David Lagercrantz | Verfolgung Bd. 5

David Lagercrantz | Verfolgung Bd. 5

Gesellschaftskritik als Kriminalroman

Der Beginn des Romans schließt an die Ereignisse des Vorgängers Verschwörung an, in dem Lisbeth Salander in größter Gefahr einem hochbegabten autistischen Jungen das Leben rettete und den Mörder seines Vaters aufspürte. Ihr nicht ganz legaler Einsatz brachte ihr eine Verurteilung zu zwei Monaten Gefängnis wegen „widerrechtlicher Eigenmacht“ und grober Fahrlässigkeit ein, auch weil sie während der Verhandlung bockig schwieg und nicht in Berufung gehen wollte.

Zunächst war sie in einer offenen Strafanstalt untergebracht, aber nachdem Drohungen gegen sie öffentlich wurden, hatte man sie ins Niemandsland von Flodberga verbracht, in das einzige Gefängnis für Frauen mit der höchsten Sicherheitsstufe in Schweden, wo sie nun mit den schlimmsten Verbrecherinnen des Landes zusammengepfercht ist, und die schlimmste von allen, Beatrice „Benito“ Andersson ist diejenige, die mit ihrer Gang die Macht ausübt im Sicherheitstrakt B. Die Wärter und selbst der Wachleiter haben die Kontrolle über die Abteilung längst verloren. Am meisten unter der Terrorherrschaft Benitos leidet Faria Kazi, eine junge, bildhübsche Frau aus Bangladesch, die sich, von allen im Stich gelassen, wehrlos ständiger Übergriffe und Quälereien gegenübersieht.

In Rückblenden erfahren wir ihre Geschichte, die einen der beiden stärkeren Handlungsfäden darstellt und von einer muslimischen Familie erzählt, deren männliche Mitglieder sich radikalisiert haben und ihre Schwester mehr und mehr unterdücken und zu Hause einsperren. Durch eine List gelingt es ihr, zu einer Diskussionsveranstaltung auszureißen, wo sie Jamal kennenlernt, ebenfalls aus Bangladesh, wo dieser für Meinungsfreiheit und Menschenrechte kämpfte und deshalb vor den Islamisten fliehen musste. Die jungen Leute verlieben sich und Faria gelingt es endlich, ihren Brüdern zu entfliehen und bei Jamal unterzutauchen. Aber sie wird wieder eingefangen, eingesperrt und soll sterben, weil sie die Familie entehrt hat und nun auch eine geplante Zwangsheirat mit einem älteren, vermögenden Landsmann nicht mehr zustande kommt. Jamal stirbt bei einem Sturz vor eine U-Bahn, wohl kein Unfall. In ihrem häuslichen Gefängnis in die Enge getrieben, stößt Faria einen ihrer Brüder aus dem Fenster in den Tod, deshalb sitzt sie nun im Gefängnis Flodberga, und auch hier droht ihr Gefahr. Die Familie hat offenbar Kontakt zu Benito aufgenommen und ihr den Auftrag für einen „Ehrenmord“ erteilt. Den kann Lisbeth zunächst einmal verhindern, und, wieder in Freiheit, kümmert sie sich umgehend um den Familienclan der radikalen Islamisten und um die Aufklärung des Mordes an Jamal.

Lisbeth kann halt nicht aus ihrer Haut, Gerechtigkeit und Rache hat sie sich auf ihre Fahnen geschrieben, Schutz für die Schutzlosen, Hilfe für die Hilflosen. Zum anderen kümmert sich Lisbeth um ihre eigene Vergangenheit, eine Spurensuche, die den zweiten wichtigen Handlungsstrang des Buches darstellt. Um den zu weben, bemüht Lagercrantz jedoch eine Menge Zufälle, unwahscheinliche Vorfälle, unglaubliche Vorgänge. Seine Fortsetzung der Larsson-Trilogie gerät insgesamt immer mehr zu einer Fantasy-Story oder, zumindest was Lisbeth angeht, einem Superheldinnen-Epos, seine, unsere Kultfigur ist nicht unverwundbar, aber offenbar unsterblich. Es scheint, als habe Lagercrantz seinen ganz eigenen Stil gefunden. Seine Sprache ist weniger plakativ als die von Larsson, er schreibt „literarischer“ und ausgefeilter. Es gibt drastische Szenen, doch alles in allem ist Lagercrantz in puncto Gewalttätigkeit und Action deutlich zurückhaltender. Die Dramaturgie des Romans ist auch so spannend genug. Er ließ diesmal viele neue Ideen einfließen mit dem Ergebnis einer Kombination von Larssons Universum und Lagercrantz eigener Welt.

Dabei verlässt er sich, anders als Larsson, nicht ausschließlich auf die Punkerin Lisbeth Salander, eine entrückte Hackerin mit einigen psychischen Defekten und ohne nennenswerte Sozialkontakte, und einen ihrer wenigen Freunde, Mikael Blomkvist, den berühmten Investigativ-Journalisten und Gründer des Millenium Magazins. Der scheint wieder ganz der Alte zu sein, stets der Wahrheit verpflichtet ist er immer bemüht, gesellschaftliche Missstände anzuprangern und üble Machenschaften aufzudecken, sei es bei Behörden oder bei Wirtschaftsunternehmen. Die beiden sind die wichtigsten Personen von Beginn der Millennium-Saga an. Daran ändert sich zum Glück auch im neuesten Abenteuer nichts, obwohl die Rollen diesmal ein wenig limitiert sind, weil sich die Helden den Plot mit geschätzt zwei Dutzend neuen und bekannten Figuren teilen, manche etwas plump eingeführt, wie Plague und die „Hacker Republic“, noch weiter hergeholt der Auftritt des „Svavelsö MC“.

Blomqvist, der Lisbeth jeden Freitag im Gefängnis besucht, hat gerade über eine Hacker-Attacke auf dem Finanzmarkt berichtet, die vor allem eine schwedische Gesellschaft zum Ziel hatte, Alfred Orgren Securities. Ein leitender Angestellter dieser Firma wird bald in das Blickfeld Blomkvists geraten. Unterdessen erhält Holger Palmgren, Salander’s früherer Vormund und väterlicher Freund, überraschend Besuch von einer damaligen Sekretärin der Kinderpsychiatrie, in der Lisbeth einige ihrer schlimmsten Jahre verbringen musste. Sie übergibt Palmgren einen Stapel von Dokumenten, in denen sich Hinweise auf eine Organisation finden, die sich „Register“ nennt. Dieses „Register für menschliche Erblehre und Eugenik“ entpuppt sich als Behörde, die Teil des Instituts für medizinische Genetik in Uppsala war und noch bis 1958 „Staatliches Institut für Rassenbiologie“ hieß.

Palmgren, den wir nach mehreren Schlaganfällen als gesundheitlich angeschlagen in Erinnerung haben, ist kaum mehr wiederzuerkennen. Konnte er sich zuletzt noch mit dem Rollator bewegen, ist er nun bettlägerig und auf ständige Pflege und Hilfe angwiesen. Sein Geist allerdings ist immer noch hellwach und sein Gedächtnis hervorragend. Er lässt sich unter größten Schwierigkeiten zu Lisbeth ins Gefängnis bringen, um ihr die Papiere zu zeigen. Und nun beginnen die vielen Zufälle und damit einhergehend Rückblenden zu Ereignissen, die achtzehn Monate zurückliegen.

Lisbeth hackt die Datenbank des Instituts und stößt auf ein Projekt, das sich mit Zwillingsforschung befasst, sowie auf Hinweise, dass es im Rahmen dieses Programms Verbrechen gegeben hat, die an Kindern ethnischer Minderheiten verübt wurden. Der Name „Leo Mannheimer“ erregt ihre Aufmerksamkeit und so bittet sie Mikael, in der Sache zu recherchieren. Für Mikael Blomkvist sieht es nach einer lohnenden Story für Millenium aus, auch wenn die Vorgänge rund um die Zeitschrift diesmal kaum eine Rolle spielen und auch die wichtige Figur der Chefredakteurin Erika Berger fast zur Gänze herausgeschrieben wurde. Für Lisbeth könnte hier ein Schlüssel zu bislang verborgenen Fakten ihrer Kindheit liegen. Sie ahnt, dass es in ihrer Kindheit etwas Grundlegendes gibt, das sie noch nicht versteht.

Eine Forschungsreihe an der Universität Minneapolis, die in den 80ern Aufsehen erregte, mag Pate gestanden haben für die Grundidee des Romans. Genetiker, Psychologen und Mediziner erhofften sich neue Erkenntnisse über die Bedeutung von Vererbung einerseits und Umfeld und Erziehung andererseits als als Einflussfaktoren auf die Entwicklung eines Menschen, indem sie Zwillinge untersuchten, die als Babies getrennt wurden. Die wahre Geschichte der Jim Twins spiegelt sich bei Lagercrantz in der spannenden Erfindung der beiden genialen Musiker Leo Mannheimer und Daniel Brolin, deren völlig unterschiedliche Lebenswege einen höchst unterhaltsamen Teil der Handlung darstellen. Das „Register“ ist nämlich eine kriminelle Vereinigung, die Säuglinge ganz bewusst ihren leiblichen Eltern entreißt und in verschiedenen ausgewählten Pflegefamilien unterbringt und dort überwacht. Der Hintergrund dieses Programms ist, wie der Name vermuten lässt, sowohl eugenisch als auch ethisch verwerflich, der Begriff „Rassenbiologie“ steht unausgesprochen im Raum. In diesem Zusammenhang schwebt ständig der Geist von Lisbeths Albtraum Camilla über der Geschichte, ihrer hinterhältigen Schwester. Die beiden sind zweieiige Zwillinge und waren sich nie besonders ähnlich, äußerlich nicht und erst recht nicht charakterlich. Sie hassten sich bis aufs Blut, und schließlich trennte die Sozialbehörde die beiden, und nach einem Mordanschlag auf ihren Vater, einen Sadisten, der ihre Mutter quälte und immer wieder vergewaltigte, wurde sie in eine psychiatrische Einrichtung gesperrt. Sie hatte ein furchtbares Unrecht an dem einzigen Menschen, den sie je geliebt hatte, gerächt, weil niemand sonst es getan hätte. Die Schwestern sahen sich für lange Zeit nicht wieder. Aber auch sie waren offenbar Teil jenes „Register“-Programms und galten als ideale Probanden. Ihr Vater wurde als „hochbegabtes Monster“ bezeichnet, und das machte sie zu interessanten Testpersonen.

Die gewissenlosen Drahtzieher jener Kinder-Psychologischen Experimente, die eine Hälfte der Erzschurken in diesem Roman, sind leider nur recht grob skizziert. Dabei verblassen sie ziemlich im Vergleich mit Larssons bösartigen Figuren, den verkommenen Angehörigen des Vanger-Clans. Die zweite Fraktion der Bösen wird angeführt von „Benito“ Andersson, die hier zur grotesken Karikatur einer Bandenchefin verkommt. Die Charakterzeichnung gehört nicht zu den Stärken des David Lagercrantz, das Plotting schon eher. Allerdings: er erzählt viel, manchmal zu viel, wo er uns besser sehen lassen sollte, er schreibt Dialoge statt ausführliche Aktion zu beschreiben. Obwohl die Dialoge durchaus den Ton treffen und Interesse wecken, sind diese Zwiegespräche meist so ausführlich und ausgedehnt, dass die Geduld des Lesers mitunter arg strapaziert wird.

Verfolgung ist vor allem die Geschichte Lisbeth Salanders, ihr Hintergrund und ihre Vergangenheit, die immer noch nicht vollständig ergründeten Geschehnisse ihrer Kindheit, offene Fragen, etwa wie und warum sie zu ihrem Drachentattoo gekommen ist. Darauf jedenfalls gibt es in Verfolgung eine Antwort. Was Lagercrantz sehr gut gelingt, ist die düstere, bedrohliche Atmosphäre zu bewahren, die schon das Millennium-Universum beherrscht hat. In seinem neuen Buch hat Lagercrantz herausgefunden, wie er Larssons Geschwindigkeit und Stil des Geschichtenerzählens übernehmen kann, wobei er es mit den vielen Rückblenden und wilden Zeitsprüngen etwas übertreibt. Allerdings schafft er es immer, an den richtigen Stellen Schlüsselszenen zu platzieren.

In einem dieser markanten, eindrucksvollen Augenblicke gewährt uns Lisbeth einen Einblick in ihre Gefühlswelt, als sie in der Storkyrkan über die Statue des Heiligen Georg nachdenkt: Sie erlebt den Drachen wehrlos und allein und muss sofort an ihre Mutter denken. Lisbeth musste selbst dieser Drache sein und zurückschlagen und Feuer speien, den Ritter von seinem Pferd zerren und töten. Denn der Ritter war niemand anderes als Zala, ihr Vater, das Böse, das ihr Leben zerstörte. Und die Jungfrau, die gerettet werden soll, ist in Lisbeths Augen einfach nur gleichgültig und eiskalt. Sie gleicht der Frau mit dem Muttermal, das aussah, als hätte ihr jemand den Hals angezündet. Jener Frau, die sie öfter besuchte, aber sämtliche Übergriffe und Vergewaltigungen bei ihnen zu Hause einfach untätig zur Kenntnis nahm. Diese geheimnisvolle Frau ist eine aus einer ganzen Riege von Figuren, die Lagercrantz diesmal neu erfunden hat, denen er sich ausführlich widmet und die durchaus Hauptrollen in seiner Geschichte spielen. In seinem ersten Buch hatte Lagercrantz noch sehr gemächlich begonnen, die unterschiedlichen Handlungsstränge zu entwickeln. Diesmal bemüht er sich von der ersten Seite an um Tempo, interessante Szenen und Aktivitäten. Charaktere und ihre Dialoge scheinen natürlicher und organischer während sich die Geschichte entwickelt.

Lagercrantz hat sich schon zurückgenommen im Vergleich zum vorherigen Roman, er bemüht sich, wenigsten etwas zu straffen und zu verdichten was aber nur zum Teil gelingt. Aber bitteschön, auch Larsson hat sehr viel und komplex geschrieben, und, ehrlich gesagt, ein begnadeter Schriftsteller war er auch nicht. Seine Bücher lebten von der ungeheuren Energie, dem hohen Tempo, auch der rohen Gewalt seiner packenden Geschichten, die uns emotional gefangen nehmen, das alles fehlt bei Lagercrantz ein wenig. Man merkt ihm an, dass er nicht einfach einen Krimi schreiben will, sondern literarische Ambitionen hat. Aber der Fortschritt seit seinem Erstling in der Nachfolge Larssons ist auffällig, ein wenig von dessen Zauber wird schon spürbar.

Was Lagercrantz beibehalten hat, sind aktuelle Bezüge, vieles, was uns in diesen Tagen beschäftigt, wird thematisiert. So das Problem des Umgangs mit radikalislamistischen, fundamentalistischen Muslimen oder die Gefahren durch Internet-Trolle und „alternativen Fakten“ oder „Fake-News“. Wie gewohnt liefert Lagercrantz jede Menge Hintergrundwissen; offenbar ist es ihm ein Anliegen, möglichst viel von seiner Sachkenntnis mit dem Leser zu teilen. Dabei muss er aufpassen, seine Story über zu viel Information nicht aus den Augen zu verlieren. Aber die Geschichte ist zweifellos gut ausgearbeitet, gründlich recherchiert und spannend erzählt, und offenbar ist schon der Boden bereitet für eine Fortsetzung, in welcher wir ziemlich sicher Camilla wiedersehen werden, die diesmal fehlte, obwohl in Verschwörung angekündigt wurde:

„Camilla lebte. Nichts war vorüber. Lisbeth hatte ihre Beute lediglich angeschossen, aber das reichte nicht. Nicht in diesem Fall.“

Ein Thema des nächsten (letzten?) Bandes deutet sich an: Der Aktienmarkt, Internet-Trolle und das Zusammenbrechen der Wahrheit. Der Roman endet, wie er begonnen hatte, als Mikael über die Hackerattacke gegen „Finance Security“ nachforschte.

Prolog und Epilog allerdings gehören Holger Palmgren, wobei der Epilog nicht nur ein Nachwort ist, sondern auch ein Nachruf. Und der kommt von Lisbeth, die in diesem besonderen Moment eine fast unbekannte Seite offenbart und die sogar lächelt!

Noch nicht ganz Stieg Larsson, aber wie schon für seine Verschwörung vier Sterne.

 

Rezension und Foto von Kurt Schäfer.

 

Verfolgung | Erschienen am 7. September 2017 bei Heyne
ISBN 978-3-453-27099-2
480 Seiten | 22,99 Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Kurts Rezension zu Band 4 der Millenium-Saga Verschwörung

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