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Rezensions-Doppel: Mathijs Deen | Der Taucher & Charles den Tex | Repair Club

Rezensions-Doppel: Mathijs Deen | Der Taucher & Charles den Tex | Repair Club

Die niederländische und flandrische Literatur ist dieses Jahr zu Gast bei der Leipziger Buchmesse. Das ist doch mal ein gelungener Anlass für ein Rezensions-Doppel mit zwei niederländischen Autoren. Trotz der geografischen Nähe und der sprachlichen Verwandtschaft sind Übersetzungen von Krimis und Spannungsliteratur aus der niederländischen Sprache momentan nicht so häufig, wie man vermuten könnte. Wenn man sich die Liste der Gewinner des wichtigsten niederländischen Krimipreises „Gouden Strop“ der letzten zehn Jahre ansieht, so wurden lediglich zwei Romane („Staub zu Staub“ von Felix Weber und „Mutter, ich habe getötet“ von Esther Verhoek) ins Deutsche übersetzt. Das war mal anders. In den 90er und 00er-Jahren waren niederländische Krimis regelmäßiger bei deutschen Verlagen vertreten, insbesondere beim Dortmunder Grafit Verlag, der einige niederländischen Autoren wie Jac.Toes, Felix Thijssen oder Charles den Tex im Programm hatte. Letzterer ist bis heute einer der erfolgreichsten Krimiautoren der Niederlande. Mit seinem Roman „Repair Club“ wurde seit langem wieder mal ein Buch von ihm ins Deutsche übersetzt. „Der Taucher“ hingegen ist der zweite Band von Mathijs Deens Serie um den deutsch-holländischen Kommissar Liewe Cupido und offensichtlich auch wesentlich auf die deutschen Leserinnen und Leser ausgerichtet, wurde die deutsche Übersetzung doch bereits wenige Wochen vor dem niederländischen Original veröffentlicht. Zeit für eine Doppelrezension.

Mathijs Deen | Der Taucher
Ein niederländisches Bergungsboot findet an der Küste vor Amrum auf dem Echolot ein Wrack. Als sie eine Kamera ins Wasser lassen, finden sie nicht allerdings nicht nur das seit langem vermisste Schiff „Hanne“ mit wertvollem Kupfer an Bord, sondern auch die Leiche eines Tauchers, mit Handschellen angekettet an das Wrack, dadurch offensichtlich ermordet. Weil das Boot des Tauchers abgedriftet in Dänemark aufgefunden wurde, kommt die Polizei bald auf die Identität des Toten. Jan Matz wohnte auf Föhr, lebte getrennt von seiner Frau und den beiden Kindern in Wilhelmshaven und war begeisterter Wracktaucher.

Liewe Cupido ermittelt als Experte der Bundespolizei See als Verstärkung der Kriminalpolizei. Die Ermittlungen gestalten sich durchaus schwierig, denn neben dem Anhaltspunkt der illegalen Plünderung eines Wracks gibt es noch ein familiäres Drama im Hintergrund. Johnny Matz, dem 17jährige Sohn des Toten, droht eine empfindliche Jugendstrafe, weil er seinen Mitschüler Hauke Mauer angegriffen und schwer verletzt hat, sodass dieser weiterhin schwere körperliche Probleme hat. Jan Matz hat seinem Sohn falsche Alibis gegeben, die teilweise widerlegt wurden, aber die Ermittlungen und Strafverfolgung erheblich verzögerten. Darunter leidet die Familie Mauer und die Wut vergrößerte sich noch, als eines Nachts zwei Jugendliche einen Brandsatz in der Carport der Familie warfen – eine Videoaufzeichnung legt nahe, dass Johnny einer der beiden Täter war.

Wie schon in Band 1 „Der Holländer“ ist auch der Fortsetzungsband „Der Taucher“ sehr regional und maritim geprägt. Diesmal liegt der sehr überwiegende Teil der Schauplätze in Deutschland, Wilhelmshaven, Cuxhaven und Föhr, mit kurzen Abstechern in die Niederlande und nach Dänemark. Auch diesmal ist der Plot nicht spektakulär oder sonderlich actionreich, stattdessen liegt der Augenmerk stark auf den Figuren und den zerrütteten Familienverhältnissen. Die getrennte Familie Matz mit dem unkontrollierten, aufbrausenden Johnny und seinem jüngeren, sehr stillen Bruder, der auf Außenstehende zurückgeblieben wirkt, sowie die Familie Mauer, bei der neben dem Angriff auf den Sohn Hauke auch die Insolvenz des Gastronomiebetriebs des Vaters für einen Riss zwischen den Eheleuten und in der Familie gesorgt hat.

Indem er ihn diese Passage übersetzen ließ, wollte Herr Koek ihm helfen, die Tragödie zu verarbeiten, dachte Liewe, und das denkt er immer noch. Er kann sich nicht mehr genau an den Text erinnern, nur an den einen Satz: Il a été poussé, it est tombe, c’est fini. Er ist gestoßen worden, er ist gefallen, es ist aus.
Der Satz ist zu einem Mantra geworden, das er endlos wiederholt, wenn er nicht einschlafen kann. Fast jede Nacht also. Obwohl es schon besser ist, seit Vos am Fußende liegt. (Auszug Seite 97)

Zentraler Anker der Geschichte bleibt aber der Ermittler Liewe Cupido. Auf Texel aufgewachsen, deutsche Mutter, niederländischer Vater, inzwischen in Deutschland lebend und deutscher Polizeibeamter. Cupido ist ein zurückhaltender Einzelgänger, schweigsam, beharrlich, unbequem als Kollege, weil er ungern im Team arbeitet. Auch privat eher einsam, seit Band 1 wird er von der Hündin Vos begleitet, die ihm damals bei einer Observation zugelaufen ist. Aber in diesem Buch tritt auch privat jemand in sein Leben. Horizontales Element in der Reihe bislang ist der bis heute nicht vollständig verarbeitete Verlust seines Vaters. Der Vater war Fischer auf Texel und kam von einem Auslaufen nicht mehr nach Hause, in rauer See von Bord gegangen, ein tragischer Unfall. Doch Cupido trägt dieses Kapitel noch immer mit sich.

Mit „Der Taucher“ hat der niederländischen Autor und Rundfunkproduzent Mathijs Deen einen wirklich gelungenen Fortsetzungsband geschrieben. Regional und maritim verwurzelt, mit einer melancholischen, entschleunigten Grundstimmung, stimmigen Figuren und deren Verhältnissen zueinander sowie einer interessanten Wendung und Auflösung, die an dieser Stelle nicht gespoilert werden sollte. Für Freunde des gepflegten literarischen Ermittlerkrimis ist diese Reihe unbedingt zu empfehlen, der dritte Teil erscheint dieser Tage.

Charles den Tex | Repair Club
John Antink ist ehemaliger Chef des niederländischen Geheimdienstes. Inzwischen 70 und im Ruhestand betreibt er mit drei Freunden ehrenamtlich einen „Repair Club“, in dem alte Haushaltsgeräte repariert werden. Bei einem dieser Termin steht plötzlich ein Mann, vermeintlich ein Russe, mit einer alten Robotron-Schreibmaschine aus DDR-Zeiten vor ihm und bedroht ihn mit einer Waffe. Er gibt John einen Hinweis auf eine alte Geheimdienst-Akte und nennt ihm einen neuen Termin für ein erneutes Treffen.

Währenddessen ist die neue Chefin des Geheimdienstes, Alisha Calder, unter starken Druck geraten. Durch ein Leak ist an die Öffentlichkeit geraten, dass mit Mitteln des Geheimdienstes offenbar eine syrische Terrorgruppe finanziert wurde. Calder braucht ihren Vorgänger John Antink, um dieses undurchsichtige Manöver zu durchschauen, denn die Mittel kommen offenbar tatsächlich vom Geheimdienst, nur wusste niemand etwas. John Antink kommt schnell der Verdacht, dass beide Ereignisse zusammenhängen. Er begibt sich tief in die alten Akten und durchleuchtet seine Vergangenheit als Spion, die ihn unter dem Deckmantel als schweizer Finanzdienstleister in die DDR der späten 1980er gebracht hat. Die Dinge spitzen sich zu, als Antinks Frau Vera fast von Russen entführt wird und der russische Mann aus dem Repair Club tot aufgefunden wird.

„Jemand will mich nach draußen locken. Mit dieser Akte. […] irgendwo in dieser Akte muss etwas stehen, ein Hinweis oder etwas anderes, irgendwas, was sie wissen oder haben wollen.“ Davon ist John überzeugt. Jemand will ihn aufscheuchen und in die Vergangenheit schicken, damit er dort etwas findet, was nur er finden kann. Etwas, was jemand verloren hat. (Auszug E-Book Pos. 2097)

Wer beim ersten Blick auf den Klappentext und den Titel des Romans gedacht hatte, hier geht es in die Richtung „Der Donnerstagsmordclub“ mit rüstigen und schrulligen Rentnern, den muss ich leider enttäuschen. John Antink ist zwar verrentet, aber die Probleme des Alterns kommen nur ab und an vor und seine Kollegen vom Repair Club spielen nur Nebenrollen. Aber ein Spionageroman aus den Niederlanden ist doch auch mal was Neues und die Story ist auch ziemlich modern. Es geht um den Clash zwischen der modernen, digitalen Geheimdienstarbeit von Calder und der altgedienten Methoden von Antink, der noch gerne im Außeneinsatz und mit Körpereinsatz die Dinge erledigt (aber nicht unterschätzt werden sollte). Übergeordnet geht es aber vor allem um russische Einflussnahme in Westeuropa und den Versuch, den Geheimdienst eines NATO-Landes zu desavouieren. Die Spur führt Antink schließlich in seine Vergangenheit und ins Jahr 1988 nach Dresden. Und dreimal dürft ihr raten: Welche junge, vielversprechende Mann war damals KGD-Statthalter vor Ort?

Durchaus gute Zutaten für einen guten Spionagethriller. Doch jetzt kommt leider das große Aber, was mich selbst sehr überrascht. Den Tex wählt aus meiner Sicht nicht die richtige Erzählperspektive aus. Ein allwissender Erzähler wacht über den Text und plaudert den Leser an vielen Stellen völlig zu. Alle Einblicke, alle Gedanken, alle Erklärungen werden mitgeteilt. Auch die Rückblenden werden nicht nacherlebt, sondern vorwiegend nacherzählt. Das macht die Spannungskurve ziemlich zunichte und hinterlässt eine Spur von Langeweile und Frustration bei mir. Umso mehr, weil ich weiß, dass den Tex es anders kann. Zwei Romane habe ich bislang von ihm gelesen („Die Zelle“ und „Die Macht des Mr. Miller“) und beide waren plotgetriebene Thriller mit hohem Spannungsfaktor, die im Großen und Ganzen gut bis prächtig unterhielten. Hier hingegen verplempert der Autor für meinen Geschmack seine guten Ploteinfälle, weil der Erzähler eine Quasselstrippe ist. „Show, don’t tell“ heißt doch eigentlich das Zauberwort für den guten Thrillerautor. Leider von den Tex hier nicht beherzigt. Zum Ende wird es besser, einen schönen Plottwist inklusive, aber trotzdem war hier deutlich mehr drin.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Der Taucher | Erschienen am 14.02.2023 im Mare Verlag
ISBN 978-3-86648-701-7
320 Seiten | 22,- €
Originaltitel: De duiker | Übersetzung aus dem Niederländischen von Andreas Ecke
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 4 von 5
Kriminalroman

 

Repair Club | Erscheinen am 20.02.2024 bei HarperCollins
ISBN: 978-3-36500-610-8;
496 Seiten | 14,- €
Originaltitel: De repair club | Übersetzung aus dem Niederländischen von Simone Schroth
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3 von 5
Spionageroman

Weiterlesen: Vier Rezensionen aus unserem Minispecial „Ein langes Wochenende mit Spannungsliteratur aus Flandern und den Niederlanden

Best Of 2023

Best Of 2023

Wieder ist ein Krimijahr vorbei und es war kein so schlechter Jahrgang. Insgesamt 60 Romane (und zwei Filme) haben wir auf diesem Blog besprochen (ein paar ausschließlich über unsere Social Media-Kanäle). Es ist also mal wieder Zeit für unsere Jahreshighlights. Andy und Gunnar haben ihre drei Lieblingsbücher aus diesem Jahr zusammengestellt. Anders als in den letzten Jahren gab es aber diesmal eine Übereinstimmung, sodass es diesmal so etwas wie „unseren“ Krimi des Jahres gibt. Beginnen wir mit Andys Top 3.

Andys Top 3 in 2023

Zurückblickend auf das scheidende Jahr 2023, stelle ich fest, dass es viele gute Bücher im Bereich Crime waren, aber auch viel Durchschnittliches. Meine Begeisterung für den skandinavischen Thriller hat etwas nachgelassen, zu auserzählt wirken mittlerweile Plots und Charaktere. Der zweite Band von Don Winslow „City of Dreams“ glänzt mit den typischen Winslow-Zutaten, konnte aber nicht ganz mit der Brillanz des ersten Teils mithalten. Steve Cavanagh war eine neue Entdeckung im Bereich Gerichtskrimi und unterhaltsam für zwischendurch und Michael Connelly geht eigentlich immer. Irgendwie bin ich unaufhörlich auf der Jagd nach dem Besonderen. Höchstpunktzahl gab es für die folgenden Highlights, die auch noch Sieger des diesjährigen Deutschen Krimipreises wurden:

James Kestrel – Fünf Winter
Der Protagonist namens Joe McGrady ist ein Detective des Honolulu PD. Bei der Aufklärung eines brutalen Doppelmordes an einem jungen Paar folgt er einer Spur, die ihn nach Hongkong führt. Das wird allerdings kurz nach seiner Ankunft von den Japanern besetzt. McGrady wird verhaftet und nach Japan deportiert. Ganze fünf Jahre kann er sich bei einem japanischen Diplomaten und dessen Tochter verstecken. Fünf Jahre, in denen er nur in der Dunkelheit an die frische Luft kann und die schwere Bombardierung Tokios durch seine Landsleute erlebt, bis er sich wieder der Morduntersuchung widmen kann. Kestrel begeisterte mich in diesem Mix aus Thriller, historischem Kriminalroman, Kriegsdrama und Romanze durch bildhafte Erzählweise, düstere Atmosphäre, feine Figurenzeichnungen, ein Held im Noir-Stil und exotische Settings. Episch!

Andreas Pflüger – Wie sterben geht
Mit einer großen Vorliebe für Spionagegeschichten waren meine Erwartungen sehr hoch und wurden noch übertroffen. Nina Winter, eigentlich eine Schreibtischagentin, begibt sich Anfang der Achtzigerjahre auf ein Himmelfahrtskommando als Verbindungsoffizierin nach Moskau. Wir sind live dabei, wenn Winter in einem Intensivkurs lernt, wie man tote Briefkästen anlegt, Verfolger abschüttelt oder sich in Moskau unauffällig verhält, z.B. wie jeder Russe ins Leere zu blicken, um nicht als Westlerin erkannt zu werden. Vom ersten Satz des Thrillers entwickelt Pflüger ein mitreißendes Kopfkino, wenn der spektakuläre Agentenaustausch auf der Glienicker Brücke maximal schief läuft. „Wie sterben geht“ hat alles was ein guter Thriller braucht. Einen spannungs- und actionreichen Plot, eine lyrisch verdichtete Sprache mit lakonischen Dialogen, ambivalente Figuren und eine Heldin, mit der man mitzittert. Das Besondere ist der zeithistorische Kontext. Die Bedrohungsszenarien des Kalten Krieges sind jederzeit spürbar. Recherche-Junkie Pflüger war schon mitten in der Arbeit an diesem Thriller, als 2022 Russland die Ukraine überfiel und er überlegte, abzubrechen. Gottseidank hat er es nicht getan. Perfekt!

Robert Harris – Vaterland
Zum Ende des Jahres noch ein älterer Thriller, den ich im Rahmen unseres Themenspecials „Alternativweltgeschichten“ entdeckte. In dem Debüt des englischen Autors von 1992 hat Deutschland den Krieg gewonnen. Es ist mittlerweile 1964 und Xaver March, ein Berliner Kriminalkommissar und SS-Obersturmbannführer soll den Tod eines ehemaligen hochrangigen Parteifunktionärs aufklären. Als weitere Ex-Parteibonzen zu Tode kommen, die Gestapo den Fall, mit der offensichtlichen Absicht etwas zu vertuschen, an sich reißt, ermittelt March heimlich unter Lebensgefahr weiter. Mit Hilfe einer amerikanischen Journalistin verfolgt er eine Spur nach Zürich und deckt eine gefährliche Wahrheit auf. Harris beeindruckt mit einem überzeugenden Bild eines authentisch anmutenden, düsteren Nachkriegsdeutschlands, in der tatsächliche Geschichte und Fiktion geschickt zusammengefügt werden. Ein unheilvolles Gedankenspiel, rasant und spannend in Form eines Polizeiromans erzählt. Bestimmt nicht mein letztes Buch von Robert Harris, von dem ich noch nichts gelesen hatte. Beklemmend!

Gunnars Top 3 in 2023

Traditionell nehme ich ja nur Neuerscheinungen aus dem ausgelaufenen Jahr in meine Jahresbestenliste auf. Dabei fiel mir auf, dass ich dieses Jahr etwas zurückhaltend mit der Höchstnote war. Erst im November habe eine 5,0 vergeben und war mir mit Andy da sowas von einig, dass der Roman das Jahreshighlight war (und damit waren wir nicht allein). Neben den gleich genannten Titeln mochte ich außerdem sehr: „Alles schweigt“ von Jordan Harper, „Zeit der Schuld“ von Deepti Kapoor, „Fünf Winter“ von James Kestrel, „Seventeen“ von John Brownlow und „Antoniusfeuer“ von Monika Geier. Aber nun meine Top 3:

Andreas Pflüger – Wie sterben geht
Andy hat oben ja schon ausführlich Lobeshymnen verbreitet. Dem kann ich mich einfach nur anschließen. Ein ziemlich perfekter Spannungsroman mit Spionage, Verrat, Täuschung, Liebe, Loyalität, 80er, Kalter Krieg, Moskau, Berlin. Dazu wie immer ein auch literarisch gut aufgelegter Autor, der uns zudem bei seiner Lesung Anfang November in Dortmund mit äußerst interessanten Anekdoten rund um sein Buch zu unterhalten wusste. Es ist ja fast schon unheimlich, wie ausnahmslos der Roman von Bloggern und Kritikern gefeiert wird. Aber völlig zurecht. Der Thriller des Jahres!

Percival Everett – Die Bäume
Eine Plotidee, an der man sich eigentlich nur verheben kann. Percival Everett aber gelingt das Unmögliche. Er schreibt einen politisch-satirischen Zombie-Horror-Krimi-Mix, der gleichzeitig urkomisch ist und bei dem einem andererseits das Grinsen aber sofort wieder erstirbt. Der Plot in aller Kürze: In Money, Mississippi, werden White-Trash-Männer ermordet, die familiär im Zusammenhang mit rassistischen Tätern aus der Vergangenheit stehen. Neben den Leichen wird zudem die Leiche eines jungen, schwarzen Mannes gefunden, die verdächtig nach Emmett Till aussieht, ein vor 60 Jahren gelynchter Schwarzer. Doch diese Leiche verschwindet kurz darauf wieder spurlos – die Untoten gehen um in Money! Herrlich, wie Everett die ewig gestrigen Rednecks, den KKK und andere Rassisten hier durch den Kakao zieht und bestürzend, wie er das Augenmerk nochmal auf all die Opfer von Rassismus und Hass lenkt. Aberwitzig, aber grandios!

Joe Wilkins – Der Stein fällt, wenn ich sterbe
Um das Genre „Country Noir“ ist es in Deutschland nach einem Hype von einigen Jahren inzwischen etwas ruhiger geworden. Dass es aber immer noch herausragende Romane aus diesem Genre gibt, beweist für mich in diesem Jahr Joe Wilkins mit diesem Roman, der im Osten Montanas spielt. Wir begleiten Wendell, einen jungen Mann, der allein in seinem Trailer lebt und sich nun um den siebenjährigen Sohn seiner inhaftierten Cousine kümmern soll. Wendell ist außerdem der Sohn von Verl, einem Redneck, der vor fast zwanzig Jahren einen Ranger erschoss, in die Berge floh und seitdem als vermisst gilt. Auf ihn berufen sich nun wieder einige Aufrührer und bereiten sich auf einen gewaltsamen Widerstand gegen den Staat vor. Wilkins nimmt sich sehr viel Zeit für Figuren, Setting und Stimmungen und lässt das Ganze dann in einem Höhepunkt kulminieren. Ein Roman, dem ich mehr Aufmerksamkeit gegönnt hätte. Eindringlich!

Weiterlesen I: Die Preisträger des Deutschen Krimipreises 2023

Weiterlesen II: Die Krimijahresbestenliste 2023

Robert Harris | Vaterland

Robert Harris | Vaterland

Im Fokus der Handlung steht Xaver March, Mordermittler der Berliner Kriminalpolizei. Er wird 1964 zu einem Mordfall gerufen. Die in der Havel in der Nähe des Grunewalds aufgefundene Leiche eines alten Mannes wird später als Josef Bühler identifiziert, ein ehemaliger Staatssekretär des Innenministeriums.

In Robert Harris‘ Alternativweltroman hat Deutschland den Krieg gewonnen. Das Großdeutsche Reich existiert weiterhin und reicht vom Rhein bis zum Ural. Polen und große Teile der Sowjetunion existieren nicht mehr, doch an den ostdeutschen Landesgrenzen toben Partisanenkriege. Die Russen führen mit Hilfe der USA einen erbitterten Zermürbungskrieg gegen die Deutschen, den das Deutsche Reich nicht gewinnen kann. Wir schreiben das Jahr 1964 und stehen kurz vor dem 75. Geburtstag des Führers. Nur zu gerne möchte Hitler den Kalten Krieg mit den USA beenden. Mit Präsident Joseph P. Kennedy wird erstmals ein amerikanischer Regierungschef zum Staatsbesuch erwartet. Vor diesem Hintergrund kommt das gewaltsame Ableben eines ehemaligen hochrangigen Parteifunktionärs höchst ungelegen und bedarf sofortiger Aufklärung.

Pralinen aus Zürich
SS-Obersturmbannführer March hat grade erst mit den kriminaltechnischen Untersuchungen zum Tode Bühlers angefangen, als er durch die Gestapo unter der Leitung von Odilo Globocnik, genannt Globus, von dem Fall abgezogen wird. Xaver March ist ein aufrichtiger, nahe am Genreklischee gebauter ganz klassischer Polizist. Als Kriminaler ist er ein brillanter Detektiv, aber auch ein gebrochener Charakter. Er ist geschieden und leidet als Kriegsveteran unter den Kriegstraumata als U-Bootfahrer. Sein im Nationalsozialismus bei der Ex-Frau aufgewachsener Sohn verachtet ihn immer mehr, da er den Hitlergruß verweigert und auch bisher nicht in die Partei eintreten will, wobei er sich jeden beruflichen Aufstieg verbaut. Als er feststellt, dass die Gestapo die Zuständigkeit an dem Mordfall an sich reißt, um irgendetwas zu vertuschen, ermittelt er heimlich und unter Lebensgefahr weiter. Neben der ehemaligen Politgröße Bühler kommen in einer Folge von Unfällen und Morden nacheinander weitere Ex-Parteibonzen ums Leben. Allen Opfern waren Pralinenschachteln aus Zürich zugestellt worden. March erhält überraschend Unterstützung durch Arthur Nebe, dem Chef der Kriminalpolizei, der ihn beauftragt, den Morden unter dem Radar nachzugehen.

„Menschenrechte?“ „Die Tausenden von Andersdenkenden, die ihr in Lager gesperrt habt. Die Millionen Juden, die im Krieg verschwunden sind. Die Folter. Das Morden. Tut mir leid, davon zu sprechen, aber wir haben die spießige Vorstellung, dass menschliche Wesen Rechte haben. Wo haben Sie denn die letzten zwanzig Jahre verbracht?“ (Auszug Seite 137/138)

Mithilfe der deutsch-amerikanischen Journalistin Charlotte „Charlie“ Maguire, die als Berliner Vertreterin für eine amerikanischen Nachrichtenagentur arbeitet, stößt March auf ein in den Kriegsjahren eröffnetes Schließfach in einer Züricher Bank. Zusammen mit Charlie macht er sich auf nach Zürich. Hier entdecken sie jedoch nur ein im Krieg verschollenes Gemälde, „Dame mit dem Hermelin“ von Leonardo da Vinci. Waren die NSDAP-Veteranen in ein großes Netzwerk von Kunsträubern verwickelt? March entdeckt, dass die Morde mit einem viel weitreichenderen Geheimnis zusammenhängen, das zwei Jahrzehnte zurückliegt und bis in die höchsten Kreise der nationalsozialistischen Führung hineinreicht.  Alle Opfer waren Teilnehmer der Wannseekonferenz, wo 1942 die „Endlösung“ operativ geplant wurde. March lässt nicht locker und ist dazu bereit, sich selbst zu opfern, um die Wahrheit ans Licht zu bringen.

Berlin der Gigantomanie
Der englische Autor beeindruckt in seinem Debüt von 1992 mit einem überzeugendem Bild eines authentisch anmutenden, düsteren Nachkriegsdeutschlands, in dem der architektonische Wahnsinn realistisch beschrieben wird. Durch eine Stadtrundfahrt am Anfang der Handlung erscheint das fiktive Berlin dieser Zeit sehr plastisch vor dem inneren Auge. Es ist eine 10-Millionen-Metropole, in der die von Albert Speer geplanten monströsen Monumentalbauten im Stile der Welthauptstadt Germania tatsächlich verwirklicht worden sind, u.a. die alles dominierende Große Halle, die als größtes Gebäude der Welt gilt, der riesige Triumphbogen, um ein Vielfaches größer als der Pariser, während der Champs Élysée gegen die Siegesstraße eher wie eine Passage wirkt. Das Regime herrscht im Deutschen Reich mit eiserner Hand, sämtliche Lebensbereiche sind dem Nationalsozialismus untergeordnet und Andersdenkende werden nicht geduldet. Eine gleichgeschaltete Gesellschaft ohne Individualismus.

In Form eines Polizeiromans bedient Harris sich einer rasanten und ausdrucksstarken Erzählweise. Ein beklemmendes Gedankenspiel, welches durchgehend spannend ist, mit bis zum Ende hin zahlreichen Wendungen, die durchaus überraschen. Ein Großteil der im Roman vorkommenden Dokumente sind authentisch und schwer zu ertragen. Die Gegenspieler wie der menschenverachtende SS-Obergruppenführer Odilo Globocnik, der schwer durchschaubare Arthur Nebe oder Josef Bühler haben im Gegensatz zu March einen realen Hintergrund, die biografischen Angaben sind bis 1942 zutreffend. Eine düstere Vision, in der tatsächliche Geschichte und Fiktion geschickt zusammengefügt wurden, die mich von der ersten Seite gefesselt und bis zum bitteren Schluss sehr beeindruckt hat.

Im Nachwort berichtet Harris, dass der Roman zunächst nicht auf Deutsch veröffentlicht werden konnte, weil kein Verlag es wollte.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Die aktuelle Taschenbuchausgabe erschien am 13.03.2017 im Heyne Verlag
ISBN 978-3-4534-2171-4
448 Seiten | 12,00 €
Originaltitel: Fatherland | Übersetzung aus dem Englischen von Hanswilhelm Haefs
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Diese Rezension erscheint im Rahmen des Genrespezials Alternativweltgeschichten.

Laurent Binet | Eroberung

Laurent Binet | Eroberung

Nein, Alternativweltromane gibt es nicht nur mit Nazis. Auch wenn das manchmal so aussieht, denn das NS-Regime bietet natürlich allerhand faszinierende Denkspiele, wie wohl die Geschichte des 20.Jahrhunderts anders verlaufen wäre. Aber es gibt auch andere historische Romane mit postfaktischem Plotansatz. Einen besonders interessanten Ansatz hat der französische Autor Laurent Binet gewählt. Binet ist Historiker und Dozent und wurde international erstmals durch seinen Roman „HHhH“ bekannt, für den er unter anderem mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde. Thema darin: Das Attentat auf Reinhard Heydrich 1942 in Prag. Bereits sein zweiter in Deutsche übersetzte Roman, „Die siebte Sprachfunktion“ spielt mit alternativen historischen Abläufen. In seinem zuletzt veröffentlichten Roman „Eroberung“ hat er erneut eine Alternativweltgeschichte verfasst und geht dazu einige Jahrhunderte zurück.

Binet beginnt den Roman mit einer Reise der Wikingerin Freydis, einer Tochter von Erik dem Roten über die bekannten Anlegeplätze der Wikinger in Kanada hinaus nach Süden. Die Wikinger vermischen sich mit den einheimischen Stämmen, bringen das Eisenschmieden nach Amerika und die Ureinwohner bilden irgendwann Antikörper gegen die Viren, die die Wikinger aus Europa mitbringen. Jahrhunderte später wird Kolumbus nach Amerika segeln und nicht zurückkehren, Amerika bleibt für Europa ein so gut wie dunkler Fleck auf den Landkarten. Schließlich kommt es um das Jahr 1530 zum einem Machtkampf zwischen zwei Brüdern im Inkareich. Der unterlegene Bruder Atahualpa flüchtet mit seinem letzten verbliebenem Hofstaat zunächst nach Kuba und von dort macht er sich 1531 auf gen Europa.

Was dann passiert, dazu möchte ich an dieser Stelle gar nicht mehr groß spoilern. Allerdings stoßen die Inkas in eine sehr wilde Zeit, Kaiser Karl V. des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation und König von Spanien bekriegt sich mit dem französischen König Franz I., die Reformation Luthers sorgt für unklare Machtverhältnisse und Glaubenskriege, die heilige Inquisition verfolgt gnadenlos Un- und Andersgläubige und die Türken unter Süleyman I. bedrohen das Habsburgerreich. In dieses fragile, komplexe System stoßen nur die Inkas mit wenigen Mann, nicht mit allen europäischen Erfindungen vertraut, aber clever, wissbegierig, in macht- und militärtaktischen Dingen den Europäern überlegen und mit einer Menge Gold und Silber in der Heimat in der Hinterhand. Wie die Inkas in diese politisch komplexe Lage hineinstoßen und den europäischen Kontinent quasi „erobern“, davon erzählt Binet mit viel Lust und Spaß an einer historischen Alternativerzählung.

Doch die Geschichte lehrt uns, dass wenige Ereignisse es der Mühe wert erachten, sich rechtzeitig anzukündigen, darunter manche, die sich jeglicher Vorhersage entziehen, und dass letztendlich die allermeisten sich damit begnügen, einfach einzutreten. (Auszug S.104)

Dabei gliedert Binet den Roman in vier Teile. Drei kürzere, nämlich zunächst die Saga von Freydis Eriksdottir, danach Fragmente aus dem Tagebuch von Christoph Kolumbus und zuletzt Cervantes Abenteuer. Als dritten und mit Abstand größten Teil fungieren die Atahualpa-Chroniken. Dabei ist das wörtlich zu nehmen, ein allwissender Erzählern berichtet als Chronist von Atahualpa und seinen als Quiteños bezeichneten Inka. Der Stil ist demnach auch eher nüchtern, chronistisch, weitgehend ohne Dialog. Dadurch verzichtet Binet auf eine allzu große Tiefe bei den Hauptfiguren, diese bleiben nur wenig mehr als oberflächlich skizziert. Es gelingt andererseits aber auch, diese wahnwitzige Geschichte auf unter 400 Seiten zu erzählen.

Und dies war für mich als Leser zumeist sehr unterhaltsam und vermutlich hatte auch der Autor großen Spaß. Ein bißchen Hintergrundwissen sollte vorhanden sein, aber dann kann man den Einfallsreichtum des Autors genießen, der den Inkaherrscher sich über die Religion des Angenagelten Gottes wundern lässt, ihm sehr schnell die Schriften eines gewissen Macchiavelli zukommen lässt, ihn mit einigen interessanten Persönlichkeiten der Zeit zusammenbringt (wie etwa einem ziemlich abstoßend antisemitischen Luther) oder einen Briefwechsel zwischen Thomas Morus und Erasmus von Rotterdam fingiert. Dabei betreibt er ein wenig prä-koloniale Studien und zeigt auf, wie sehr die Eroberer aus Südamerika (bei aller Härte und allem Machtanspruch) den Europäern in der Organisation und Schaffung der Prosperität eines Staatswesens überlegen waren. Laurent Binet gelingt trotz ein paar Schwächen ein wirklich unterhaltsames Werk, das aus dem Subgenre auf jeden Fall heraussticht.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Eroberung | Die Taschenbuchausgabe erschien 2022 im Rowohlt Verlag
ISBN 978-3-499-00346-2
384 Seiten | 14,- €
Originaltitel: Civilations | Übersetzung aus dem Französischen von Kristian Wachinger
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Diese Rezension erscheint im Rahmen des Genrespezials Alternativweltgeschichten.

Len Deighton | SS-GB

Len Deighton | SS-GB

Eine sehr hohe Zahl von Alternativweltgeschichten kreist um die Nationalsozialisten. Insbesondere ist bei vielen Autoren die Ausgangsposition beliebt, dass die Nazis den 2. Weltkrieg gewonnen haben. Der britische Autor Len Deighton lässt seinen 1978 erschienenen Roman „SS-GB“ Ende 1941 spielen. Seine Prämisse: Nazi-Deutschland hat Großbritannien besiegt und den Südteil besetzt, mit der Sowjetunion herrscht Frieden. Winston Churchill wurde exekutiert, der König ist im Tower interniert. Es existiert eine Exilregierung in den USA, die jedoch von den Amerikanern nicht anerkannt wird.

Auch Scotland Yard wird nun von einem Deutschen geführt, SS-Gruppenführer Kellermann. Dieser hat die alten Strukturen der Behörde aber weitgehend beibehalten. Douglas Archer ist Detective Superintendent und damit ranghöchster Kriminalbeamter. Archer ist trotz seines mittleren Alters schon eine Legende aufgrund der Aufklärung einiger spektakulärer Mordfälle in den vergangenen Jahren. Auch Kellermann hält große Stücke auf Archer, der sich um die unpolitischen Kriminalfälle und die Fälle, in denen keine Deutschen involviert sind, kümmert. Zusammen mit seinem Kollegen und väterlichem Freund Harry Woods wird Archer zu einem Mordfall an einem Antiquitätenhändler gerufen. Ein Mord im Schwarzmarktmilieu ist nicht ungewöhnlich, doch die Begleitumstände machen Archer stutzig. Eine seltsame Zugfahrkarte, ungewöhnliche Brandwunden am Opfer, eine amerikanische Journalistin, die plötzlich mitten bei den Mordermittlungen als angebliche Kundin auftaucht. Zur Bestätigung, dass es sich um etwas Großes handelt, kommt am nächsten Tag dann auch SS-Standartenführer Huth aus Berlin auf, der direkt Himmler unterstellt ist und den Fall übernimmt, aber Archer als Ermittler behält. Nach und nach wird klar, mit was der vermeintliche Antiquitätenhändler zu tun hatte und das bringt Archer in eine gefährliche Lage zwischen SS, Wehrmacht und Widerstand.

Autor Len Deighton wurde 1929 als Sohn eines Chauffeurs und eine Köchin geboren, arbeitete nach dem zweiten Weltkrieg für die Royal Air Force und konnte nach seiner Dienstzeit mit einem Stipendium studieren. Er arbeitete u.a. als Fotograf und Illustrator, bis er 1962 seinen Durchbruch mit „The Ipcress File“ hatte. Neben Spionageromanen, Thrillern und kriegshistorischen Romanen veröffentlichte er auch Kochbücher. „SS-GB“ verbindet mehrere seiner bevorzugten Sujets mit einem alternativen Geschichtsverlauf und wurde 1978 veröffentlicht. 2017 zeigte die BBC eine Miniserie nach dem Roman mit Sam Riley, Kate Bosworth und Lars Eidinger in den Hauptrollen.

Huth wirbelte mit seinem Stock durch die Luft, „Jede Zuwiderhandlung gegen diesen Befehl“, sagte er, „ist nicht nur ein Kapitelverbrechen gemäß § 134 der Militärgesetze des Oberkommandos Großbritannien, das vor dem Erschießungskommando endet, sondern auch ein Kapitalverbrechen gemäß § 11 Ihrer eigenen Gesetze, im Einvernehmen mit der deutschen Besatzung erlassen 1941, das mit dem Galgen im Wandsworth-Gefängnis bestraft wird.“
„Kommt das Erschießen zuerst oder das Erhängen?“, fragte Douglas.
„Wir müssen der Justiz ja schließlich auch noch eine Entscheidung überlassen“, entgegnete Huth. (Auszug S.79)

Solche spitzfindig-zynischen Dialoge finden sich zwar ein paar im Roman, für meinen Geschmack aber noch zu wenige. Len Deighton verliert sich regelmäßig in langen ausführlichen Beschreibungen von Nebensächlichkeiten, ohne auf den Punkt zu kommen. Die Grundidee des Plots ist auf jeden Fall spannend. Die schwierige Entscheidung zwischen Dienst nach Vorschrift (Kollaboration) und Widerstand, Täuschung und Verrat spielen eine wichtige Rolle im Roman. Auch interessant ist das sehr schwierige Verhältnis zwischen Wehrmacht und SS bei den Deutschen.

Das gehört zu den Stärken des Romans, der mich dennoch nicht ganz überzeugt hat. Und dies liegt vor allen an den Hauptfiguren, die (ausgenommen die Deutschen) ziemlich blass bleiben. Douglas Archer wirkt wie ein Mann ohne Eigenschaften. Witwer mit einem jungen Sohn, erfolgreicher, angesehener Polizist. Aber wofür er steht, was bewegt ihn, seine Konflikte zwischen Kollaboration und Widerstand – das gelingt dem Autor nicht aus der Figur herauszubringen. Auch sein „Love Interest“, die Journalistin Barbara Braga, bleibt für den Leser undurchsichtig und in ihrem Beitrag für die Handlung überschaubar. So bleibt „SS-GB“ für mich eine gute Idee mit einem interessanten Plotrahmen, dem es jedoch an einigen Details für einen richtig guten Roman mangelt.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

SS-GB | Erstmals erschienen 1978
Die aktuelle Taschenbuchausgabe erschien 2017 im Heyne Verlag
ISBN 978-3-453-43931-3
446 Seiten | 9,99 €
Originaltitel: SS-GB | Übersetzung aus dem Engischen von Kurt Wagenseil und Ursula Pommer
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Diese Rezension erscheint im Rahmen des Genrespezials Alternativweltgeschichten.