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Jahreshighlights 2022

Jahreshighlights 2022

Andys Top 3 in 2022

 

Ich liebe es, am Ende des Jahres einen Blick zurückzuwerfen und zu schauen, was habe ich gelesen, was hat mir gefallen, was nicht so. Obwohl es genauso viele Besprechungen wie vergangenes Jahr waren, hätten es noch mehr sein können, hätten mir Netflix und Amazon Prime nicht dazwischen gegrätscht. Aber die sieben Staffeln Bosch wollten halt auch gesehen werden. Viele gute Bücher, einige Abbrüche und drei Mal die Höchstwertung, Bücher, die mir auch nach der Lektüre lange im Gedächtnis bleiben werden. Und hier sind meine Top 3 des Jahres 2022 (Link in der Überschrift führt zur ausführlichen Rezension):

Elizabeth Wetmore | Wir sind dieser Staub

Elizabeth Wetmores Debüt führt uns ins ländliche Texas der 70er Jahre, ein raues Setting, in dem Männer auf Ölfeldern arbeiten und Frauen zusehen müssen, wie sie ohne jede Perspektive auf Veränderung klarkommen. Es geht brutal und sexistisch zu. Als eine minderjährige Mexikanerin in einem kleinen Kaff brutal vergewaltigt wird, kann sie sich am anderen Morgen schwer misshandelt und mehr tot als lebendig durch die unwirtliche Wüste zu einer Ranch flüchten. Die hochschwangere Besitzerin hilft ihr, wird danach von allen schikaniert und zieht traumatisiert in die Stadt. Fernab von allen Genreschubladen erkundet Wetmore eine trostlose Landschaft, die vom Ölboom bestimmt wird, empathisch erkundigt sie die Menschen, erzählt aus der Perspektive verschiedener Frauen und ihrem hilflosen Ausgeliefertsein, aber auch vom erstmaligen Aufbegehren gegen den Sexismus und Rassismus. Der poetische aber auch drastische Sprachstil hat mich mitgerissen und ich kann diesen großartigen, eindrücklichen Roman unbedingt empfehlen.

Don Winslow | City on Fire

Der erste Teil einer geplanten Trilogie ist eine nostalgische Reise in die 80er. Es geht um einen Bandenkrieg zwischen der italienischen Mafia und dem irischen Mob in Winslows Heimatstadt Providence. Wegen einer schönen Frau bekommt die fragile Koexistenz der beiden Familienclans Risse und löst eine Lawine der Gewalt aus. Der kluge, umsichtige Danny Ryan, Hauptfigur in Winslows neuem Thriller, der schon lange davon träumt, das Business zu verlassen, muss widerwillig das Zepter übernehmen. Wie Danny vom Handlanger zum Anführer aufsteigt, ist tempo- und wendungsreich mit großer visueller Sogkraft erzählt. Eine gut konstruierte, ganz klassische Geschichte, in der Macht, Loyalität, Familie, Freundschaft und Verrat eine große Rolle spielen. Inspiration holte Winslow sich bei den großen Klassikern, denn City on Fire ist auch Epos und Drama. Ein Thriller, wie er sein muss, ein Pageturner im besten Sinne, extremspannend, emotional mit ambivalenten Helden. Dieses Jahr konnte ich den charismatischen Ausnahmeschriftsteller auch bei einer Lesung kennen lernen. Deshalb hoffe ich, dass die Trilogie nicht wie geplant, das Ende seiner Karriere einläutet.

Rumaan Alam | Inmitten der Nacht

Eine ganz typische New Yorker Familie des weißen Mittelstandes hat ein luxuriöses, allerdings ziemlich abgelegenes Ferienhaus auf Long Island gemietet, um mit den beiden pubertierenden Kindern eine unbeschwerte Woche zu verbringen. Die Idylle wird schon in der ersten Nacht gestört, als ein älteres, schwarzes Ehepaar um Einlass bittet. Sie stellen sich als die Besitzer des Domizils vor und erzählen von einem großflächigen Blackout in New York. Aus dieser Ausgangssituation entwickelt sich ein immer bedrohlicher werdendes Szenario. Unaufhaltsam verdichten sich die Hinweise darauf, dass sich eine Katastrophe unbekannten Ausmaßes ereignet hat. Die anspruchsvolle Lektüre hat mich von der ersten Seite mitgenommen und nicht mehr losgelassen. Das lag zum einen an der Sprachgewalt des Autors, der genüsslich jedoch mit feinem Humor seine Figuren seziert und ihre Charaktere und teilweise irrationalen Verhaltensweisen ambivalent aber durchaus menschlich zeichnet. Zum anderen wird durch die dystopischen Andeutungen eine permanent unterschwellige Spannung generiert. Für mich eine verstörende Lesereise, die mich gefesselt hat und sich schwer einem bestimmten Genre zuordnen lässt. Ein Psycho- und Katastrophenthriller, Kammerspiel und Sozialsatire, in dem der Autor wie nebenbei soziale Themen wie Klimawandel, Alltagsrassismus und Konsumgesellschaft einbindet.

 

Gunnars Top 3 in 2022

 

82 Bücher mit knapp 30.000 Seiten habe ich in 2022 gelesen, sagt zumindest meine Goodreads-Statistik. Die große Mehrzahl waren natürlich Krimis, dabei habe ich viele ordentliche und gute Krimis gelesen, mit Höchstnoten war ich aber sparsam. Bei den älteren Krimis war mein absolutes Highlight „Wahrheit“ von Peter Temple. Bei den aktuellen Titeln hätte ich zusätzlich ebenfalls wie Andy auf Don Winslows „City on Fire“ verwiesen, sehr stark finde auch meine aktuelle Lektüre: Attica Locke mit „Pleasantville“. Aber letztlich habe ich mich für diese drei Titel entscheiden:

Oliver Bottini | Einmal noch sterben

„Curveball“ war der legendäre Informant des BND, der den USA den Vorwand für den Irakkrieg lieferte. Wie sich später herausstellte, waren die Information falsch. Was aber, wenn dem BND (und den Amerikanern) das durchaus bewusst war? Oliver Bottini ist der Meister des deutschen Politthrillers und liefert hier ein realistisches Szenario unter der Prämisse, dass Curveball bewusst als falsche Quelle aufgebaut wurde und das Ganze von einer geheimen Gruppe, einem Staat im Staate, gedeckt und zur Not auch gegen offizielle Ermittler der deutschen Sicherheitsbehörden verteidigt wird. Ein faszinierender und zugleich beklemmender Plot, gepaart mit Bottinis üblichem literarischem Anspruch.

Garry Disher | Stunde der Flut

Was wäre ein Rückblick auf meine Jahreshighlights ohne Garry Disher? Ich durfte den sympathischen, bodenständigen Australier im Herbst beim Krimifestival „Mord am Hellweg“ auch live erleben. Als Krimiautor spielt er weltweit in der absolut obersten Liga mit und das mit einer eindrucksvollen Konstanz. „Stunde der Flut“ ist diesmal ein Stand-Alone mit dem suspendierten Polizistin Charlie Deravin, der immer noch dem Verschwinden seiner Mutter von vor zwanzig Jahren nachspürt. Eine sehr komplizierte Familiensituation, denn Hauptverdächtiger ist nach wie vor sein eigener Vater, was Charlie allerdings nicht glaubt. Der Plot hat noch weitere Stränge, es geht um toxische Männlichkeit damals wie heute und wie immer bringt Disher alles gewohnt routiniert auf den Punkt zusammen. Ich hatte es schon in der ausführlichen Besprechung erwähnt: Garry Disher bleibt Goldstandard der Kriminalliteratur.

Ann-Helén Laestadius | Das Leuchten der Rentiere

Ein Roman, der für mein Empfinden noch mehr Aufmerksamkeit verdient gehabt hätte. Den deutschen Titel hat der Verlag möglicherweise mit einem Hintergedanken auf „Der Gesang der Flusskrebse“ gewählt. Dieser Titel war für mich echt enttäuschend, aber bei den Rentieren war ich wirklich begeistert. Im Zentrum steht die Sámi Elsa, ihre Familie betreibt die traditionelle Rentierwirtschaft. Als Neunjährige beobachtet sie einen Wilderer, der sie bedroht, sodass sie über den Vorfall schweigt. Zehn Jahre später als junge Erwachsene findet Elsa endlich den Mut, ihr Schweigen zu durchbrechen, und bringt sich damit in starke Gefahr. Der Roman handelt von Fragen der Identität, von Zukunftsängsten der Samen, von der Ignoranz und dem Rassismus der schwedischen Mehrheitsgesellschaft, aber auch von den internen Problemen der samischen Gemeinschaft. Er verbindet sehr eindrucksvoll verschiedene Elemente wie Familiendrama, Gesellschaftsroman und Krimi. Ein echtes Jahreshighlight.

 

Weiterlesen I: Die Gewinner des Deutschen Krimipreises 2022

Weiterlesen II: Die Jahres-Top Ten 2022 der Jury der Krimibestenliste

Rezensions-Doppel: Jacob Ross | Die Knochenleser & Cherie Jones | Wie die einarmige Schwester das Haus fegt

Rezensions-Doppel: Jacob Ross | Die Knochenleser & Cherie Jones | Wie die einarmige Schwester das Haus fegt

Die Literatur der Karibik ist hierzulande für viele Leser*innen sicherlich oft ein ziemlich unbeschriebenes Blatt. Auch im Krimigenre fiele mir, außer Leonardo Padura aus Kuba und Gary Victor aus Haiti nicht allzu viel ein. Dabei bieten die karibischen Inseln aufgrund der kolonialen Vergangenheit (und teilweise Gegenwart), das Aufeinanderprallen verschiedener politischen Systeme, Hautfarben und Klassengegensätzen genug Material für Spannungsliteratur. In der jüngsten Zeit haben es gleich zwei Autor*innen aus der Region in die Krimibestenliste geschafft: Jacob Ross, geboren auf Grenada, und Cherie Jones aus Barbados. Beide operieren mit fiktiven Namen für ihre Schauplätze, die Gegebenheiten sind aber dennoch mit ihrer Heimat stark verbunden. Was beide Romane vor allem verbindet ist die Marginalisierung von Frauen. Zeit für eine Doppelrezension.

Jacob Ross | Die Knochenleser

Michael „Digger“ Digson lebt auf der Karibikinsel Camaho in den Tag hinein. Als er Zeuge eines Verbrechens wird, kommt er in Kontakt mit Detective Superintendent Chilman, einem der höchsten Polizisten des Landes. Chilman rekrutiert Digger mehr unter Zwang als freiwillig für den Polizeidienst, lässt ihn später zum Forensiker ausbilden. Doch Digger hat noch eine eigene Agenda: Als er noch ein Kind war, verschwand seine Mutter spurlos. Sie nahm teil an einer Demonstration von Frauen aufgrund des brutalen Mordes und Vergewaltigung eines Schulmädchens. Die Polizei ließ die Demonstration gewaltsam auflösen, es gab einen Schießbefehl. Seitdem fehlt von seiner Mutter jede Spur.

Die Arbeit in der kleinen Einheit der Kriminalpolizei ist eher schwierig und hemdsärmelig. Moderne Polizeiarbeit hält erst langsam Einzug. Zudem verfolgt der Chef Chilman auch seine eigenen Pläne. Eines Tages stößt Miss Stanislaus zur Truppe, eine junge, etwas exzentrische, aber sehr fähige Frau. Sie bringt das Gleichgewicht der männlichen Führungspersonen erheblich durcheinander. Gemeinsam mit Digger untersucht sie das Verschwinden weiterer Personen und stößt auf einen christlichen Baptistenkults mit dem einflussreichen Diakon Bello Hunt an der Spitze.

„Wieso denkst du, dass es ein Kerl ist?“, fragte Caran.
„Hast du je gehört, dass hier eine Frau eine andere Frau umgebracht hätte?“
Caran schüttelte den Kopf. (Auszug Seite 141)

Autor Jacob Ross hat zwar den Schauplatz seines Romanes mit dem fiktiven Namen „Camaho“ anonymisiert, die Beschreibungen und geschichtlichen Andeutungen weisen jedoch stark auf seine Heimatinsel Grenada hin, eine Insel der kleinen Antillen, bekannt für seine Muskatnüsse. In der westlichen Wahrnehmung zuletzt präsent, als Ronald Reagan 1983 die politischen Entwicklungen auf der Insel nicht gefielen und er – gegen den Willen der Briten (Grenadas Staatsoberhaupt ist bis heute der britische Monarch) – Truppen entsendete. Ross zeichnet ein Bild einer sehr ungleichen Gesellschaft mit viel Armut und einem immer noch übermächtigen männlichen Einfluss. Gewalt gegen Frauen in vielerlei Formen bildet ein großes gesellschaftliches Problem.

Wer bei dem Titel „Die Knochenleser“ auf einen forensischen Thriller gehofft hatte, der wird ein wenig enttäuscht werden, denn die Forensik spielt nur eine Nebenrolle. Stattdessen geht es vielmehr um das gestörte Geschlechterverhältnis auf der Insel, auf der die Frauen immer noch weitgehend von Männern dominiert werden – bis hin zur Gewalt. Und diese Gewalt wird vom Staat dann auch oft genug nicht sanktioniert. Ein wenig kritisieren möchte ich den Plot, der vor allem bis zur Mitte des Buches mir etwas zu unfokussiert vorkam. Ansonsten ist der Roman aber auf jeden Fall lesenswert und bietet einen neuen, unverbrauchten Schauplatz und interessante Figuren für weitere Bände.

Cherie Jones | Wie die einarmige Schwester das Haus fegt

Das für den Außenstehenden paradiesische (fiktive) Baxter’s Beach auf Barbados im Jahr 1984: Stella, genannt Lala, ist hochschwanger, lebt mit ihrem kriminellen Ehemann Adan in einem schäbigen Häuschen über dem Strand. Als vorzeitig die Wehen losgehen, ist Adan nicht da. Lala irrt am Strand umher, klingelt schließlich bei einem herrschaftlichen Haus an der Dienstbotenpforte, um Hilfe zu erhalten. Doch es erscheint ihr Mann, der dort gerade einen Einbruch verübt hat und dabei den Hausbesitzer erschossen hat.

Diese Geschichte bildet den Ausgangspunkt für die unglückliche Geschichte von Lala, deren neugeborene Tochter nur wenige Wochen leben wird. Ihr Tod wird nochmals zusätzlich Aufmerksamkeit generieren. Aufmerksamkeit, die der gewalttätige und zunehmend rücksichtslose Adan überhaupt nicht gebrauchen, schließlich sucht die Polizei immer noch nach dem Einbrecher und Mörder. Was noch hinzukommt: Tone, ein Handlanger Adans und Lalas erste Liebe, will ihr helfen und nähert sich ihr wieder an.

Autorin Cherie Jones lebt auf Barbados und arbeitet dort auch als Anwältin. Sie gewann 1999 bereit einen Short Story-Preis, legte aber mit diesem Buch erst ihr Romandebüt vor. „How The One-Armed Sister Sweeps Her House“ stand direkt auf der Shortlist des „Woman’s Prize for Fiction“. Der ungewöhnliche Titel bezieht sich auf eine Geschichte, die Lalas Oma Wilma ihr erzählt, um dem Teenager zu beschwören, nicht auf die schiefe Bahn zu geraten.

Er drückt zu, und ihre Augen werden dunkel, verschleiern wie die Meeresoberfläche an einem regnerischen Tag, ein Meer, unter dessen Oberfläche sie weiter in die Stille sinkt. […] Lala denkt, wenn Sterben die ewige Achterbahn von Farbe bedeutet, den übermütigen Tanz auf Blau und Grün, Rot und Lila, dann könnte das Töten vielleicht ein Liebesdienst sein. (Auszug E-Book Pos. 3057)

Der Roman folgt nicht den Mustern eines klassischen Kriminalromans, sondern behandelt Verbrechen und Missstände eher im Gewand eines Gesellschaftsromans. Die Autorin schreibt in einem poetischen Ton vom harten Leben in Barbados, von reichen Männern, die sich Geliebte und deren Kinder halten, von sexuellem Missbrauch, Gewalt gegen und Unterdrückung von Frauen und von Frauen, die sich mangels Alternativen mehr oder weniger prostituieren. Dabei wechselt die Autorin immer wieder in die Vergangenheit, um Hintergründe zu erläutern, und auch die Perspektiven. Dies ist für meinen Geschmack hier aber nicht optimal gelungen, mehreren Personen wird Raum gegeben, ohne dass dies den Roman wirklich bereichert. Was für mich als Leser zudem schwierig ist: Mangels Kenntnis über die aktuellen Gegebenheiten vor Ort, tue ich mich schwer mit der Einordnung des Romans, der ja weitgehend Mitte der 1980er spielt. Dennoch ist er literarisch sicherlich interessant für Leser*innen, die die europäische Komfortzone verlassen wollen.

 

Die Knochenleser | Erschienen am 11.04.2022 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-47236-1
376 Seiten | 15,95 €
Originaltitel: The Bone Readers | Übersetzung aus dem karibischen Englisch von Karin Diemerling
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3,5 von 5
Genre: Gesellschaftskritischer Krimi

 

Wie die einarmige Schwester das Haus fegt | Erscheinen am 05.09.2022 bei Culturbooks
ISBN: 978-3-95988-185-2;
328 Seiten | 25,- €
Originaltitel: How The One-Armed Sister Sweeps Her House | Übersetzung aus dem Englischen von Karen Gerwig
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3 von 5
Gesellschaftskritischer Krimi

Lućia Puenzo | Die man nicht sieht

Lućia Puenzo | Die man nicht sieht

Die folgende Choreographie war genau festgelegt und immer die gleiche: Die Schuhe ließen sie vorne am Eingang stehen. In der Küche schnappte sich Enana ein Messer, inspizierte den Kühlschrank, nahm alle Leckerbissen von denen sie essen durften, heraus und machte sich daran, von allem feine Scheiben abzusäbeln. Immer nur genau so viel, dass nicht nachzuvollziehen war, wo sie genascht hatten, aber genug, um sich satt zu essen. (Auszug E-Book S.8)

Ismael, Enana und Ayo sind drei argentinische Waisen, die auf der Straße leben und als Diebe über die Runden kommen. Der 15jährige Ismael ist der mißtrauische Kopf der drei, die 12jährige Enana die Furchtlose, Abenteuerlustige und ihr 6jähriger Halbbruder Ayo der Kletterspezalist, der in alle Häuser reinkommt. Doch die drei sind längst nicht so selbstbestimmt, wie sie zwischendurch selber glauben. Die meisten Aufträge erhalten sie vom Ex-Cop und Security-Mann Guida, der sie auf bestimmte Objekte ansetzt, bei denen er die Schwachstellen kennt. Dann steigt Ayo ein und öffnet die Türen für Enana und Ismael. Der Trick bei den Raubzügen: Die drei stehlen nicht viel, es bisschen Schmuck, Geld, vielleich Kleidung. So wenig, dass es den Eigentümern erst später auffällt und dann zuerst die Hausangestellten unter Verdacht geraten.

Guida behandelt sie meist gut, hat ein Auge auf sie, sorgt dafür, dass die Polizei sich nicht für sie interessiert. Doch bei ihm stehen knallharte Interessen im Vordergrund, die drei sind sein Kapital. Ein Kapital, dass man auch lukrativ veräußern kann. Doch die Kinder sollen nicht verschreckt werden, sodass er ihnen einen lukrativen Ferienjob in Uruguay verspricht, den sie schließlich auch annehmen. Es winkt gutes Geld und die Aussicht auf den Ozean. Sie werden über den Rio de la Plata verfrachtet und in ein exklusives, weitläufiges Villengelände. Ihre Auftraggeber erwarten, dass sie in einer Woche die neun Häuser auf dem Gelände ausräumen und sich zwischendurch immer wieder in das bewaldete, unwegsame Dickicht auf dem Areal zurückziehen. Langsam reift vor allem in Ismael die Erkenntnis, dass sie nur als Mittel zum Zweck für etwas ganz anderes ausgenutzt werden sollen.

Die Autorin Lućia Puenzo ist in ihrer argentinischen Heimat (nicht nur dort) vor allem eine bekannte und erfolgreiche Filmemacherin. Dies wird auch in diesem schmale Roman deutlich, der zwar einerseits sehr handlungsgetrieben und temporeich ist, andererseits aber durch interessante Perspektivwechsel verschiedene Figuren, wenn auch nur kurz, näher ans Geschehen holt und die Figuren dem Leser etwas näher bringt. Es erlaubt einen Einblick in die scharfen Ungleichheiten der argentinischen und uruguayischen Gesellschaften. Dass die Geschichte von Ismael, Enana und Ayo kein gutes Ende nehmen wird, scheint von Beginn an unausweichlich. Doch die Kinder sind zäh und mutig und durchkreuzen die für sie bestimmmten Pläne.

Das geschulterte Gewehr und die Metallschneide des Messers im Rucksack konnten das ungute Gefühl, das ihn begleitete, seit die Männer mit dem Pick-up ihnen ihre Aufgabe erklärt hatten, kaum abmildern: Dieser Auftrag war eine Nummer zu groß für sie, es konnte nicht gut gehen. Es würde nicht gut gehen. […] Das jedoch verwandelte den Auftrag in etwas ganz anderes: in einen Opfergang. (Auszug E-Book S.61)

„Die man nicht sieht“ ist vieles auf sehr wenigen Seiten, ein fast atemloser Thriller in Echtzeit, ein Noir über das Schicksal, wenn andere über anderer Leben bestimmen und ein gesellschaftskritischer Roman über die Ungleichheit und die Schwachen und Unmündigen, die gnadenlos verheizt werden. Trotz der Kürze des Werks werden auch die Personen angemessen beleuchtet und dienen nicht nur als Staffage. Insgesamt ein anregendes und aufwühlendes Werk.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Die man nicht sieht | Erschienen als Taschenbuch am 12.03.2020 im Verlag Klaus Wagenbach
ISBN 978-3-8031-2824-9
208 Seiten | 13,- €
als E-Book: ISBN 978-3-8031-4239-9 | 10,99 €
Originaltitel: Los invisibles (Übersetzung aus dem argentinischen Spanisch von Anja Lutter)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Melba Escobar | Die Kosmetikerin

Melba Escobar | Die Kosmetikerin

Ich hasse alles, was diese nicht biologisch abbaubaren Frauen mit ihren gezupften Augenbrauen repräsentieren. Ich hasse ihre schrillen, gekünstelten Stimmen, als wären sie vierjährige Püppchen, kleine Drogenbaron-Schlampen, die wie ein Phallus in den Körper einer Frau gezwängt sind. Alles ist so verworren, diese Macho-Kind-Frauen verstören mich, sie deprimieren mich, bei ihrem Anblick muss ich daran denken, was alles kaputt und faul ist in diesem Land, in dem der Wert von Frauen an der Größe ihres Hinterns, der Form ihrer Brüste und ihrer Wespentaille gemessen wird. (Auszug Seite 7/8)

Mit der Hoffnung auf ein besseres Leben zieht die alleinerziehende Karen aus der Provinz in die Hauptstadt Kolumbiens. In Bogotá findet sie einen Job in einem renommierten Kosmetikinstitut in einem mondänen Viertel. Im ‚Haus der Schönheit‘ lässt sich die weibliche Oberschicht behandeln und vertraut Karen ungewollt alle möglichen Geheimnisse an. Sie spart ihr Geld um schnellstmöglich ihren vierjährigen Sohn nachzuholen, den sie in der Obhut ihrer Mutter in der Hafenstadt Cartagena gelassen hat.

Haus der Schönheit
Eines Tages behandelt sie die minderjährige Schülerin Sabrina Guzmán, die sich, offensichtlich angetrunken für ein bevorstehendes Date mit einem älteren Mann verschönern lassen möchte. Als Karen erfährt, dass das Mädchen am nächsten Morgen tot aufgefunden wurde, ist sie geschockt und kann an einen vermuteten Selbstmord nicht glauben. Auch die verzweifelten Eltern lassen nichts unversucht, um herauszufinden, was in den letzten Stunden ihrer Tochter geschah. Sabrinas Mutter besucht Karen sogar im Salon, denn die war die letzte, die das Mädchen lebend gesehen hat. Doch Karen hat selbst genug Probleme, die ihr Leben in einen Abwärtsstrudel verwandeln. Sie findet eines Tages ihre Wohnung ausgeraubt vor, auch ihre gesamten Ersparnisse unter der Matratze sind weg. Sie wird von ihrem Vermieter brutal vergewaltigt und dann von dessen Ehefrau aus der Wohnung geworfen. Aus der Not heraus beginnt sie nebenher als Prostituierte zu arbeiten und gerät dadurch ständig in gefahrvolle Situationen. Die traumatischen Erfahrungen und ihr Nebenjob als Callgirl werfen sie aus der Bahn und sie gerät ahnungslos in den Dunstkreis der an dem Tod des Schulmädchens Beteiligten. Der Täter verfügt über ein einflussreiches Netzwerk aus politischen und kriminellen Akteuren und damit gerät Karen in Gefahr.

Eine ihrer Kundinnen ist die 57-jährige Psychoanalytikerin Claire. Sie lebte viele Jahre in Paris und ist jetzt nach der Trennung von ihrem Ehemann in die Stadt zurückgekehrt, die sie eigentlich verabscheut und in der sie sich immer fremd fühlt. Regelmäßig besucht sie den Schönheits-Salon, allerdings mit ambivalenten Gefühlen. Eigentlich misstraut sie den zementierten Klassenschranken, auch wenn sie als gebildete Frau ein Teil davon ist, und verachtet die Arroganz der Schickeria. Von der attraktiven Karen und ihrer Ausstrahlung ist sie aber fasziniert. Als sie bemerkt, dass die schöne Mulattin sich verändert, will sie ihr helfen und schreibt ihre tragische Geschichte auf.

Ambitioniert und anstrengend
Ich muss zugeben, dass es mir der Roman sehr schwer gemacht hat. Das lag zum einen an den ständig wechselnden Erzählperspektiven. Größtenteils erzählt Claire Karens Geschichte, zwischendurch aber auch ihre Freundin Lucía, teilweise wird auch schon mal mitten im Text die Perspektive ohne einen Hinweis gewechselt. Auch die großen Handlungssprünge machten mir das Lesen sehr anstrengend und dämpften den Lesefluss. Ich hatte ständig das Gefühl etwas verpasst zu haben und war irgendwann des Zurückblätterns müde. Die tote Schülerin spielt anders als nach dem Lesen des Klappentextes vermutet, nur am Rande eine Rolle.

Vielmehr geht es der Autorin in ihrem multiperspektivisch erzählten Roman neben dem Aufzeigen der wirtschaftlichen Ungleichheiten um den allgegenwärtigen Machismo. Wie ein Kriminalroman inszeniert, ist ‚Die Kosmetikerin‘ doch eher ein Sittenbild der Gesellschaft. Dabei stehen mal nicht die Kartelle oder die Kämpfe der Drogenbarone im Fokus. Escobar zeigt deutlich, dass Kolumbien auch jenseits des Drogenhandels von mächtigen Clans beherrscht wird, dass diese mafiösen Strukturen sich zudem in den besseren Kreisen sowie in der politischen Elite ausbreiten und Sexismus und Korruption an der Tagesordnung sind.

Exemplarisch für die gesellschaftlichen Schichten steht der Kosmetiksalon, in dem reiche privilegierte Damen und arme Angestellte aufeinander treffen. Die Frauen, die sich hier behandeln lassen, unterwerfen sich den gängigen Schönheitsidealen. Sie haben ihre Rolle in der patriarchalen Macho-Kultur scheinbar akzeptiert und lassen ihren Frust an Frauen in schwächeren Positionen aus.

Escobar schreibt sehr ambitioniert mit einigen fast philosophischen Sätzen über die Zustände in Bogotá. Viele schonungslose Passagen werden mit einem großen Hang zur Brutalität geschildert, die mir an die Nieren gingen. Ich fand es an vielen Stellen sehr aufwühlend, aber aufgrund der verwirrenden Erzählweise nicht mitreißend genug, viel zu düster und deprimierend.

‚Die Kosmetikerin‘ ist der vierte Roman der kolumbianischen Schriftstellerin und Journalistin Melba Escobar. ‚La casa de la belleza‘ wurde 2016 als bester Roman mit dem kolumbianischen Premio Nacional de Novela ausgezeichnet.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Die Kosmetikerin | Das TB erschien am 09. September 2019 im Heyne Verlag
ISBN 978-3-4534-2336-7
320 Seiten | 9,99 Euro
Originaltitel: La casa de la belleza (Übersetzung aus dem Spanischen von Sybille Martin)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Claudia Piñeiro | Die Donnerstagswitwen

Claudia Piñeiro | Die Donnerstagswitwen

Etwa 50 Kilometer außerhalb von Buenos Aires liegt Altos de la Cascada, eine Gated Community mit schicken Anwesen, Golf- und Tennisplatz und einem großen Zaun drumherum. Ein Refigium der oberen Mittelklasse, die sich hier in den profitablen 1990er Jahren hier eingerichtet haben. Die argentinische Wirtschaftskrise beginnt sich zwar zu entwickeln, was viele aber nicht wahrhaben wollen. Somit ist man mit weiterhin vorwiegend damit beschäftigt, den Schein zu wahren und den eigenen Wohlstand zur Schau zu stellen.

Sie wollten lieber eine Mauer, das hält nicht bloß fremden Menschen fern, man ist auch von außen nicht mehr zu sehen. Und wir brauchen auch nicht mehr zu sehen, was draußen los ist. (Auszug S. 95)

Viele Familien sind in La Cascada miteinander befreundet, zumindest tut man so. Regelmäßig verbringen die Männer der Familien Scaglia, Insúa, Urovich und Guevara den Donnerstagabend miteinander. Die Frauen nennen sich scherzhaft „Donnerstagswitwen“. Eines Donnerstags, den 27. September 2001, ist Maria Virginia Guevara überrascht, beim Heimkommen ihren Mann Ronie schon zu Hause vorzufinden. Er verhält sich auch seltsam und bricht sich kurz darauf bei einem Sturz auf der Terrasse das Bein. Erst im Krankenhaus erfahren die Guevaras die schreckliche Nachricht: Tano Scaglia, Gustavo Insúa und Martín Urovich sind im Pool der Scaglias bei einem Stromunfall ums Leben gekommen. Doch der Leser wird direkt auf ein paar seltsame Begleitumstände hingewiesen. Rückblickend wird nun die Geschichte der Familien in La Cascada erzählt und letztlich die Hintergründe dieses tragischen Abends aufgedeckt.

Autorin Claudia Piñeiro zählt heute zu den erfolgreichsten argentinischen Autoren. Sie ist studierte Wirtschaftswissenschaftlerin und arbeitete vor ihrer schriftstellerischen Karriere als Rechnungsprüferin. Piñeiro schreibt auch Kinder- und Jugendbücher, arbeitet als Regisseurin und beim Theater. Ihr Debütroman „Ganz die Deine“ erschien 2003. Oftmals sind ihre gesellschaftskritischen, dramatischen Romane in eine Kriminalgeschichte eingebettet. 2005 erschien „Las viudas des los jueves“ und gewann mit dem Premio Clarín einen der wichtigsten argentinischen Literaturpreise. 2009 verfilmte Marcelo Piñeyro den Roman fürs Kino.

„La Cascada“ ist eine sogenannte Gated Community, eine dieser Siedlung der Reichen und Aufstrebenden, oft in Ländern mit starkem Wohlstandsgefälle, in denen man versucht, genau dieses Gefälle auszublenden. Hinzu kommt in diesem Falle, dass die aufsteigende Wirtschaftskrise in Argentinien genau diesen Lebensstandard bedroht. Claudia Piñeiro wirft einen sehr scharfen Blick auf die Bewohner und entlarvt die ganzen Lebenslügen und anderen Dramen, die sich unter der Oberfläche des schönen Scheins abspielen. Machismo, Gewalt in der Ehe, Alkoholismus, Untreue, Rassismus, Antisemitismus und andere Vorurteile schwelen teilweise im Verborgenen, teilweise werden sie aber nur verdrängt. Die Probleme des Lebens will man in La Cascada lieber nicht mit den Nachbarn teilen, aber oft auch nicht mit dem Ehepartner. Man kehrt lieber unter den Teppich, heuchelt, will nichts von Problemen anderer hören und wahrt den Schein. Und legt sich innerhalb der Mauern merkwürdig undemokratische Verhaltensregeln auf.

Piñeiro legt in diesen Roman eine gehörige Portion Gesellschaftskritik mit einer Generation des Aufschwungs, die aber in Zeiten der Krise nur Egoismus und Eskapismus kennt. Ein zynisches Porträt einer Nachbarschaftsclique auf Talfahrt, die schließlich mit drei Toten enden wird. Dabei bedient sie sich auch stilistisch eines interessanten Kniffs. Sie schreibt zum einen aus der Ich-Perspektive von Maria Virginia Guevara, die angefangen hat, als Maklerin zu arbeiten und damit eine der wenigen Frauen ist, die es noch nötig haben zu arbeiten. Sie ist auch der wenigen, die ein wenig mehr hinterfragt und eine gewisse kritische Distanz bewahrt. Zum anderen wird aus der personalen Perspektive erzählt, ungewöhnlicherweise mit einem Plural-Wir. Damit gibt Piñeiro quasi der Gemeinschaft eine Stimme, erzählt von der allgemeinen Wahrnehmung in La Cascada, aber auch von Heimlichkeiten und Gerüchten.

[…] nach dieser Geschichte also soll sie an den Rand des zuletzt erwähnten Hefteintrags geschrieben haben: „Kann man wirklich mit jemandem befreundet sein, den man über seine Brieftasche kennengelernt hat?“ Worauf sie sich selbst, am Fuß derselben Seite, als Antwort notiert habe: „Alles Elend nimmt seinen Weg über die Brieftasche.“ (Auszug S.65).

Man könnte zuletzt natürlich die Frage aufwerfen, ob das hier überhaupt ein Krimi ist, aber die Frage ist müßig. Claudia Piñeiro bedient sich hier selbstverständlich der Elemente des Genres, zudem beantwortet sie ganz der Spannungstradition folgend, die Frage nach der Vorgängen an jenem Donnerstagabend erst ganz zum Schluss. Dazwischen ist dieses Buch ein überzeugender Gesellschaftsroman mit präziser Sprache, zynisch-ironischem Unterton und scharfem Blick auf die Figuren. Sie porträtiert auf beiläufige, aber fesselnde Art eine Gesellschaftsschicht voller Heuchelei und Dekadenz auf dem Weg in den eigenen Untergang. Ein überzeugender Roman.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Die Donnerstagswitwen | Erschienen 2010 im Unionsverlag
Aktuelle Taschenbuchausgabe: ISBN 978-3-293-20568-0
320 Seiten | 13,95 €
Originaltitel: Las viudas de los jueves (Übersetzung aus dem Spanischen von Peter Kultzen)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Rezension von Gunnar zu Claudia Piñeiros „Der Privatsekretär