Kategorie: Mysterythriller

Matt Query & Harrison Query | Old Country – Das Böse vergisst nicht

Matt Query & Harrison Query | Old Country – Das Böse vergisst nicht

Es war ein fremdartiges Gefühl von Furcht, wie eine Ansteckung, ein Panikvirus, der nicht aus dir selbst kommt, sondern sich von außen einen Weg in dein Bewusstsein bahnt. Ich spürte einen Druck auf meinen Ohren. (Auszug Seite 309)

Eine eigene kleine Farm in der weiten Natur, Ruhe in der ländlichen Abgeschiedenheit. Für das junge Paar Harry und Sasha Blakemore geht ein Lebenstraum in Erfüllung, als sie den Zuschlag für eine Ranch in Idaho bekommen. Voller Vorfreude machen sie sich mit Jagdhund Dash auf den Weg in die Abgeschiedenheit, weit weg von ihren Familien. In den Bergen angekommen sind sie überwältigt von der traumhaft schönen Landschaft direkt vor den Ausläufern der Rocky Mountains. Die nächsten Nachbarn Dan und Lucy Steiner wohnen einige Meilen entfernt. Das ältere Ehepaar steht mit Rat und Tat zur Seite und hilft den Neuankömmlingen, sich in das Leben als Farmer einzufinden.

Das Grauen in der Idylle
Als sie die Blakemores allerdings mit einem uralten Geist konfrontieren, der in jeder Jahreszeit in unterschiedlicher Manifestation die Bewohner des Tals heimsucht, sind Harry und Sasha mehr als skeptisch. Es gibt genaue, auch schriftlich fixierte Anleitungen, um den Geist in Schach zu halten. Wenn die beiden Neufarmer sich an diese Anweisungen halten und die Rituale genauestens befolgen, würde ihnen nichts passieren. Besonders Harry weist die bevorstehenden Heimsuchungen brüsk als abwegige Spinnerei ab und fühlt sich veräppelt. Doch während Harry und Sasha sich langsam einrichten, zum Reiten, Fischen und zur Moorhuhnjagd gehen, bricht das Grauen über die Idylle herein.

Die Handlung ist in 5 Abschnitte unterteilt und folgt der Dramaturgie der Jahreszeiten. Die Perspektive, die kapitelweise zwischen Harrys und Sashas Sicht hin und her wechselt, ist in der Ich-Form verfasst. Dadurch entsteht eine dichte Psychologisierung des jungen Paares. Die Figuren sind sympathisch und authentisch, nahbar und mit Hintergrund gezeichnet. Harry ist ein Afghanistan-Veteran, in Rückblenden erfahren wir viel über die traumatischen Geschehnisse, die er auch noch nicht endgültig verarbeitet hat. Selbst mit seiner Frau, zu der er eine sehr innige und intensive Beziehung pflegt, spricht er nicht über seine Zeit als Marine in den Kriegsgebieten. So liebevoll Harry zu seiner Frau und dem Golden Retriever ist, kann er aber auch schon mal sehr hitzig und impulsiv handeln und wenn er Gefahr für seine Liebsten wittert, fühlt er sich schnell provoziert.

„Ich habe bereits Menschen erschossen, Lucy. Echte Menschen. Dass dieser verdammte … Geist echt ist, beunruhigt mich weit mehr, als einen Kerl abzuknallen, der meine Frau und mein Zuhause bedroht.“ (Auszug Seite 158)

Old Country ist ein mystischer Spannungsroman mit Gruselelementen, wobei die gruseligen Abschnitte doch überschaubar waren. Dabei schleichen sich die schaurigen Szenen langsam an und waren für mich eher skurril als gänsehauterzeugend. Das vorhersehbare Regelwerk konterkariert unweigerlich den Spannungsbogen. Das liegt daran, dass wir aufgrund der Anleitung von Dan und Lucy ja immer schon genau wissen, was passiert. Auch wenn durch Harrys teilweise ungestümes Verhalten das ein oder andere Unvorhergesehene passiert, werden die Gefahren allzu gleichförmig erzählt. Die Zeit zwischen den übernatürlichen Ereignissen war mit detaillierten Beschreibungen des alltäglichen Lebens, traumatischen Erinnerungen und Rückblenden gefüllt.

Horror im Winter
Im letzten Drittel wächst die Bedrohung und das Tempo zieht an. Die Horror-Momente im Winter werden sehr bildhaft und plastisch geschildert und zumindest meine Nackenhaare stellten sich auf. Als klar wird, dass kein Entkommen möglich ist, die Farm verlassen und irgendwo anders neu anzufangen, keine Option darstellt, spitzt sich alles zu.

Old Country ist gradlinig in einer gefälligen Sprache und einer fast heimeligen Erzählweise geschrieben. Der weitläufige Schauplatz wird anschaulich geschildert, die Verbundenheit zur Natur ist omnipräsent. Die Brüder Matt und Harrison Query nehmen sich viel Zeit für Setting und Charaktere. Ich habe immer wieder gerne zum Buch gegriffen, auch wenn es sich eher um eine gemütliche, zurückhaltende Spannung mit einer subtil bedrohlichen Aura handelt. Eine Verfilmung kann ich mir gut vorstellen und das Erfolgsteam Shawn Levy und Dan Cohen, die Macher von Stranger Things, sollen schon ihr Interesse bekundet haben.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Old Country – Das Böse vergisst nicht | Erschienen am 15. Februar 2023 im Heyne Verlag
ISBN 978-3-45332-231-8
432 Seiten | 15.- Euro
Originaltitel: Old Country | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Michael Pfingstl
Bibliografische Angaben & Leseprobe

 

Abgehakt | Kurzrezensionen Dezember 2022

Abgehakt | Kurzrezensionen Dezember 2022

Kurzrezensionen Dezember 2022

Arttu Tuominen | Was wir verbergen

Ende des letzten Jahres erschien „Was wir verschweigen“ von Arttu Tuominen, der erste Band mit Kommissaren der Kriminalpolizei aus Pori in Nordwestfinnland. Damals stand Jari Paloviita im Fokus, als er einem mordverdächtigen Jugendfreund zu Hilfe kommt und die Ermittlungen beeinflusst. Für mich ein überzeugender Krimi.

Nun gibt es Band 2 aus Pori und diesmal steht Jaris Kollege Henrik Oksman im Fokus des Romans. Er ist ein stiller Einzelgänger im Präsidium. Was niemand weiß: Henrik ist homosexuell und verkleidet sich gern als Frau. Er verbringt einen Abend in einem queeren Nachtklub in Pori, findet dort Anschluss und verlässt mit seinem Begleiter den Club in ein nahegelegenes Hotel. Kurz darauf wirft ein Attentäter zwei Granaten in den Eingangsbereich des Clubs, fünf Menschen sterben. Ein Bekennervideo zeigt einen fanatischen Mann, der weitere Taten ankündigt und andere aufruft, ebenfalls in seinen Kampf gegen Schwule und vermeintlich Andersartige zu ziehen. Es folgen hektische Ermittlungen nach dem Täter, währenddessen Henrik verschweigt, dass er kurz vor dem Attentat im Club war und mit aller Macht versucht, sein Geheimnis zu bewahren.

Eine sehr interessante Idee des Autors, die Prämisse des ersten Romans – ein Ermittler, der in einem aktuellen Fall etwas zu verbergen hat – wieder aufzugreifen. Das funktioniert auch, denn obwohl man annehmen könnte, dass Homosexualität im modernen Finnland unproblematisch wäre, stehen der private Hintergrund Henrik Oksmans als Gegenbeispiel. Erzkonservative, homophobe und rassistische Gegenbewegungen gibt es offenbar auch in Finnland. Der Roman überzeugt am meisten bei der komplexen Figur Oksman und am wenigsten bei der etwas schematischen Figur des Attentäters. Insgesamt aber eine ordentliche Fortsetzung des starken ersten Bands.

 

Was wir verbergen | Erschienen am 28.10.2022 bei Bastei Lübbe
ISBN 978-3-7857-2811-6
366 Seiten | 16,99 €
Als E-Book: ISBN 978-3-7517-2811-9 | 11,99 €
Originaltitel: Hyvitys | Übersetzung aus dem Finnischen von Anke Michler-Janhunen
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3,5 von 5
Genre: Krimi

 

Michael Mann & Meg Gardiner | Heat 2

Um Regisseur Michael Mann ist es ein wenig still geworden, seine letzter Kinofilm „Blackhat“ von 2015 war ein veritabler Flop. Kein Wunder, dass er sich nun seines größten Erfolgs erinnert hat: „Heat“ von 1995 ist ein sowohl actionreiches als auch tief melancholisches Heist-Drama, ein Klassiker des Genres, mit großartigen Schauspilern wie Robert de Niro und Al Pacino. Zusammen mit der Kriminalautorin Meg Gardiner hat Michael Mann nun „Heat 2“ geschrieben, dass sowohl Prequel als auch Sequel von „Heat“ ist. Die Verfilmung soll angeblich bereits in den Startlöchern stehen.

Die Cineasten unter uns werden es wissen (Zur Not erläutern die Autoren etwas umständlich im Prolog auch nochmal den Schluss von Heat): Beim Showdown am Ende überlebt Chris Shiherlis (gespielt von Val Kilmer) schwer verletzt und entkommt der Polizei um Vincent Hanna. Aus dieser Ausgangsposition wird erzählt, wie Chris in Paraguay in der rauen Schmugglerstadt Cuidad del Este bei einer taiwanesischen Mafiafamilie unterkommt und sich dort hocharbeitet, vor allem in der Gunst der Tochter des Clanchefs, die obwohl deutlich cleverer als ihr Bruder, nicht an die Spitze des Clans aufrücken soll. Währenddessen wird die Vorgeschichte erzählt: Nach einem Coup in Chicago 1988 geraten Neil McCauley und seine Crew mit Chris ins Visier eines soziopathischen Kriminellen, der ihnen den nächsten Coup streitig machen will. Zum Ende werden alle Fäden wieder in L.A. Im Jahr 2000 zusammenführen.

Jetzt kann man natürlich etwas streiten, ob es unbedingt einer Fortsetzung bedurft hätte. Ästhetisch und inhaltlich knüpfen Mann & Gardiner an Bestehendem an, haben wenig Neues zu bieten, geben den bekannten Figuren keine wesentlichen neuen Attribute. Andererseits ist das Ganze auch auf einem respektablem Niveau. Der Spannungsbogen überzeugt, man bleibt bis zum Schluss dran und fühlte sich gut unterhalten. Insofern nicht übel, man sehen, was der Film kann.

 

Heat 2 | Erschienen am 27.09.2022 bei HarperCollins
ISBN 978-3-3650-0228-5
688 Seiten | 14,- €
Als E-Book: ISBN 978-3-7499-0516-4 | 9,99 €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3,5 von 5,0
Genre: Krimi

 

Michelle Paver | Schneegrab

April 1935: Von Darjeeling aus bricht eine Gruppe britischer Bergsteiger zum Kangchenjunga auf, dem dritthöchsten Berg der Welt. Sie bewegen sich auf der Route einer Expedition um den Leiter Edmund Lyell knapp dreißig Jahre zuvor, die im Desaster endete, wobei Lyell dank eines von ihm veröffentlichten heroischen Expeditionsberichts zum Bergsteigerhelden wurde. Doch ging es damals so zu, wie von ihm berichtet? Stephen Pearce, Arzt der neuen Expedition, kam erst spät ins Team, will sich unbedingt beweisen – und doch beschleicht ihn ein merkwürdiges Gefühl, auch aufgrund des Aberglaubens der einheimischen Träger. Als die Gruppe schließlich den Berg erreicht, hat Stephen Erscheinungen. Irgendjemand scheint die Gruppe zu begleiten und zu beobachten.

Autorin Michelle Paver begibt sich mit „Schneegrab“ in den Himalaya und hat eine Mischung aus historischem Bergsteigerroman und Mysterythriller vorgelegt. Der Schauplatz ist interessant gewählt, ihre Recherchen scheint die Autorin auch gemacht zu haben, allerdings habe ich schon packendene Bergsteigergeschichten gelesen. Das Ganze ist weniger eine Horror als eine Schauergeschichte. Nicht schlecht, vor allem die Auflösung fand ich durchaus clever. Allerdings plätscherte es für mich zwischendurch auch so ein wenig dahin. Die Entscheidung, die Story von Stephen als Ich-Erzähler erzählen zu lassen, macht zwar Sinn, aber ich fand die übrigen Figuren dadurch etwas blass vom Profil. So fand ich „Schneegrab“ ganz ordentlich für zwischendurch, aber da wäre aus meiner Sicht noch mehr drin gewesen.

 

Schneegrab | Erschienen am 01.12.2021 im Piper Verlag
ISBN 978-3-492-06345-6
304 Seiten | 17,- €
Als E-Book: ISBN 978-3-492-60178-8 | 12,99 €
Originaltitel: Thin Air | Übersetzung aus dem Englischen von Karin Dufner
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3 von 5
Genre: Mysterythriller

 

Graham Moore | Verweigerung

Ein Geschworenenprozess in Los Angeles: Die 15jährige Jessica Silver, Tochter eines Immobilienmoguls, verschwindet. Wegen Mordes wird ihr Lehrer Bobby Nock angeklagt, der offenbar ein Verhältnis mit Jessica hatte und in dessen Auto Blutspuren von Jessica gefunden wurden. Die Geschworenen tendieren zunächst zu einem Schuldspruch, entscheiden aber letztlich nach längerer Beratung und Intervention hauptsächlich einer Geschworenen auf „nicht schuldig“ und stehen fortan unter scharfer Kritik. Im Mittelpunkt der Kritik steht Maya Seale, die anschließend selbst Jura studiert und Anwältin wird. Zehn Jahre später trommelt eine TV-Produktionsfirma die Geschworenen wieder zusammen. Einer von ihnen, Rick, behauptet, hieb- und stichfeste Beweise für die Täterschaft Bobby Nocks gefunden zu haben. Maya bezweifelt dies, streitet sich mit Rick und findet diesen kurz danach ermordet in ihrem Hotelzimmer. Plötzlich wird Maya zur Hauptverdächtigen.

Justizthriller waren durch John Grisham in der 1990ern auf einmal sehr populär. Das amerikanische Rechtssystem mit Geschworenenurteilen lädt natürlich auch immer wieder zu interessanten Plots ein. Hier erzählt Autor Graham Moore sehr versiert auf zwei Zeitebenen: Zum einen beleuchtet er den Prozess von damals, nach und nach erfährt der Leser, was damals in den Beratungen der Geschworenen geschehen ist und was zum Freispruch von Bobby Nocks geführt hat. Zum Anderen verfolgen wir Maya in der Gegenwart, die nur widerwillig an dem TV-Event teilnimmt, plötzlich mordverdächtig ist und nun selbst ermittelt, um sich zu entlasten. Insgesamt ein clever erzählter Justizthriller mit einigen interessanten Wendungen und einigen bissigen Spitzen gegen das amerikanische Justizsystem.

 

Verweigerung | Erschienen am 21.12.2020 im Eichborn Verlag
ISBN 978-3-8479-0053-5
400 Seiten | 22,- €
Als Taschenbuch: ISBN 978-3-8479-0108-2 | 12,- €
Originaltitel: | Übersetzung aus dem Englischen von André Mumot
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 4 von 5
Genre: Spannungsroman

 

Rezensionen und Fotos von Gunnar Wolters.

Stuart Turton | Der Tod und das dunkle Meer

Stuart Turton | Der Tod und das dunkle Meer

Wenn ihre Vermutung richtig war, dann war der Aussätzige direkt aus dem Meer geradewegs den Schiffsrumpf hinauf bis zu ihrer Fensterluke gestiegen. (Auszug Seite 238)

Mitte des 17. Jahrhunderts sticht eine Flotte von 7 Schiffen der Vereinigten Niederländischen Ostindien-Kompanie von Batavia in See. Ankunftsziel ist nach 8 Monaten beschwerlicher Fahrt Amsterdam. Hauptschauplatz des Romans ist die Saardam, auf der Generalgouverneur Jan Haan mit großer Entourage reist: Leibwache, seine Ehefrau Sara Wessel, die gemeinsame Tochter und seine Geliebte sind mit an Bord. In Amsterdam soll Haan einer der „Siebzehn Herren“ werden, die das Direktorium der Ostindiengesellschaft bilden. Den Frachtraum füllen Schweine und Kühe, Weidenkörbe mit krächzenden Hühnern, Kisten mit Gewürzen, Seidenstoffen, darunter auch welche, deren Inhalt der Gouverneur sorgfältig geheim hält. Ebenfalls an Bord sind der berühmte Meisterdetektiv Samuel Pipps und sein Leibwächter und Freund, der Söldner Arent Hayes. Pipps hatte für Haan einen gestohlenen Schatz wieder gefunden, war aber danach in Ungnade gefallen und reist jetzt als Gefangener nach Amsterdam, wo ihm der Prozess gemacht werden soll.

Der alte Tom
Unmittelbar bevor die Saardam in See sticht, wird das Schiff von einem in blutige Lumpen gehüllten Aussätzigen verflucht, der nach seiner Prophezeiung in Flammen aufgeht und qualvoll verbrennt. Die Umstehenden können ihm nicht mehr helfen und nur noch feststellen, dass man der armen Kreatur die Zunge rausgeschnitten hatte. Trotz großer Verunsicherung auf Seiten der Passagiere tritt die Saardam ihre Reise an. Schon kurz nach dem Auslaufen geschehen unheimliche Dinge an Bord. Auf den Segeln wird ein bedrohliches Zeichen entdeckt. Das Auge mit Teufelsschwanz gilt als das Zeichen des „Alten Tom“ – eine Inkarnation des Teufels, der schon vor 30 Jahren in den Provinzen für großes Blutvergießen sorgte. Absonderliche Gewaltakte gipfeln in Morden und ein Flüstern weht durch das Schiff, das alle an Bord verführen möchte, ihren dunkelsten Wünschen nachzugeben. Es entsteht eine explosive Gemengelage aus verängstigten Passagieren, gesetzeslosen Matrosen und die von Haan als Leibwache mit an Bord genommenen kampferprobten Musketieren. Die Suche nach der Wahrheit wird zum Wettlauf mit der Zeit, denn der „Alte Tom“ bringt nach und nach das Schiff in seine Gewalt und der angekündigte Untergang scheint unabwendbar.

Der Bär und der Spatz
Arent Hayes wird mit Ermittlungen beauftragt, um den Dämon zu finden, der sich unter die Passagieren oder die Besatzung gemischt habe könnte. Dabei ist er ganz alleine auf sich gestellt, da Pipps in Ketten in ein dreckiges Loch geworfen wird. Es fällt ihm schwer, diese Rolle anzunehmen, denn mit seiner großen massigen Statur war er immer nur der Mann fürs Grobe und Pipps mit seinem detektivischen Scharfsinn galt als das Brain. Der Bär und der Spatz werden sie von allen genannt, denn Arent ist fast doppelt so groß wie der hochintelligente aber eitle Sammy. Für mich ist Arent Hayes auf jeden Fall die interessantere Figur. Kompetente Hilfe findet Hayes in der resoluten Sara Wessels, die an seiner Seite das Schiff und ihrer aller Leben retten will.

Dem Autor gelingt es mit wenigen Pinselstrichen prägnante Charaktere zu erschaffen, die ihre eigene Motivation und Geheimnisse haben. Man erhält auch Einblicke in ihre Vergangenheiten. Diese sind auch nötig, um die Auflösung zu verstehen, wenn sich im Finale alle Teilinformationen zu einem großen Ganzen fügen. Es gibt abergläubische und religiöse Passagiere, intrigante Adelige, verschlagene Seeleute, mit Jan Haan einen machtgierigen, frauenverachtenden Tyrannen und einige starke weibliche Charaktere.

Auch wenn auf dem Cover Kriminalroman steht, verspricht die optische Umschlaggestaltung mit dem Anker und Kompass auf grün-blauen Wellen genau das was man bekommt: Eine farbenfrohe Abenteuergeschichte, einen prall gefüllten Spannungsschmöker auf hoher See und durch den eingeschränkten Handlungsspielraum auch ein maritimes Kammerspiel. Schiffsreisen zur damaligen Zeit waren alles andere als komfortabel. Die vielen realistischen Details sorgen dafür, dass man die klaustrophobische Enge und Finsternis im Innern des Schiffes nachempfinden, die rauen Wellen spüren, die Seeluft und den Gestank riechen kann. Für den Leser ist diese Schifffahrt allerdings ein großes Vergnügen, ein großer Spaß, es hätte für mich noch düsterer sein können.

Es war eine ölige Dunkelheit, die mit einem Geruch nach Bilgenwasser, Sägemehl, Gewürzen und Fäulnis angefüllt war. Von der Decke tropfte Wasser auf die herumstehenden Kisten herab. Es kam ihr so vor, als würde jeder elende Gedanke, der den Menschen oben an Deck durch die Köpfe ging, durch das Schiff sickern und sich hier unten sammeln. (Auszug Seite 266)

Stuart Turton liebt es, jede Menge Seemannsgarn zu spinnen und obwohl er die geschichtlichen Ereignisse dieser Zeit gründlich recherchiert hat, fühlt er sich nicht der Historie verpflichtet. In seinem Roman stehen die Fiktion und nicht die historischen Fakten im Vordergrund. Zusätzlich zu einer Karte vom Schiff am Anfang des Buches gibt es auch ein Personenregister mit Namen und Rang der wichtigsten Personen ähnlich wie bei seinem Debüt-Roman. Und genau wie in „Die sieben Tode der Evelyn Hardcastle“ versteht es der britische Autor, mit einem nie versiegenden Quell an Kreativität, aber auch mit einer großen Leichtigkeit verschiedene Genres zu verknüpfen sowie mit vielen unheimlichen Andeutungen Schrecken zu vermitteln. Ein fesselnder, historischer Kriminalroman und spannender Rätselkrimi mit einer guten Portion Witz. Und mit dem Auftauchen eines Geisterschiffes musste ich tatsächlich an „Fluch der Karibik“ denken.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Der Tod und das dunkle Meer | Erschienen am 21. August 2021 bei Tropen
ISBN 978-3-608-50491-0
608 Seiten | 25.- Euro
Originaltitel: The Devil and the Dark Water (Übersetzung aus dem Englischen von Dorothee Merkel)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Andys Besprechung von Die sieben Tode der Evelyn Hardcastle

Stuart Turton | Die sieben Tode der Evelyn Hardcastle

Stuart Turton | Die sieben Tode der Evelyn Hardcastle

Ein Mann wacht morgens orientierungslos und leicht verletzt in einem Waldstück auf. Er trägt einen Smoking, ist völlig verdreckt und hat keine Erinnerung an die letzte Nacht. Er kann sich nicht mal an seinen eigenen Namen erinnern und selbst sein Körper ist ihm fremd. Als er eine Frau um Hilfe schreien hört und Zeuge einer Verfolgung mit Schusswechseln wird, kommt ihm der Name Anna in den Sinn. Völlig verwirrt schleppt er sich zu einem naheliegenden Herrenhaus, um Hilfe zu holen.

Mord in Endlosschleife
Hier auf dem Anwesen Blackheath House lädt die Familie Hardcastle am Abend zu einem Maskenball ein. Und auf diesem Fest soll die Tochter des Hauses, Evelyn Hardcastle, sterben. Darüber wird unser Protagonist von einem seltsamen Typen, der das Kostüm eines Pestdoktors trägt, informiert. Er teilt ihm auch mit, dass er diesen Mord aufklären soll und dafür sieben Tage Zeit hat. Jeden Tag erwacht er in einen anderen Körper und erlebt aus dessen Sicht immer wieder in einer Endlosschleife den gleichen Tag, an dessen Ende immer wieder der Tod der jungen Frau steht. Schafft er es nicht, innerhalb der sieben Tage den Mörder zu benennen, werden seine gesamten Erinnerungen gelöscht und das Spiel fängt wieder von vorne an. Ein perfides Spiel, in dem es noch andere Mitspieler mit der gleichen Aufgabe gibt. Aber nur einer dieser Rivalen kann diesem Ort und der Zeitschleife entkommen.

Im weiteren Verlauf erfährt der Ich-Erzähler, dass sein richtiger Name Aiden Bishop ist. Wer er ist oder wie er an diesen Ort gekommen ist, bleibt weiter im Dunkeln. Da die Geschichte in der Ich-Perspektive erzählt wird, ist man als Leser immer ganz nah bei ihm und seinen schrittweisen Bemühungen, die Zusammenhänge zu ergründen. Nie weiß man mehr als Aiden und genau wie er wird man von einigen Wendungen überrascht. Er weiß nie, wem er vertrauen kann und einige Figuren trachten ihm nach dem Leben. Es bleibt auch nicht bei dem einen Todesfall. Das Hin- und Herspringen zwischen den Wirten und das mühselige Entdecken, in welchem Körper er jetzt wieder steckt, ist natürlich maximal verwirrend, macht aber den großen Reiz des Kriminalromans aus. Dabei beeinflussen ihn seine verschiedenen Wirtskörper durch ihre Charaktereigenschaften. Ob es das körperlich hohe Gewicht des einen oder die Wollust und Aggressivität des anderen oder wieder die Cleverness eines weiteren sind. Um den Kreislauf zu durchbrechen und aus Blackheath zu entfliehen, muss er sich die körperlichen oder geistigen Fähigkeiten seiner Wirte zu Nutze machen. Teilweise behindern sie ihn auch und verfügen nicht über Eigenschaften, die er in speziellen Momenten dringend benötigt. Faszinierend beschrieben wird, wie seine eigene Persönlichkeit sich mit denen seiner Wirte vermischt und er dagegen ankämpfen muss, dass sie mehr oder weniger untergeht. Um das Chaos perfekt zu machen, begegnet Aiden sich, wie es sich für einen Zeitreisenden gehört, selbst in den anderen Körpern.

Origineller Genremix
Ich habe das ungekürzte Hörbuch über Audible gehört und der Schauspieler und Hörbuchsprecher Frank Stieren macht das mit seiner angenehmen, unaufgeregten Stimme auch sehr gut. Trotzdem würde ich bei diesem Krimi vielleicht eher das Printexemplar empfehlen. Aufgrund ständiger Perspektiv- und Zeitenwechsel bedarf es einer großen Konzentration, um am Ball zu bleiben. Im Buch hätte man zwischendurch mal zurückblättern können. Auch serviert uns Turton ein wirklich großes Personal-Tableau mit Lords und Ladys, Dienerschaft und Gästen und ich kann mir Namen auch besser merken, wenn ich sie schwarz auf weiß lese.

Wenn man sich einfach darauf einlässt, macht die raffiniert konstruierte Geschichte großen Spaß. Trotz großer Komplexität des Inhalts hatte ich nie den Eindruck, der Autor hätte seine Handlungsfäden nicht mehr im Griff. Zum Schluss sitzen alle Puzzleteile an der richtigen Stelle und er bietet eine nachvollziehbare Auflösung.

Stuart Turton hat einen ganz klassischen Kriminalroman geschrieben, der im Erzählstil, im Setting und atmosphärisch an die typisch englischen Rätselkrimis à la Agatha Christie erinnert. Das Besondere ist das phantastische Element und mich hat der originelle Genremix mit einer Vielzahl an spektakulären Einfällen hervorragend unterhalten. Als großer Fan der amerikanischen Filmkomödie „Und täglich grüßt das Murmeltier“ konnte ich mir das nicht entgehen lassen. Einzig der Maskenball kam ein bisschen kurz und spielte gar keine so große Rolle.

„Die sieben Tode der Evelyn Hardcastle“ ist das Romandebüt des britischen Schriftstellers und Reisejournalisten Stuart Turton. Der Kriminalroman wurde nach seinem Erscheinen in Großbritannien zum großen Publikumserfolg und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Inzwischen hat sich Netflix die Rechte gesichert und arbeitet an einer siebenteiligen Serienadaption.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Die sieben Tode der Evelyn Hardcastle | Erschienen am 24. August 2019 bei Tropen
ISBN 978-3-608-50421-7
605 Seiten | 24.- Euro (Die Taschenbuchausgabe erscheint im März im Heyne Verlag)
Originaltitel: The Seven Deaths of Evelyn Hardcastle (Übersetzung aus dem Englischen von Dorothee Merkel)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Jess Kidd | Der Freund der Toten

Jess Kidd | Der Freund der Toten

Sein letzter Schlag nahm ihr die Sehkraft. Sie lag am Rande der Welt, wünschte sich endlich, es möge vorbei sein. Sie drehte das zertrümmerte Gesicht ihrem wunderschönen Jungen zu, meinte, ihn immer noch sehen zu können, sogar durch die Dunkelheit, eine matt schimmernde Rose des Waldes. (Auszug Seite 7)

Mitte der 70er Jahre taucht der gut aussehende 26-jährige Mahony in dem kleinen irischen Dorf Mulderrig auf. Der ungepflegte Hallodri wirkt ziemlich verlottert, aber mit dem ihm eigenen Charme wirkt er besonders auf die Damen sehr anziehend. Er wuchs als ehemaliges Findelkind in einem katholischen Waisenhaus in Dublin auf und erfuhr erst vor kurzem, dass seine Mutter keine Hafen-Hure war, die ihn einfach ausgesetzt und dann vergessen hatte, wie man ihm jahrelang weismachte. Mit einem Foto von sich und seiner blutjungen Mutter Orla Sweeney möchte er nun in ihrem Heimatdorf herausfinden, was damals geschah. Die Dorfbewohner halten sich aber bedeckt und scheinen alle etwas zu verbergen. Die lebenslustige Orla galt als „Dorfflittchen“ und als sie vor 25 Jahren mit ihrem kleinen Baby in den Bus stieg, wurde sie angeblich nie wieder gesehen.

Unterstützung bekommt Mahony nur von der exzentrischen, scharfzüngigen Merle Cauly, einer ehemaligen Schauspielerin. Die alte Dame ist inzwischen pflegebedürftig aber mit einem messerscharfen Verstand ausgestattet. Ein Theaterstück, das die Greisin unter Teilnahme des ganzen Dorfes plant, dient als Vorwand, um alle unauffällig befragen zu können. Immer wieder wird die Handlung durch Rückblenden in das Jahr 1950 unterbrochen.

Cold Case aus den 50ern

Alles schon mal dagewesen, könnte man jetzt meinen: Dunkle Familiengeheimnisse und ein bigottes Provinznest mit einer verstockten Dorfgemeinschaft, die Fremden erst mal mit Misstrauen begegnen, sowie ein lang zurückliegendes Verbrechen, das aufgeklärt werden soll. Aber mich hat dieser ungewöhnliche Roman, der so richtig in keine Schublade passt von Anfang an in den Bann gezogen.

Da ist zum einen unser lässiger Held Mahony, der über die Gabe verfügt, Tote zu sehen und mit ihnen zu sprechen und das macht aus dem Debüt der englischen Autorin einen mehr als originellen Roman. Die Toten streifen durch Häuser, gehen durch Wände, tauchen plötzlich auf und verschwinden wieder. Nützliche Hinweise geben sie eher unabsichtlich, da sie nur „Echos der Geschichte ihres eigenen Lebens sind“. Diese skurrilen Augenblicke werden ohne große Erläuterung so selbstverständlich in den Plot eingeflochten, dass man nicht auf die Idee kommt, dieses zu hinterfragen. Durch eine Aneinanderreihung von kuriosen und verrückten Episoden entsteht eine mystisch angehauchte Atmosphäre. Es wuselt nur so von kauzigen Dörflern und umtriebigen Toten. Die Autorin hat einen ganzen Sack schräger Typen entwickelt, zum Beispiel Merle Cauly, um nur eine zu nennen, für die das Wort Exzentrik wahrscheinlich erfunden wurde.

Jess Kidd, 1973 in London geboren, verbrachte einen Großteil ihrer Jugend in einem kleinen Provinznest an der irischen Westküste und hat ein gutes Gespür für die Dorfwelt und ihre Bewohner. Ihre Charaktere sind alle überspitzt aber liebevoll und lebendig angelegt.

Schönheit und Gewalt

Zum anderen hat mir der literarische, bildhafte Erzählstil sehr gut gefallen. Kidds Sprache ist fein, fast zart, dann wieder roh. Sie ist mit viel Wortwitz und einer ausschweifenden Fantasie bei der Sache und streut einige fast poetische Sätze bei. Trotz der erschaffenen dichten Atmosphäre eines zauberhaften Märchens gelingt es der Autorin, eine düstere und fesselnde Geschichte mit sehr drastisch geschilderten Tötungsszenen zu erzählen. Eine, bei der ein Tier erschlagen wird, ging mir besonders nahe. Auch die Darstellung der Gewalt im Prolog ist in ihrer schonungslosen Art schwer zu ertragen, da durch die präzisen Schilderungen das Geschehen schmerzhaft realistisch dargestellt wird.

Für mich funktioniert diese Geschichte auch so gut, weil sich gewaltvolle, schreckliche und magisch-schöne, berührende Momente ständig abwechseln. Und kurz bevor die Absonderlichkeiten mir tatsächlich ein bisschen zu viel wurden, endet das Buch und man muss aus diesem bunten, abgedrehten und schrägen Kosmos wieder auftauchen.

 

Rezension und Foto von Andy Ruhr.

Der Freund der Toten | Erschienen am 13. September 2018 im DuMont Buchverlag
ISBN eBook 978-3-8321-8928-9
384 Seiten | 8,99 Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe