Abgehakt | Juni 2019
Unsere Kurzrezensionen zum 2. Quartalsende 2019
Petra Reski | Mafia. 100 Seiten
Die Mafia ist sicherlich die bekannteste kriminelle Organisation der Welt. Inzwischen hat der Begriff „Mafia“ sogar popkulturellen Status: Bücher, Filme, Videospiele, Mafiamusik, sogar eine Gastronomiekette. Doch dahinter verblasst ein wenig die Realität: Gewalt, Drogenhandel, Korruption, Mord. Für die Reihe 100 Seiten des Reclam Verlags versucht die in der Thematik bekannte Journalistin und Autorin Petra Reski mit allerlei Mythen rund um die Mafia aufzuräumen.
Die 100 Seiten werden keineswegs sachbuchartig mit Tabellen oder Grafiken gefüllt, sondern Reski schreibt in mehreren Beiträgen über Aufbau, Vergangenheit und Gegenwart der Mafia. Dabei legt sie einen besonderen Fokus auf Deutschland, das ja gern immer nur als Rückzugsraum und nicht als Operationsraum der Mafia bezeichnet wird. Diesen Beschwichtigern sagt Reski:
„Mehr als ein Jahrzehnt nach dem Mafiamassaker von Duisburg ist Deutschland für die Mafia immer noch das Paradies auf Erden: Die Mafia will nicht auffallen und die Deutschen wollen die Mafia nicht sehen. Eine Win-Win-Situation.“ (Seite 67)
Insgesamt muss man schon konstatieren, dass die Thematik in einem so begrenzten Format nur schwer unterzubringen ist. Ein wenig Stirnrunzeln musste ich, als die Autorin mehrere Bücher, Filme und Serien in Zusammenhang zu Folklore und Propaganda setzt. Aber alles in allem sicherlich eine lesenswerte Zusammenstellung.
Mafia.100 Seiten | Erschienen am 28. August 2018 im Reclam Verlag
ISBN 978-3-15-020525-9
100 Seiten | 10.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe
Genre: True Crime
Wertung: 3.0 von 5.0
Jules Grant | Die Nacht ist unser Haus
Donna und Carla sind beste Freundinnen, lesbisch und leiten eine Frauengang in Manchesters rauer Unterwelt. Als Carla die Frau eines konkurrienden Gangleaders abschleppt, eskaliert die Situation. Carla wird in einem Club erschossen und hinterlässt ihre zehnjährige Tochter Aurora. Donna muss nun für Aurora sorgen und ihre Gang retten. Und natürlich sinnt sie auf Rache für Carlas Tod.
Frauen als Gangleader ist gerade ein wenig en vogue in der Kriminalliteratur (z.B. bei „Lola“ von Melissa Scrivner Love oder „River of Violence“ von Tess Sharpe). Autorin Jules Grant treibt es in diesem Roman sogar noch auf die Spitze und führt hier eine Frauengang aus lauter Lesben ein. Die Frauen haben dabei eine nette Marktlücke entdeckt: Liquid Ecstasy in Parfümflaschen. Was mich dabei aber etwas gelangweilt hat: Im Grunde verhalten sich die Ladys die meiste Zeit nicht viel anders als irgendwelche Typen – sie saufen, vögeln und prollen rum.
Ungewöhnlich und durchaus ein Pluspunkt ist die Erzählstimme. Sowohl Donna als auch Aurora (seltener) führen als Ich-Erzähler durch das Buch – schnoddrig, vorlaut und manchmal auch etwas ordinär. Auf der Rückseite prangt eine Empfehlung von Simone Buchholz („Hart und zart zugleich“). Selber schuld, wer darauf hereinfällt, mag man sagen, aber die Deutsche Krimi Preis-Trägerin ist natürlich eine Koryphäe. Und tatsächlich bemüht sich die Autorin, aber das Ergebnis vermag mich letztlich nicht so richtig zu überzeugen. Sie haut manchmal sehr auf den Putz, aber vieles ist zu vorhersehbar, zu klischeehaft und leider auch nur bedingt authentisch. Schade drum.
Die Nacht ist unser Haus | Erschienen am 11.03.2019 im Heyne Verlag
ISBN 978-3-453-43915-3
352 Seiten | 9.99 Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe
Genre: Gangsterroman
Wertung: 2.5 von 5.0
Judith Arendt | Helle und der Tote im Tivoli
Helle Jespers hat einen beschaulichen Dienst als Chefin der Polizeidienststelle in Skagen an der Nordspitze Jütlands. Da trifft die Nachricht ein, dass der pensionierte Direktor des örtlichen Gymnasiums brutal ermordet in Kopenhagen aufgefunden wurde. Das Motiv bleibt zunächst unklar, eventuell Kindesmissbrauch? Dies bestätigt sich, als ein bekannter Päderast ebenfalls von gleichen Mörder umgebracht wird. Die Mordermittler aus Kopenhagen belächeln die Dorfpolizisten, doch Helle spürt, dass die Lösung des Falls in Skagen zu finden ist und lässt sich nicht aus den Ermittlungen drängen.
„Helle und der Tote im Tivoli“ ist der Auftakt zu einer Reihe um die sympathische dänische Kommissarin Helle Jespers. Dieser Roman versucht den Spagat zwischen „hyggeligem“ dänischen Krimi und einem Rachethriller aufgrund eines alten Falls von Kindesmissbrauch. Leider geschieht dies stilistisch ziemlich konventionell und mit dem Motiv des gestörten Opfers als Serienmörder auch etwas unoriginell. Ich gebe zu, dass der Ermittler als kaputtes Wrack auch nicht gerade kreativ ist, aber die Welt der Helle Jespers mit Haus in den Dünen, halbtags arbeitendem Wikinger-Ehemann, schwulem Teenagersohn und studierender, in einer Kiffer-WG wohnender Tochter war mir dann doch auch ein wenig zuviel der modernen heilen Welt. Und wenn der Familienhund an der Ergreifung des Täters mitwirkt und am Ende herzhaft in eine Zimtschnecke gebissen wird, dann finde ich das auch dem Thema nicht angemessen. Sagen wir es mal ganz neutral: Ich gehöre nicht zur Zielgruppe dieses Krimis.
Helle und der Tote im Tivoli | Erschienen am 15. September 2018 im Atlantik Verlag
ISBN 978-3-455-00271-3
288 Seiten | 16.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe
Genre: Krimi
Wertung: 2.0 von 5.0
Helon Habila | Öl auf Wasser
Nigeria: Das Delta des Niger wird von Ölkonzernen konsequent ausgebeutet. Die ansässige Bevölkerung wehrt sich zunehmend dagegen und gründet Rebellengruppen, die gegen die Regierung und die Ölmultis kämpfen. Ein bewährtes Mittel zur Finanzierung ist die Entführung von ausländischen Konzernmitarbeitern oder deren Angehörigen. Der junge Reporter Rufus und sein erfahrener Kollege Zaq wittern im Zusammenhang mit der Entführung einer Engländerin eine gute Story, zudem hat auch ihr Mann die beiden um Hilfe gebeten hat. Mit Hilfe von einheimischen Bootsführern dringen die Journalistin immer tiefer ins Delta vor und damit in eine undurchsichtige, umkämpfte und zunehmend geschundene Umgebung.
Öl auf Wasser erschien erstmals 2012 im Verlag Das Wunderhorn und gewann überraschend auch den Deutschen Krimipreis. Das Besondere am Roman ist sicherlich auch das Thema, über das man in Europa zumindest in fiktionaler Form nur selten liest: Die innerstaatlichen Konflikte im nigerianischen Nigerdelta vor dem Hintergrund der dortigen großflächigen Ölexploration ausländischer Konzerne mit erheblichen negativen Umwelteffekten. Was dieser Roman denn auch sehr gut beherrscht ist die Balance zwischen politischen und gesellschaftlichen Themen und den Stimmungen der Hauptpersonen. Der Autor verzichtet auf allzu plakativen moralischen Darstellungen, schildert vielmehr die Realitäten von Gewalt und Gegengewalt und vor allem der Zerstörung einer Lebensgrundlage für die dort lebenden Menschen.
Zu Beginn erinnert der Roman an Joseph Conrad Herz der Finsternis. Eine Fahrt auf einem kleinen Boot im Nigerdelta, ölverschmutzte Ufer, verlassene Dörfer, hell leuchtende Abgasfackeln. Erzählt wird aus der Perspektive von Rufus, allerdings nicht chronologisch, immer wieder werden Einschübe aus der Vergangenheit eingeschoben. Das macht den Roman etwas sperrig und lässt die Spannungskurve abflachen. Somit ist dieses Buch weniger etwas für Fans klassischer Krimis, sondern eher für literarisch anspruchsvollere Liebhaber hintergründiger Darstellungen. Ich fand es aber auf jeden Fall lesenswert.
Öl auf Wasser | Die Taschenbuchausgabe erschien am 28. Januar 2019 im Unionsverlag
ISBN 978-3-293-20829-2
256 Seiten | 12.95 Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe
Genre: gesellschaftskritischer Krimi
Wertung: 3.5 von 5.0
André Pilz | Der anatolische Panther
Der Kleinkriminelle und Dealer Tarik Celal ist auf Bewährung auf freiem Fuß, als bei ihm zu Hause Diebesgut gefunden wird. Er ist gezwungen, auf einen Deal einzugehen: Er soll sich in der Moschee und im Umfeld des islamischen Hasspredigers Abdelkader al-Anbari, genannt „Der Derwisch“, einschleichen und dort Beweismaterial sammeln. Doch als Tarik in die Moschee einbricht und Geld stiehlt, überschlagen sich die Ereignisse und er ist auf der Flucht vor der Polizei und dem Derwisch.
Autor André Pilz hat ein offenbar Faible für Underdogs. Tarik Celal war mal ein vielversprechender Jungprofi bei 1860 München. Aus der Karriere ist nichts geblieben außer dem Spitznamen. Inzwischen ein kleiner Gangster mit ebenso kriminellem Freundeskreis, aber dennoch ein Sympathieträger mit großem Herz. Rettungslos verliebt in die schöne Kubanerin Nteba, zu Hause sein schwer kranker Großvater, den er pflegt. Die Stimmung ständig himmelhauchjauchzend, zu Tode betrübt.
Rund um diese tolle Hauptfigur konstruierte Pilz eine spannende, thrillerhafte Story mit vielen aktuellen Bezügen und sehr cleveren gesellschaftlichen Einblicken. Von Multikulti und Vorurteilen, islamischen Extremisten und Terrorhysterie, von Heimat und Ausgrenzung. Sicherlich einer der besten deutschsprachigen Krimis zu diesem Thema.
Der anatolische Panther | Erschienen am 22. September 2016 im Haymon Verlag
ISBN 978-3-7099-7861-0
448 Seiten | 12.95 Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe
Genre: gesellschaftskritischer Krimi
Wertung: 4.5 von 5.0
Alle fünf Rezensionen und Fotos von Gunnar Wolters.
Weitere Kurzrezensionen findet ihr in der Rubrik Abgehakt.