David Lagercrantz | Vernichtung Bd. 6

David Lagercrantz | Vernichtung Bd. 6

Vernichtung ist der letzter Beitrag von David Lagercrantz zur Millennium-Reihe.

Man soll bekanntlich aufhören, wenn es am schönsten ist. Diesen Moment hat Lagercrantz leider verpasst, der laut seiner Aussage definitiv letzte Roman um Lisbeth Salander und Mikael Blomkvist aus seiner Feder ist nach meiner Meinung der schwächste der gesamten Reihe. Ich greife daher einmal vor und verrate schon hier, dass ich mit einigem Wohlwollen drei Sterne vergebe.

Hatte ich beim Vorgänger Verfolgung noch den Eindruck, dass Lagercrantz sich mittlerweile mit dem Personal Larssons angefreundet hat, kommt es mir bei deren letzem Auftritt vor, als habe der Autor das Interesse an den Figuren und dem großen Entwurf des Schöpfers der Reihe weitgehend verloren. Stattdessen schreibt er seine eigene Geschichte, indem er das Thema seines ersten literarischen Erfolgs wieder aufnimmt. 1998 erschien der Bestseller Allein auf den Mount Everest des schwedischen Abenteurers und Extrembergsteigers Göran Kropp – unter tätiger Mithilfe von David Lagercrantz. Kropp beschreibt in diesem Buch seine Erlebnisse am höchsten Berg der Welt im Mai 1996, als es zur „Katastrophe am Mount Everest“ kam, bei der acht Menschen starben, sowohl Bergführer als auch Teilnehmer mehrerer kommerzieller Expeditionen.

Der Stoff hat Lagercrantz offensichtlich so fasziniert, dass er ihn in den Mittelpunkt seiner dritten Millenium-Adaption stellt. Ob seine Leser ebenso interessiert sind an diesem speziellen Thema, ist fraglich, sie wollen vermutlich lieber Neues von Mikael Blomkvist und, mehr noch, von ihrer Heldin Lisbeth Salander erfahren. Das ist leider nicht allzu viel, obwohl der Titel Vernichtung doch erwarten ließ, dass die Fehde zwischen Lisbeth und ihrer Schwester Camilla den Plot bestimmen würden. Tatsächlich rückt dieser Kampf auf Leben und Tod weitgehend in den Hintergrund, die Auftritte Lisbeths in dieser letzten Folge sind rar und zeigen, dass aus dem wütenden, rasenden Mädchen eine zögernde, zaudernde Frau geworden ist. Lediglich in einer sehr kurzen Szene, eher eine Randnotiz, die nichts zur eigentlichen Story beiträgt, zeigt sie ihr altes Gesicht, wohl eine Reminiszens an ihre Anfänge . Ihre Beziehung zu Mikael wird nicht weiter thematisiert, es gibt auch so gut wie keinen Kontakt der beiden miteinander. Als er sich spontan aufmacht um Lisbeth aufzusuchen, muss Mikael feststellen, dass sie aus ihrer Wohnung ausgezogen ist. Eine neue Adresse gibt es nicht, Mails und SMS hatte sie schon in der Vergangenheit nur sehr sporadisch beantwortet. Lisbeth ist wie vom Erdboden verschwunden.

Tatsächlich hält sie sich in Moskau auf, um endgültig mit Camilla abzurechnen. Die ungleichen Schwestern hassen sich bis aufs Blut und trachten sich gegenseitig nach dem Leben. An der einen oder anderen Stelle des Romans erfährt der möglicherweise neue Leser, wie es dazu kam, für die meisten gibt es in dieser Hinsicht keine neuen Erkenntnisse. Als Lisbeth endlich am Ziel zu sein scheint und Camilla ihr wehrlos gegenübersteht, ist sie nicht in der Lage, die Pistole abzufeuern, die sie in der Hand hält. Während sie gerade noch glaubte, erbarmungs- und gnadenlos agieren zu können, ist sie plötzlich wie gelähmt und nun selbst ihrer Feindin schutzlos ausgeliefert. Mit knapper Not kann sie entkommen und sich nach Stockholm zurückzuschlagen. Hier versteckt sie sich vor den Nachstellungen Camillas und ihrer Helfer von der russischen Mafia Swesda Bratwa und den Rockern der Svafelsjö Motorrad-Gang.

Blomkvist hat seinen Biss verloren, er zeigt deutliche Anzeichen eines Burn-Outs. Der erfolgreichste investigative Journalist des Millenium kommt mit seiner Story um die Trollfabriken nicht weiter, er glaubt nicht an einen Erfolg, hat auch keine Lust, vor Ort zu recherchieren. Die aktuellen Nachrichten deprimieren ihn, all die traurigen Entwicklungen in dieser Welt. Der grassierende Hass in der Gesellschaft, das Erstarken der Populisten und Extremisten, all die Fake-News und Desorientierungskampagnen, die vielen Nachrichten aller möglichen Idioten auf seiner Mailbox und in seinem E-Mail-Postfach. Dann erhält er einen unerwarteten Anruf der Gerichtsmedizinerin Frederika Nyman. Sie hat einen toten Obdachlosen auf dem Tisch, der einen Zettel bei sich trug, auf dem Mikaels Telefonnummer steht. Das interessiert ihn noch nicht, aber als DNA-Untersuchungen erweisen, dass der Verstorbene über das so genannte Super-Gen verfügte, (Lagercrantz vereinfacht und verknappt hier die sachlich fundierten wissenschaftlichen Erkenntnisse über tatsächlich vorhandene genetische Besonderheiten bei Angehörigen des Volkes der Sherpa, die es ihnen ermöglicht, aufgenommenen Sauerstoff wesentlich effizienter zu verwerten, als es Bewohnern des Flachlands möglich ist) erwacht Mikaels Neugier. Bei der Suche nach Personen, die den Obdachlosen gekannt haben, stößt er auf die bekannte Fernseh-Kolumnistin und Kommentatorin Catrin Lindås.

Catrin ist konservativ, Mikael hält sie sogar für reaktionär, und sie ist auch nicht gut auf ihn zu sprechen, aber als er sie aufsucht, fallen die beiden nicht nur mit Worten übereinander her und landen auf dem Teppich. Immerhin erfährt Mikael, dass sie eine unangenehme Begegnung mit dem merkwürdigen Bettler hatte, bei der dieser Anschuldigungen gegen Johannes Forsell geäußert habe. Der ist Verteidigungsminister und wegen seiner unerbittlichen Haltung gegenüber Rechtsextremisten und Ausländerfeinden sowie deutlicher Kritik an der aggressiven russischen Politik Zielscheibe einer Verleumdungskampagne der Trolle. Im Jahr 2008 war er Teilnehmer an einer kommerziellen Everest-Expedition, bei der Klara Engelman, die glamouröse Frau des skrupellosen Immobilienhais Stan Engelman, tödlich verunglückt ist und mit ihr Viktor Grankin, einer der Bergführer. Klara hatte sich im Basislager in ihn verliebt und es hieß, sie wolle sich sogar scheiden lassen. Das hätte für ihren Ehemann und seine kriminellen Geschäfte gefährlich werden können.

Die Rechtsmedizinerin hat inzwischen herausgefunden, dass der rätselhafte Sherpa mit einer Überdosis von Schlaftabletten in seinem Schnaps umgebracht wurde. Von nun an stehen die Ereignisse während der unglücklich verlaufenden Expedition im Vordergrund, Mikael und Catrin haben jeder für sich größtes Interesse daran, die Wahrheit über die Vorgänge im Camp und beim Aufstieg zu erfahren. Das erweist sich als schwierig, offensichtlich wollen einige Beteiligte verhindern, dass die Fakten ans Licht kommen. Lagercrantz nimmt einen langen, langen Anlauf, um in vielen kleinen Bruchstücken das Rätsel nach und nach zu lösen, dabei versucht er vergeblich, zu viele unterschiedliche Themen auf zu wenigen Buchseiten abzuhandeln. Es entwickelt sich eine verwirrende Geschichte, die sich nach und nach als Spionagestory entpuppt, in der Geheimdienste und ihre Agenten und Doppelagenten, natürlich Gute und Böse, im Fokus stehen.

Aber wir lesen auch von Liebe, Lust und Leidenschaft, von Ehekrise und Ehebruch, und natürlich von Mord und Totschlag. Das klingt interessant und spannend, ist es aber nicht, weil Lagercrantz es nicht versteht, den Figuren Leben einzuhauchen, Tiefe zu verleihen, sie bleiben flach und sind nicht differenziert, sondern diffus und erschreckend unpräzise. Hier wird deutlich, dass die Bücher der zweiten Millennium-Trilogie nie die erregende, erschütternde Atmosphäre, die eindringliche Stimmung des Originals erreichen.

Der zweite Handlungsstrang beschäftigt sich mit dem finalen Kampf der Salander-Mädchen. Wird Camilla die verhasste Schwester aufspüren und umbringen? Oder gelingt es Lisbeth, sich endlich von ihr zu befreien? Das zentrale Thema des Romans, im schwedischen Original Hon som måste dö, Sie, die sterben muss, findet hier nur zu Beginn kurz einmal statt – und dann wieder im actionreichen Finale, dem Schluss- und Höhepunkt. Im letzten Viertel des Buches nimmt die Geschichte endlich Fahrt auf und gewinnt das Tempo, das zuvor immer wieder abgebremst wurde durch ermüdende Längen, unnötige Wiederholungen und ausgedehnte dröge Dialoge, die zuweilen unfreiwillig komisch sind. Sprachlich und stilistisch ist Lagercrantz hier wirklich nicht auf der Höhe, dass auch die Übersetzung von Susanne Dahmann etwas dazu tut, kann ich nur vermuten. Der Showdown, in dem eine nun wieder kaltblütige und absolut fokussierte Lisbeth sich ganz alleine den brutalen russischen Schergen Camillas sowie den nicht minder skrupellosen Rockern entgegenstellt, um Mikael zu retten, ist das Beste an Vernichtung, auch wenn man wie immer bei den Auftritten des Racheengels die Augen vor der Tatsache verschließen muss, dass die Handlung an dieser Stelle völlig unwahrscheinlich und unglaubwürdig ist.

Schließlich scheint Lagercrantz nur noch bemüht, die Geschichte so gut und so schnell es geht zu Ende zu bringen. Rasch wird zusammengefasst, was aus den wichtigsten Nebenfiguren wurde, die wenigen Neuen und die vielen Altbekannten, die hier alle noch einmal einen kurzen, unbedeutenden Auftritt haben oder wohl aus nostalgischen Gründen wenigstens erwähnt werden. Das Schicksal der Serienstars dagegen bleibt offen, Lisbeth gibt Mikael noch entscheidende Hinweise für seine Story über die Trollfabriken und behauptet im Übrigen, einen Schlussstrich gezogen zu haben, was immer das bedeuten mag. Mikael antwortet vage: „Schlussstrich? Es ist an der Zeit, neu anzufangen.“

Wie verlautet, verhandeln die Erben Stieg Larssons tatsächlich schon mit neuen Autoren über eine Fortsetzung. Bleibt abzuwarten, ob es tatsächlich eine Fortsetzung der beiden Trilogien geben wird.

 

Rezension und Foto von Kurt Schäfer.

Vernichtung | Erschienen am 26. August 2019 bei Heyne
ISBN 978-3-453-27100-5
432 Seiten | 22.- Euro
Originaltitel: Hon som måste dö (Millennium 6) [Sie, die sterben muss]
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Anmerkung: Die Taschenbuchausgabe erscheint am 9. November 2020 ebenfalls bei Heyne, ISBN 978-3-453-44107-1.

Auch bei uns: Rezensionen zu den beiden vorangestellten Romanen Verschwörung Bd. 4 und Verfolgung Bd. 5

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