine Wohltat in unserer schnelllebigen Zeit, in der sich alles verändert und vieles beängstigend oder zumindest unübersichtlich erscheint und man sich gerne der bereits abgeschlossenen Vergangenheit zuwendet. Die Geschichte, von McDermid souverän mit trockenem Humor erzählt, hat mich glänzend unterhalten und ich bin sehr neugierig auf nachfolgende Titel der Reihe, um zu sehen, wie Allie Burns sich weiterentwickelt, ihren eigenen Stil findet und sich in der männerdominierten Journalistenszene durchsetzt.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

1979 – Jägerin und Gejagte | Erschienen am 01.06.2022 bei Knaur
ISBN 978-3-426-52882-2
432 Seiten | 12,99 €
Als E-Book: ISBN B09KX9TTMT | 9,99 €
Originaltitel: 1979 | Übersetzung aus dem Englischen von Dr. Kirsten Reimers
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Andys Rezension zu Val McDermids Roman „Das Grab im Moor

Rezensions-Doppel: Elizabeth Wetmore | Wir sind dieser Staub & Angie Kim | Miracle Creek

Rezensions-Doppel: Elizabeth Wetmore | Wir sind dieser Staub & Angie Kim | Miracle Creek

Die amerikanische Literaturszene ist ein schier unerschöpflicher Fundus für neue Autoren und Autorinnen. Gerade bei den Autorinnen gab es in letzter Zeit sehr viele neue Stimmen, die sich in den Zwischenräumen zwischen Kriminalliteratur und anderen Genres bewegen. Zwei davon sind Elizabeth Wetmore und Angie Kim. Elizabeth Wetmore ist eine der zahlreichen Spätberufenen. Sie hat in ihrem Leben schon vieles gemacht, eine Bar geschmissen, Englisch gelehrt, Taxi gefahren. Im Alter von 52 Jahren erfolgte dann mit „Valentine“ in begeistert aufgenommes Debüt als Autorin. Auch Angie Kim hat sich erst spät für eine schriftstellerische Karriere entschieden. Die geborene Südkoreanerin zog als Teenagerin in die USA und arbeitete als Anwältin. Ihr Romandebüt „Miracle Creek“ veröffentlichte sie auch erst mit 50 Jahren und gewann dafür 2020 den Edgar für den besten Debütroman. Zeit für eine Doppelrezension.

Elizabeth Wetmore | Wir sind dieser Staub

Odessa, im Westen von Texas Mitte der 1970er Jahre. Es dämmert bereits an diesem Valentins-Morgen, als die 14-jährige Gloria Ramírez schwer misshandelt aus einem Pick-up taumelt, in dem sie die ganze Nacht brutal vergewaltigt wurde. Während ihr Peiniger seinen Rausch ausschläft, flüchtet sie barfuß durch endlos staubige Weite, die Füße von Glasscherben und Kakteen, die Hände von Stacheldraht zerschnitten zur nächstgelegenen Ranch. Die Landschaft scheint nur aus rotem staubigem Wüstensand und Büffelgras zu bestehen. Präriehasen hoppeln zwischen ausrangierten Pipelines und Bohrtürmen umher und unter dem ständigen Auf und Ab der Ölpumpen haben sich Mokassinotter und Klapperschlangen zusammengerollt. Gloria erreicht die Veranda der Whitehead-Ranch und bittet die 26-jährige, mit dem zweiten Kind hochschwangere Mary Rose um Hilfe. Mittlerweile hat sich Dale Strickland in seinem Truck auf den Weg gemacht, um Gloria einzuholen. Während ihre kleine neunjährige Tochter Sheriff und Krankenwagen alarmiert, versucht Mary Rose den jungen Ölarbeiter mit dem Gewehr in Schach zu halten. Dabei befindet sie sich in einem inneren Konflikt und wünscht sich das übel zugerichtete Mädchen wäre auf einer anderen Farm gelandet.

Und da verstummt er, späht sekundenlang an mir vorbei zum Haus und verzieht den Mund zu einem breiten Grinsen. Ich frage mich, ob meine Tochter am Fenster steht, und neben ihr das fremde Mädchen mit den schwarzvioletten Augen und den aufgeplatzten Lippen. …. Wir rühren uns nicht, ich und mein möglicherweise geladenes Gewehr. (Auszug Seite 33)

Nach diesem atemberaubenden Anfangskapitel wird aus der Perspektive verschiedener Frauen, die auf die eine oder andere Weise in die Geschehnisse verwickelt sind, erzählt. Dabei liest sich jede Episode wie eine eigenständige Kurzgeschichte. Trotz ihrer mutigen Tat ist Mary Rose Whitehead danach ständigen Schikanen ausgesetzt. Sie wird bedroht und beschimpft, der Täter, Sohn eines Pfarrers wird verteidigt, das Opfer in den Schmutz gezogen und rassistisch sowie sexistisch beschimpft. Selbst ihr Ehemann Robert versteht nicht, dass sie wegen einer jungen Mexikanerin, die aus purer Langeweile zu einem Fremden ins Auto gestiegen ist, sich und das Leben ihrer Tochter in Gefahr gebracht hat. Trotzdem will Mary Rose unbedingt im späteren Prozess gegen Dale Strickland aussagen. Auf der entlegenen Farm fühlt sie sich nicht mehr sicher. Ihr Mann kümmert sich von früh bis spät fast allein um die Rinderzucht, nachdem die letzten Helfer abgehauen sind, um gegen bessere Bezahlung auf den Ölfeldern zu arbeiten und so zieht sie mit Tochter und Neugeborenem in die Stadt. Auch hier wagt sie es nicht, ihre Tochter auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen.

Neben Mary Rose und Gloria, die sich nach der traumatischen Erfahrung Glory nennt, erfahren wir von der Nachbarin Corrine, einer ehemaligen Lehrerin, die ihren Schmerz über den Tod des geliebten Mannes Potter in Alkohol ertränkt. Weiter von der 10-jährigen Debra Ann, dessen Mutter Ginny abgehauen ist und die sich fürsorglich um einen obdachlosen Vietnam-Veteranen kümmert. Mit viel Empathie aber wenig Nachsicht schaut Elizabeth Wetmore sehr genau auf ihre Frauenfiguren, die alle irgendwie desillusioniert und gebrochen sind, aber mit einem Rest an Würde gegen ausweglose Situationen kämpfen.

Warum hat Gott Texas das Öl geschenkt? Als Wiedergutmachung für alles, was Er dem Land angetan hat. (Auszug Seite 284)

In Odessa bietet die Arbeit auf den Ölfeldern den Männern eine Chance auf gutes Geld und ein besseres Leben. Trotz hoher Unfallrate erscheint diese Tätigkeit den meisten erstrebenswerter als das Leben der Farmer, deren Existenzen durch Dürre, Ungeziefer sowie fallende Rinderpreise bedroht sind. Für Frauen scheint das Land der Ölbarone nicht besonders geeignet. Das zeigt Wetmore auf besondere Weise, indem sie die weibliche Perspektive in diesem männlichen, rauen Setting in den Vordergrund rückt. Sie müssen sich unterordnen, harren unglücklich im tristen Alltag aus, und versuchen, mit wenig Aussicht auf Veränderung irgendwie zu überleben. Die wenigsten sehen eine Perspektive. Noch tiefer als die Frauen stehen nur die illegal eingewanderten Mexikaner. Dennoch ist der Roman nicht komplett deprimierend, der Autorin gelingt es immer wieder auch Szenen der Hoffnung und der Menschlichkeit zu zeigen. Elizabeth Wetmore ist in den 70ern im westlichen Texas in genauso einem Kaff aufgewachsen, inmitten einer trostlosen Landschaft geprägt von Förderanlangen für Erdöl und Erdgas, bis ihr mit 18 Jahren der Absprung gelang. Trotzdem spürt man ihre Liebe zu dieser unwirtlich scheinenden texanischen Natur, denkt man nur an die kleinen, sehr sarkastischen Witze zwischendurch.

Fernab von allen Genreschubladen, denn Elizabeth Wetmores großartiges Debüt ist vielmehr als ein Spannungsroman, zeichnet sie das Bild vom Aufbrechen verkrusteter Strukturen im ländlichen Amerika der 70er Jahre. Dabei ist ihr Schreibstil derart bildgewaltig, man spürt die Hitze und den Staub fast körperlich, man kann die nach Öl stinkende Luft praktisch riechen, die unendliche Weite vor sich sehen und die Langeweile in der Ödnis nachempfinden. Mit großer Ausdruckskraft und rauer, jedoch auch poetischer Sprache schildert sie eine Machogesellschaft, in der Sexismus und Rassismus dominieren. In einem fein austarierten Plot erzählt sie von Ungerechtigkeiten, dem hilflosen Ausgeliefertsein aber auch von einer neuen Generation von Frauen, die sich nicht mehr alles gefallen lassen und erstmalig gegen die Macht des Patriarchats aufbegehren.

Angie Kim | Miracle Creek

In einer Kleinstadt in Virginia beginnt vor dem örtlichen Gericht ein Mordverfahren. Angeklagt ist Elisabeth Ward wegen Mordes an ihrem Sohn Henry und einer Bekannten Kitt Kozlowski. Die Todesumstände waren äußerst ungewöhnlich: Elisabeth und Henry sowie Kitt und ihr Sohn TJ (beide Söhne sind autistisch) besuchten mit weiteren Personen einen ungewöhnlichen Therapieort. Das „Miracle Submarine“ ist eine U-Boot-ähnliche Druckkammer, in der die hyperbare Sauerstofftherapie, die Darreichung 100%igen Sauerstoffs, durchgeführt wird. Betrieben wurde das „Miracle Submarine“ von der Familie Yoo, koreanische Einwanderer, in einer Scheune am Waldrand. Ein Risiko bei dieser Therapie ist jedoch das erhöhte Brand- und Explosionsrisiko aufgrund des reinen Sauerstoffs. Tatsächlich kam es eines Abends zu einer Brandentwicklung nahe der Sauerstoffschläuche, die dann auf die Druckkammer übersprang. Henry und Kitt starben, der Betreiber Pak Yoo konnte die weiteren Insassen der Druckkammer befreien. Er selbst, seine Tochter Mary und der Patient Matt Thompson erlitten dabei noch schwere Verletzungen. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit war Elisabeth nicht mit in der Kammer, sondern außerhalb der Scheune. Aufgrund mehrerer Indizien glaubt die Staatsanwaltschaft, Elisabeth habe die Tat begangen. Motiv: Sie wollte sich endlich der Last ihres autistischen Sohnes befreien.

Die Autorin Angie Kim erzählt die Geschichte abwechselnd aus der Perspektive der beteiligten Personen. Durch diese Perspektivwechsel und auch durch den Fortgang der Gerichtsverhandlung, in der Elisabeths Anwältin einiges unternimmt, um den Verdacht von ihrer Mandantin hin auf andere zu ziehen, entstehen von Beginn an beim Leser Zweifel an der Version der Staatsanwaltschaft. Allerdings erzählen hier sehr viele Personen nicht die Wahrheit oder verschweigen wichtige Dinge, um sich nicht selbst in Misskredit und zumindest in ein schlechtes Licht zu rücken. So wird schnell enthüllt, dass Pak Yoo die Aufsicht im Moment der Katastrophe seiner Frau übertragen hatte. Und was für ein merkwürdiges Verhältnis hatten Matt und Paks minderjährige Tochter Mary? Und wer hatte sich eine Woche vor dem Unglück nach der Brandschutzversicherung erkundigt? Zahlreiche Fragen tauchen auf, die Figuren umspinnt ein immenses Lügennetz, das sich nur langsam entflechtet.

Sie brauchte Antworten. Sie löste die Bremsen, setzte zurück, vom Baum weg, und fuhr zurück zur Straße. Nach links ging es zum Gericht, sie könnte noch vor dem Ende der Mittagspause wieder dort sein, an der Seite ihres Mannes. Aber da würde sie keine Antworten bekommen. Nur noch mehr Lügen, die weitere Fragen aufwarfen. […] Sie fuhr nach rechts. Sie musste nach Antworten suchen. Allein. (Auszug S.256-257)

Ähnlich wie Elisabeth Witmore kann man Angie Kims Roman auch nicht so ganz einem Genre zuordnen. Viele Szenen spielen vor Gericht und doch ist es kein klassischer Justizthriller. Der Roman dringt noch deutlich tiefer in die persönlichen Verhältnisse der Figuren ein, er erzählt von Mutterliebe, Zweifel und Verzweiflung angesichts eines eigenen autistischen Kindes, von Identität und patriarchalem Stolz koreanischer Einwandererfamilien, von Missgunst, Untreue und krankhaftem Kinderwunsch. Alle Figuren sind dabei verbunden in mangelnder Kommunikation, Verschweigen, Vertuschung bis hin zur offenen Lüge.

Insgesamt gelingt Angie Kim ein überzeugender psychologischer Spannungsroman, dem es über die gesamte Zeit gelingt, durch neue Enthüllungen und Wendungen die Spannung und Aufmerksamkeit hochzuhalten. Dabei überzeugt vor allem die Struktur und der Aufbau des Romans und der sehr intime Blick auf die Figuren.

 

Foto und Rezensionen von Andy Ruhr (Wir sind dieser Staub) und Gunnar Wolters (Miracle Creek).

Wir sind dieser Staub | Erschienen am 30.09.2021 im Eichborn Verlag
ISBN 978-3 84790-092-4
320 Seiten | 22,- €
Originaltitel: Valentine | Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Eva Bonné
Bibliografische Angaben & Leseprobe
Wertung: 5 von 5
historischer Kriminalroman | Western

Miracle Creek | Erscheinen am 09.03.2020 bei Hanserblau
ISBN: 978-3-906-90315-6
520 Seiten | 24,- €
Originaltitel: Miracle Creek | Übersetzung aus dem Englischen von Mareike Heimburger
Bibliografische Angaben & Leseprobe
Wertung: 4,0 von 5
Spannungsroman

Britta Habekost | Stadt der Mörder

Britta Habekost | Stadt der Mörder

Er schwamm hinter ihr wie ein Hai in blutigem Kielwasser. (Auszug Seite 9)

Wie man am Titel schon unschwer erkennen kann, zeigt Britta Habekost in ihrem historischen Kriminalroman Paris mal nicht als die Stadt der Liebe. Der Fokus liegt nicht auf verliebten Pärchen an der Seine, romantischen Blumenverkäufern und auch nicht auf Akkordeonspielern auf den Boulevards. Stattdessen ist die Handlung in den dunklen und schmuddeligen Ecken Paris angesiedelt. Einer Großstadt, die immer noch unter dem Einfluss des vor kurzem beendeten 1. Weltkriegs steht und in der die Zukunftsaussichten der meisten Pariser nicht besonders rosig sind. Bereits der Prolog führt uns auf die Fährte eines Serienmörders, der unter dem Einfluss von Drogen und hochprozentigem Alkohol sein nächstes Opfer verfolgt und dabei einen Einblick in seine kranke Gefühls- und Gedankenwelt gibt.

Er hatte einen grässlichen Nachgeschmack von Absinth in seinem Mund, und in seinen Adern breiteten sich die Wohltaten chemischer Engel aus. Er hatte genug Heroin intus, um ihr die ganze Nacht durch Paris zu folgen. Und genug, um auch andere Dinge zu tun, ohne die kleinste Kraftanstrengung, ohne Reue oder Bedauern. (Auszug Seite 10)

Die Romanhandlung beginnt an einem kalten Pariser Morgen Mitte Dezember 1924. Am Place du Panthéon wird in einem Jutesack die grausam entstellte Leiche eines jungen Mannes gefunden. Aufgrund eines Muttermals kann der verstümmelte Körper dann relativ schnell als der 16-jährige Sohn der adeligen Familie de Faucogney identifiziert werden. Clément Faucogney war vor einiger Zeit gemeinsam mit seinem Kindermädchen auf dem Weg zum Fechtunterricht verschwunden. Auch von der 26-jährigen Gouvernante fehlt seither jede Spur. Leiter der Mordermittlung ist Lieutenant Julien Vioric. Wie viele seiner Landsleute hat der Lieutenant den Krieg nur schwer traumatisiert überlebt. Nicht nur körperlich durch einen Granatsplitter in der Schulter verletzt, macht ihm das das Erlebte auf den Schlachtfeldern immer noch sehr zu schaffen. Der aktuelle Fall bringt ihn aufgrund seiner Grausamkeiten an die Grenze des für ihn Erträglichen. Der adelige Bengel ist aber nur das erste Opfer in einer Reihe monströser Taten. Als weitere Morde von einem scheinbar fanatischen und äußerst enthemmten Täter geschehen, bringt das die Préfecture gehörig unter Druck. Deren Polizeipräfekt, Edouard Vioric ist Juliens Bruder, der ihm schon immer das Leben schwer machte.

Eine Spur führt Vioric zu der jungen Lysanne Magloire. Die unbedarfte Frau aus der Provinz hat es völlig mittellos nach Paris verschlagen um nach ihrer vor 4 Jahren verschwundenen Schwester Isabelle zu suchen. Beide Frauen hatten während des Krieges als ausgebildete Krankenschwestern gearbeitet, Isabelle zerbrach fast an ihren Aufgaben im Lazarett und wurde kokainsüchtig. Nach dem Tod des Vaters und ihres besten Freundes hatte Lysanne ihr Dorf verlassen. Doch jetzt reicht ihr Geld nicht mehr, die Polizei nimmt sie bei ihrer Suche nicht ernst und Paris ist so gar nicht die verheißungsvolle, vibrierende Metropole voller Künstler, die sie sich ziemlich naiv vorgestellt hatte.

Die Gesänge des Maldoror

Lysanne lernt in einem Café den charismatischen Dichter Louis Aragon kennen, der sie bestärkt, ihr schriftstellerisches Talent auszuleben. Er bringt sie in den Kreis der Surrealisten, eine buntgemischte Gruppe von Menschen, die sich an verschiedenen Orten treffen, schreiben und spielen. Zu ihnen gehören Schriftsteller, Maler und bildende Künstler. Es sind Freigeister, Anarchisten, die die Werte des etablierten Bürgertums ablehnen und eine neue Sicht auf die Welt in teilweise ungewöhnlichen Aktionen verbreiten möchten sowie oft die Obrigkeiten mit großem Vergnügen bloßstellen.

Im Laufe der Ermittlungen verdichten sich für Vioric die Hinweise, dass der Täter aus den Reihen der Surrealisten kommen könnte. Denn der Serienmörder lässt sich scheinbar bei seinen Taten von den grausamen Szenen aus ihrem Manifest „Die Gesänge von Maldoror“ inspirieren. Lysanne begibt sich in große Gefahr, denn immer wieder führen Spuren zu ihrer Schwester, zu ihrer Vergangenheit und zu den Surrealisten, die sie faszinieren und in deren Umfeld sie sich immer häufiger aufhält.

Durch Britta Habekosts poetische Sprache und ihren bildgewaltigen Schreibstil wird man mühelos in das faszinierende wie abstoßende Geschehen hineingezogen. Das Flair der glamourösen Metropole an der Seine der Nachkriegszeit, besonders das Nebeneinander von künstlerischer Dekadenz und bitterer Armut wird sehr gut eingefangen in teilweise harten sowie drastischen Bildern. Die Pariser kämpfen nach dem 1. Weltkrieg noch mit vielen Traumata, es ist eine Stadt zwischen Gewalt und Vergnügungssucht. Einer dieser Menschen ist der schwermütige Julien Vioric, der sich immer wieder in Schuldgefühlen und Kriegserinnerungen verliert. Im Gegensatz zu seinem Bruder ist er verletzlich und kein hartgesottener Ermittler. Für mich ein absoluter Sympathieträger. Auch andere Charaktere werden sehr authentisch dargestellt und sind in ihrer Verlorenheit sehr spürbar. Es entsteht eine bedrückte Grundstimmung mit melancholischen Untertönen, in der die Autorin die düstere Atmosphäre der Großstadt mit einem vielschichtigen Krimiplot verwebt und das auch noch mit dem Geschehen der Surrealistenszene verknüpft.

Die Surrealisten

Eine zentrale Rolle spielen die französischen Surrealisten rund um die real existierenden Personen Louis Aragon, André Breton, Robert Desnos u.a. die Habekost als Kunsthistorikerin gekonnt in Szene gesetzt hat, einschließlich einiger historisch belegter Aktionen und Aktivitäten der Gruppe. Fast nebenbei wird man mit ihrem Gedankengut vertraut gemacht und erfährt einige spannende Details über die Figuren. Spannend, düster und manchmal auch sehr amüsant, wenn die Surrealisten im Zuge der Mordermittlungen zum Verhör auf die Polizeistation gebeten werden und sich dabei unglaublich skurrile aber auch irgendwie philosophische Gespräche ergeben und die Polizisten lässig vorgeführt werden. Ganz raffiniert werden hier kunsthistorische Fakten und Fiktion zusammengeworfen. Dadurch ist „Stadt der Mörder“ ein besonderer Roman, der sich deutlich von den unzähligen historischen Kriminalromanen, die zurzeit den Markt überschwemmen, abhebt.

Ich kannte Surrealismus nur als Kunstbewegung und mir war nicht klar, dass der Surrealismus, wie in Britta Habekosts Nachwort zu lesen, in seinen Anfängen keine Kunst sein wollte, sondern eine Revolution des Denkens und der Art zu leben und sich als Lebenskunst gegen traditionelle Normen äußerte. Am Ende wird der Fall gut aufgelöst und auf die angekündigte Fortsetzung freue ich mich schon sehr.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Stadt der Mörder | Erschienen am 27.09.2021 im Penguin Verlag
ISBN 978-3 3286 0195 1
464 Seiten | 20,- €
Bibliografische Angaben & Leseprobe