Rezensions-Doppel: Saison der Wirbelstürme & Die Verschwundenen
Doppelrezension Mexiko
„Hoch in den Bergen erhebt sich der Adler auf silbernen Flügeln/Die Lieder der Indios/das Schweigen der Sierra/das Mondlicht auf den Hügeln“: Mexico mi amor – das Sehnsuchtsland deutscher Schlager. Rote Sonne, Sombreros, Latino-Frauen. Doch das Bild vom realem Mexiko sieht ein wenig anders aus. Heutzutage gilt das Land in Mittelamerika vielen als „failed state“, als ein Land, in der die Staatsmacht die Kontrolle längst verloren hat. In seinem Essay „Der rote Teppich“ beschreibt Juan Villoro die Machtausübung in Mexiko als „Gewerbe der Finsternis“, das „weder Transparenz noch Rechenschaftspflicht kennt“. In der ersten Dekade des neuen Jahrtausends „wurde Mexiko ein Land von Blut und Blei“, ohne dass der Staat die Drogenkartelle letztlich ernsthaft schwächen konnte. Korruption, Seilschaften und Gewalt gehören seit jeher zum mexikanischen Alltag. Villoro zitiert den Schriftsteller Martín Luis Guzmán: „Wer zuerst schießt, tötet zuerst. Denn die mexikanische Politik, eine Politik der Pistole, konjugiert nur ein Verb: früh aufstehen.“ In einem solchen Rahmen ist ein literarischer Blick auf die mexikanische Gesellschaft interessant. Dabei muss nicht zwangsläufig der Rahmen eines Kriminalromans gewählt werden. Fernanda Melchor, junge Autorin aus dem Bundesstaat Veracruz, schrieb mit Saison der Wirbelstürme einen wütenden, noiresken Gesellschaftsroman aus einem Dorf irgendwo im Nirgendwo. Antonio Ortuño, bereits etablierter Autor, in Deutschland vor allem durch seinen Roman Die Verbrannten, hingegen siedelt seinen Roman in der Millionenstadt Guadalajara an. Zeit für eine Doppelrezension.
Fernanda Melchor | Saison der Wirbelstürme
In La Matosa, einem fiktiven Kaff in der mexikanischen Provinz, wird im Schilf eines Bewässerungskanals eine Leiche gefunden. Es ist die „Hexe“, die berühmt-berüchtigte „Heilerin“ des Dorfes, gefürchtet, verachtet und doch umgarnt. Die „Hexe“ war ein Transvestit, lebte in einem abgeschotteten Haus, wurde von den Frauen wegen ihrer Geheimtränke, von den Männern wegen sexueller Ausschweifungen und berüchtigter Drogenpartys aufgesucht. Wer sie ermordete, ist eigentlich weniger interessant, vielmehr wollen viele wissen, was es mit dem Schatz auf sich hat, der angeblich in ihrem Haus versteckt sein soll.
Fick deine Mutter, zischte Luismi. Stell dich nicht blöd, spöttelte Munra, du weißt genau, wovon ich rede. So sind die Weiber, wenn sie einen festzurren wollen: Sie nehmen ein paar Tropfen von ihrem schmutzigen Blut und träufeln es dir heimlich ins Wasser oder in die Suppe oder schmieren dir einen Tropfen auf die Ferse, während du schläfst, und das reicht, um dich ganz vernarrt zu machen, so wie du es jetzt in die Norma bist, merkst du nicht? (Seite 81).
Der Roman beginnt mit dem Fund einer Leiche, doch ein Krimi wird sich daraus nicht entwickeln, obwohl der Leser am Ende auch die Mörder kennen wird. Vielmehr entwickelt Autorin Fernanda Melchor ein kraftvolles Statement, ein wütendes Porträt einer rohen, mitleidlosen Gesellschaft voller Armut, Gewalt und Vorurteile. Melchor stellt in den Kapiteln immer eine neue Person in der Mittelpunkt und berichtet aus ihrer Perspektive. Dabei tauchen weitere Figuren auf, die dann im nächsten Kapitel im Vordergrund stehen. So schält sich nach und nach ein Gesamtbild heraus.
Die Geschichten aus La Matosa handeln von äußerst präkeren Verhältnissen, von Eifersucht, Neid und Missgunst innerhalb der Familie, von herumhurenden Männern, vom Missbrauch von Minderjährigen, von Aberglauben, von Alkohol- und Drogenexzessen und Gewalt gegen Homosexuelle und Frauen. Sie sind immer sehr direkt und intim, teilweise obszön. Melchor erzählt die Geschichten in einem rasenden, atemlosen Ton; reiht Satz um Satz aneinander, ohne Absatz, mit einer Vielzahl an Kommas und Semikolons. Es entsteht dadurch eine Art Wutrede über die beschriebenen gesellschaftlichen Verhältnisse. Saison der Wirbelstürme ist ein Buch, der dem Leser einiges abfordert, bei dem man allerdings auch beeindruckt feststellt, dass man einen solchen Roman mit dieser Wucht nur selten liest.
Antonio Ortuño | Die Verschwundenen
Aurelio, genannt Yeyo, Blanco kommt aus dem Gefängnis frei, in dem er fünfzehn Jahre Haft abgesessen hat. Blanco war damals der Sündenbock, der als Buchhalter die Unregelmäßigkeiten bei einem Immobiliengeschäft für seinen Schwiegervater Don Carlos Flores auf sich genommen hat, um das Geschäft und das Wohl der Familie nicht zu gefährden. Seine Frau hat sich scheiden lassen, seine Tochter hat er zuletzt gesehen, als sie fünf Jahre alt war. Sein Anwalt warnt ihn, dass Flores ihn womöglich beseitigen will, wenn er frei kommt, um einen Mitwisser loszuwerden. Doch Blanco will seinen ihm zustehenden Anteil einfordern und begibt sich auf Konfrontationskurs.
„Ich brauche wieder deine Hilfe, mein Junge. Noch ein Mal. […] Wir haben dir Alicia gegeben, die wir mehr als alles auf der Welt lieben. Merkst du was? Es ist ein ewiges Geben und Nehmen. Wir sind eine Familie.“ Und Yeyo, der jeden Morgen mit dem Gefühl aufstand, er verdiene das gute, unbeschwerte, fantastische Leben, das er führte, eigentlich gar nicht, sagte Ja, bevor er wusste, was von ihm erwartet wurde. Sein Ja kostete ihn fünfzehn Jahre Gefängnis. (Seite 159)
Blanco ist eigentlich ein eher zurückgezogener, besonnener Mann, der als Kind auf dem Grundstück der Flores gewohnt hat und schon früh als Handlanger engagiert wurde. Später wurde er auch von der etwas älteren Alicia verführt. Er zeigt wenig eigenen Antrieb, lässt sich bereitwillig einspannen und ist schließlich derjenige, der in verschiedenen Situationen die Ehre der Familie retten soll und dies auch beinahe devot erfüllt. Selbst als er im Gefängnis geschieden wird und ihm seine Tochter vorenthalten wird, behält er eine gewisse Resthoffnung und legt sich sogar ein Enthaltsamkeitsgelübde auf, für das er von allen Seiten verspottet wird, wie er irgendwann feststellt. Doch sein Gefängnisaufenthalt endet etwas plötzlich kurz vor Heiligabend. Seine Familie hat erst später mit seiner Freilassung gerechnet. Blanco will nicht mehr nur derjenige sein, mit dem alles gemacht werden kann, sondern selbst agieren. So kommt es letztlich zu einer Familienzusammenkunft als Showdown an Heiligabend.
Die Entlassung aus dem Gefängnis und die Annäherung an die Familie bilden den Hauptteil der Geschichte, immer wieder unterbrochen von Rückblicken in die Vergangenheit. Dort beleuchtet der Autor, wie es zu dieser Familienkonstellation kam und löst auch auf, was mit dem (deutschen) Titel gemeint ist. Bauunternehmer Don Carlos hatte den Plan für eine exklusive Wohnsiedlung mit dem Namen „Olinka“, basierend auf Ideen eines utopistisch-esoterischen Künstlers. Genug Geld aus illegalen Kanälen war vorhanden, doch der Grund und Boden für Olinka ließ sich nicht so einfach beschaffen, gab es an dieser Stelle eine kleine Siedlung von sozial Schwachen. Doch Don Carlos war zu einigem bereit, um sich diese Grundstücke anzueignen und das hatte Auswirkungen, für die ganze Familie Flores.
Die Verschwundenen ist ein clever konstruierter Roman, der allerdings im Mittelteil ein wenig schleppend verläuft. Über weite Strecken verzichtet der Autor auf konventionelle Spannungselemente, sondern erzählt relativ nüchtern. Ortuño wirft einen scharfen Blick in die Mitte der mexikanischen Gesellschaft, mal abseits von Drogen oder Flüchtlingen, aber natürlich im Spannungsverhältnis von arm und reich, konkret am Beispiel von Guadalajara, der Heimatstadt des Autors. Der Roman zeigt die alltägliche Korruption, planlose Stadtentwicklung, Gier nach Geld und Macht sowie staatlich gedeckte Ausbeuterei und Gewalt. Doch wie es oft so ist, richten sich diese Dinge letztlich gegen die Familie des skrupellosen Bauunternehmers und der Leser wohnt mehr oder weniger einer Familientragödie bei.
Rezensionen und Fotos von Gunnar Wolters.
Saison der Wirbelstürme | Erschienen am 14. März 2019 im Verlag Klaus Wagenbach
ISBN: 978-3-803-13307-6
240 Seiten | 22.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe
Genre: gesellschaftskritischer Roman
Wertung: 3.0 von 5.0
Die Verschwundenen | Erschienen am 6. März 2019 im Verlag Antje Kunstmann
ISBN: 978-3-95614-285-7
256 Seiten | 20.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe
Genre: gesellschaftskritischer Krimi
Wertung: 3.5 von 5.0
Weiterlesen: Juan Villoro „Der rote Teppich“, erstmals erschienen in Le Monde diplomatique (November 2008), aktuell in: Edition Le Monde diplomatique: Mittelamerika. Zwischen Panamakanal und Río Bravo.
One Reply to “Rezensions-Doppel: Saison der Wirbelstürme & Die Verschwundenen”
Ortuno werde ich mir wohl mal sparen, „Saison der Wirbelstürme“ ist für mich jetzt aber noch interessanter geworden. Wie immer eine – oder besser gesagt zwei – gelungene Rezensionen!