Simone Buchholz | Blaue Nacht
„Früher war ich oft im Polizeipräsidium. Heute vermeide ich es, hier zu sein. Weil ich dann das Gefühl habe, angeguckt zu werden. Mein Leben ist so was von schlingerig geworden, im Vergleich dazu war ich vor ein paar Jahren nahezu geradlinig unterwegs, obwohl ich schon damals das Gefühl nicht losgeworden bin, permanent aus der Kurve zu rutschen.“ (Auszug aus Blaue Nacht)
Die hier ihren Zustand beschreibt, ist Staatsanwältin Chastity Riley, die beim letzten ihrer eigenwilligen Einsätze überzogen hat. Unerlaubter Schusswaffengebrauch, einem miesen Typen nicht ins Bein, sondern in die Kronjuwelen geschossen. Und den eigenen Chef der Korruption überführt. Jetzt hat man sie zur Opferschutzbeauftragten gemacht, aus dem Verkehr gezogen und in ein Büro verfrachtet, das eher eine Abstellkammer ist bei den Kollegen von den Drogen.
An Opfern mangelt es nicht in einer Stadt wie Hamburg, Rileys aktueller Schutzbefohlener wird gleich im Prolog des Romans übel zugerichtet, brutal zusammengeschlagen und verstümmelt. Die Gewaltorgie wird aus Sicht des Opfers geschildert, nüchtern, lakonisch, technisch, fast wie eine schaurige Choreografie, an deren Ende ein Mann auf dem Pflaster liegen bleibt, in dessen Körper kaum mehr ein Knochen heil ist und dem ein Zeigefinger fehlt.
Jetzt wird er im Krankenhaus bewacht und Riley versucht, etwas über den rätselhaften, verschwiegenen Kerl herauszufinden, und natürlich ermittelt sie in dem Fall, was ihr eigentlich untersagt ist. Aber sie will nicht nur Händchenhalten, sie will wissen, wer und warum ihren Klienten halb tot geprügelt hat. Dabei erhält sie Unterstützung von ihren alten Kollegen, vor allem dem Faller und dem Calabretti sowie einigen anderen Freunden, wie Carla und Rocco, die ein Café zu einem Tagesrestaurant ausgebaut haben und Klatsche, Betreiber der Blauen Nacht, einer Kneipe, die es tatsächlich gibt auf St.Pauli,, eine eingeschworene Gemeinschaft, die einander bedingungslos unterstützt, fast eine Familie, die den Lesern der vorhergehenden Bände von Simone Buchholz um die toughe Staatsanwältin bereits vertraut ist.
Alle Mitglieder der Clique haben natürlich ihre ganz persönlichen Probleme und alle schleppen den Rucksack einer persönlichen Entwicklung mit sich, die durchweg auch nicht ohne Brüche verlaufen ist. Wer hier erste Bekanntschaft mit den Figuren macht, erfährt in Rückblenden, die 1982 beginnen und sich der Gegenwart langsam annähern nach und nach immer mehr Details zu ihrem Werdegang. Auch der Lebensweg von Joe wird auf diese Art nachgezeichnet, so jedenfalls nennt sich der Österreicher, dem die Opferbetreuerin bei ihren Krankenbesuchen mühsam immer mehr kleine Hinweise zu seiner undurchschaubaren Person entlockt. Zweifellos hat er Verbindungen zum kriminellen Milieu, offenbar auch in die Drogenszene.
In diese Richtung streckt also Riley ihre Fühler aus, und schon bald steht das Gespenst des „Albaners“ im Raum, der Schatten von Gjergj Malaj, dem „größten Stinktier der ganzen Stadt“, der seit Jahren den Ermittlern immer wieder entwischt ist und inzwischen zur Hamburger Society gehört. Offiziell hat er sich selbst aus dem operativen Geschäft zurückgezogen, aber nun scheint er noch einmal einen Riesendeal einzufädeln, ein ganz mieses Ding. Der Faller wittert die Chance, den verhassten Gangsterboss doch noch zu erwischen und startet seinen eigenen Feldzug.
Riley geht gezwungenermaßen andere Wege und erhält dabei Unterstützung von unerwarteter Seite. So weit die recht knappe Krimihandlung, die bestenfalls die Hälfte der Geschichte ausmacht, von Simone Buchholz durchgehend aus Sicht der unbotmäßigen Riley geschildert, die wir begleiten bei ihren professionellen Bemühungen, den Fall um den rätselhaften Joe und seine Rolle in einem sich abzeichnenden Bandenkrieg auf dem Kiez und wir folgen ihr auf eben diesen Kiez, wo sich ihr Privatleben in der entsprechenden Szene abspielt. Berufliche Probleme und persönliche Schwierigkeiten spielen im Roman eine gleichberechtigte Rolle, ihre Beschreibung wechselt sich ab und wird eins.
Auf beiden Ebenen lässt uns Riley teilhaben an ihren Gedanken, Gefühlen, Stimmungen, sehr direkt, unverstellt, selbstbewusst. Das stellt sich dar in einer Sprache, die einerseits ruppig ist, rau, die auch einmal auf Kraftausdrücke und Flüche zurückgreift, ohne wirklich unappetitlich zu werden, die Szenegeplapper, Kiezjargon und einen gewissermaßen eigenen Slang vermischt, um sich in dieser Umgebung zu positionieren und seine Zugehörigkeit zu demonstrieren. Die Sprache ist zum Teil ganz und gar verknappt, es genügen auch mal Halbsätze, unvollendete Statements, Andeutungen, das reicht, man versteht sich.
Im nächsten Moment kenn der Plauderton umschlagen in gefühlvolle, ja gefühlsduselige Stimmung, tröstlich, poetisch, melancholisch und mitunter sehr witzig. Was da an Sprüchen geklopft wird, an Binsenweisheiten offenbart und an Küchenphilosophie verkündet, das ist schon großer Spaß. Blaue Nacht ist mir in einer Leseprobe aufgefallen, und da hat mir diese unkonventionelle, frische, freche Ausdrucksweise ausgesprochen gut gefallen, die ersten Kapitel lesen sich denn auch leicht und locker, heiter, unbeschwert, allerdings auch unbelastet von Krimi-Elementen.
Die treten dann irgendwann hinzu, es bahnt sich eine ernste, erschütternde Geschichte aus dem Drogenmilieu an. Der Ton ändert sich aber nicht, die Protagonisten kaspern weiter, Riley redet jederzeit und mit jedermann in ihrer saloppen, aber stets aufgesetzten, manierierten Art, und die anderen Figuren tun es ihr gleich. So lange man dieses Gebaren nicht ernst nimmt, funktioniert es gut, aber genau das ist offenbar der Ansatz von Simone Buchholz, und das nervt ehrlich gesagt nach siebzig, achtzig Seiten, nach denen sich nicht nur sprachlich allmählich Monotonie einstellt, sondern der Plot auch inhaltlich mehr und mehr auf der Stelle tritt, ein Fall eigentlich gar nicht mehr vorhanden ist.
Was eine Zeit lang unterhält, amüsiert und interessiert, beginnt irgendwann zu langweilen, wird ärgerlich und nervt durch Wiederholung. Was wirklich zum Lachen war, wird lächerlich, die Originalität, weil unbedingt gewollt, wirkt nur noch verkrampft, weil sie übers Ziel hinaus schießt. Die relativ übersichtliche Krimihandlung bietet wenig Überraschendes, und auch das Privatleben der Handelnden und ihre Beziehungen zu- und untereinander spielt sich bald im gewohnten, Alltäglichen ab. Dazu gehört, dass in einer Tour gesoffen und gequalmt wird, auf gefühlt jeder zweiten Seite hat Riley eine Pulle Astra in der Hand und schüttelt eine Lucky’s aus der Schachtel.
Kann sein, dass so ein Ritual das St. Pauli-Bild verstärken soll, wie auch die allgegenwärtigen Möwen, die jedes Mal um jeden Akteur kreisen, sobald der einen Fuß vor die Kneipentür setzt. Das mag ja durchaus dazugehören, wie durchsoffene Nächte in klebrigen Kaschemmen und schneller Sex in schmuddeligen Kellern, aber das allein macht den Kiez sicher nicht aus. Und so fesselnd sind die immer gleichen Gespräche und Gebärden, das Getue und Gehabe denn doch nicht, dass sie Spannung erzeugen oder neugierig machen auf das Ende des lediglich 235 Seiten schmalen Büchleins. Tolle Sätze sind toll, aber sie machen noch keinen tollen Roman.
Und schließlich scheint Simone Buchholz selbst die Lust und die Geduld zu verlieren, die Geschichte ist längst vor ihrem schwachen Schluss angekommen, irgendwelche Entwicklungen oder überraschende Wendungen gibt es nicht mehr, also wird noch einmal ordentlich geklotzt. Mit großem Getöse spitzt sich die Geschichte auf einen finalen Knalleffekt zu und folgerichtig, aber recht unwahrscheinlich bringt die Autorin ihren Roman auf wenigen doch noch spannenden Seiten zu einem raschen Ende. An und für sich auch ein perfekter Schluss für die gesamte Reihe, ich jedenfalls verabschiede mich von Chastity Riley.
Rezension und Foto von Kurt Schäfer.
Blaue Nacht | Erschienen am 7. März 2016 bei Suhrkamp
ISBN 978-3-518-46662-9
238 Seiten | 14,99 Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe
0 Replies to “Simone Buchholz | Blaue Nacht”
Sehr schöne Rezension, vor allem „Tolle Sätze sind toll, aber sie machen noch keinen tollen Roman“. Das Buch liegt schon hier, ich bin gespannt ob sich das bewahrheitet.
Kurts Rezension gefällt mir auch sehr gut. Vor allem find ich es mal erfrischend, dass es eine Gegenmeinung zum allgemeinen Lob gibt.
Besonders der Ausdruck „unbelastet von Krimi-Elementen“ ist mir grade ins Auge gestochen. Schon ein starker Satz, wenn man einen Krimi liest und doch irgendwie positiv. Ich hab ja gerade erst „Revolverherz“ gelesen und wenn ich der Reihe chronologisch folgen will, wird es wohl noch ein wenig dauern, bis ich einen Vergleich ziehen kann. Aber auch ich finde es erfrischend, mal eine andere Meinung zu hören und nicht nur Lobgesang. Ich vermute jetzt mal, dass vielen die Figuren ans Herz gewachsen sind und sie über eine mager gehaltene Krimihandlung und den Sprachstil wegsehen oder das gar nicht beachten. Wobei ich ja hoffe, dass professionelle Kolumnisten da einen differenzierteren Blick haben und die haben ja auch alle durchweg ein positives Bild… egal, jedenfalls schön, eine andere Meinung zu lesen und dann noch so schön geschrieben. Danke!