David Lagercrantz | Verschwörung

David Lagercrantz | Verschwörung

Lisbeth Salander und Mikael Blomkvist haben Millionen Leser begeistert. Weltweit erstürmte die Millennium-Trilogie die Bestsellerlisten und sprengte mit mehr als 80 Millionen verkauften Exemplaren alle Dimensionen. Ein Welterfolg, der seinesgleichen sucht. Nun geht die Geschichte weiter.

Um mit dem Ende zu beginnen: Leser sollten Verschwörung unbedingt vor dem letzten Satz zuklappen!

Darüber hinaus kann ich das Buch von David Lagercrantz aber uneingeschränkt empfehlen, auch wenn ein gewisser Jussi Adler-Olsen zum Boykott aufgerufen hat. Ein solches Verhalten gegenüber einem Kollegen halte ich übrigens für indiskutabel, außer vielleicht im aktuellen Fall Akif Pirinçci. Schon vor Veröffentlichung der Fortsetzung von Stieg Larssons Millenium-Trilogie wurde der Roman, genauer, die Tatsache, dass er überhaupt erscheinen sollte, im Netz vehement kritisiert. Warum aber schlägt dem Autor David Lagercrantz so viel Empörung, ja Hass entgegen? Von Grabschändung, Leichenfledderei, Ausbeutung ist da die Rede. Einem Verlag vorzuwerfen, er wolle mit einer Buchveröffentlichung Geld verdienen, ist absurd, und einem Autor dies vorzuhalten ebenso. Auch ein Adler-Olsen lebt von einer äußerst geschickten Marketing-Strategie. Und beliebte und erfolgreiche Figuren nach dem Tod ihres Autors weiter leben zu lassen ist auch nicht verwerflich und deshalb lange geübte Praxis. Wie viele großartige Sherlock-Holmes-Adaptionen wären uns entgangen, hätten die Epigonen Skrupel gehabt, das sicher schwere Erbe Arthur Conan Doyles anzutreten!

Auch Lagercrantz bedient sich des Personals aus der „Trilogie“, allerdings verleiht er den Figuren durchaus neue Attribute, entwickelt sie weiter und setzt tatsächlich die Geschichte von Mikael Blomquist und Lisbeth Salander nicht einfach fort sondern erfindet einen, seinen ganz neuen, eigenen Plot.

Natürlich spielen Internet und Darknet, Cyberkriminalität im Allgemeinen und in all ihren unterschiedlichen Formen auch wieder eine große Rolle, es wird ausgespäht und gehackt von allen Seiten, auch die Hacker Republic tritt wieder auf den Plan.

Bereits in einer Vorbemerkung zum 1. Kapitel wird dem Leser die NSA vorgestellt, jene Sicherheitsbehörde, die inzwischen wohl keiner Vorstellung mehr bedarf, deren zweifelhafter Ruf in aller Munde ist und deren Machenschaften im vorliegenden Roman eine Rolle spielen werden. Aber es geht nicht nur um die NSA, es geht Vordergründig vor allem um künstliche Intelligenz. Das Thema hat Lagercrantz bereits früher beschäftigt, er veröffentlichte unter dem Titel „Syndafall i Wilmslow“ einen sehr erfolgreichen und hochgelobten Roman über den britischen Mathematiker, Logiker, Informatiker und Kryptoanalytiker Alan Turing. Bekannt wurde er als maßgeblich Beteiligter an der Entzifferung der mit der berühmten „Enigma“ verschlüsselten deutschen Funksprüche im zweiten Weltkrieg.
Turing griff in seinen Arbeiten bereits die Problematik der künstlichen Intelligenz auf, eines der großen Themen der „Verschwörung“, in der Lagercrantz sich auch auf weitere Theorien Turings bezieht.

Der „Sündenfall“ wird bei uns im kommenden Jahr erscheinen und beleuchtet das geheimnisumwitterte Leben und den rätselhaften Tod durch einen vergifteten Apfel eines faszinierenden Menschen und begnadeten Wissenschaftlers, der auf Grund seiner Homosexualität zwangssterilisiert und erst spät rehabilitiert wurde. Lagercrantz vermischte in seinem Roman einen spannenden Krimi mit populärwissenschaftlicher Darstellung von philosophischen und mathematischen Ansätzen und psychologischen Betrachtungen. Im vorliegenden Buch ist es ähnlich. Hier heißt der geniale Informatiker Frans Balder.

Seit dem Abschluss der Millenium-Trilogie sind einige Jahre vergangen, die Fortsetzung zeigt das einst hochgeachtete und höchst populäre Magazin in der Krise. Die Medienlandschaft hat sich inzwischen dramatisch verändert, Blomquists Zeitschrift hat unter den neuen Gegebenheiten zu kämpfen und er selbst ist alte Schule, er will und kann sich nicht anpassen. Es fehlt eine Sensationsgeschichte, die dem Blatt und ihm selbst aus der Krise helfen könnte. Als ein Aufsehen erregender Mord passiert, lassen die besonderen Umstände des Verbrechens den Journalisten aufhorchen. Das Opfer ist eben jener Frans Balder, ein weltweit bekannter und anerkannter Visionär und Entwickler von Quantencomputern, eine Autorität auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz. Als Nebeneffekt hatten seine Forschungen wegweisende Fortschritte bei der Entwicklung eines revolutionären Computerspiels ermöglicht. Seine Erkenntnisse wurden aber vor der Patentierung ganz offensichtlich gestohlen. Ein russischer Konkurrent hatte zweifellos einen erfolgreichen Hackerangriff durchgeführt, nachdem durchgesickert war, woran er arbeitete. Das jedenfalls behauptet eine geheimnisvolle Hackerin, die Balder engagiert hatte, und sie deckt noch viel tiefer gehende Schweinereien auf.

Daraufhin hatte Balder Knall auf Fall bei einem Software-Giganten in den USA angeheuert, aber auch hier sieht er sich bald umgeben von Datenklau, Internetkriminalität und üblen Intrigen innerhalb des Teams. Deshalb war er vor kurzem in seine Heimat zurückgekommen, um seinen Sohn zu sich zu holen, für den seine Frau das Sorgerecht besitzt und um den er sich lange überhaupt nicht gekümmert hat. August ist Autist, und er besitzt gleich zwei Inselbegabungen. Zum einen ist er ein Zahlengenie und kann bestimmte hochkomplexe Berechnungen durchführen, zum anderen ist er in der Lage, Erlebtes fotografisch genau zu zeichnen. Als Augenzeuge der Ermordung seines Vaters schwebt er deshalb in höchster Lebensgefahr.

Dieser August ist die heimliche Hauptfigur des Romans. Als tatsächlich ein Attentat auf ihn verübt wird, hat die von Balder ins Vertrauen gezogene Hackerin, na klar, Lisbeth Salander, den Mordanschlag vorhergesehen und rettet August in letzter Sekunde. Schwer verletzt bringt sie sich und den Jungen in Sicherheit, ihre Verwundung ignoriert sie einfach und tatsächlich wird sie uns mehr und mehr als unverwundbar geschildert. Lisbeth flüchtete sich früh in die Welt der Superhelden, besonders ein Comic um Janet van Dyne faszinierte sie, ein Mädchen, dem im Labor übermenschliche Kräfte verliehen wurden, die eine knallharte Rächerin wurde und sich „Wasp“ nannte, „Wespe“, ein zorniges Wesen, das sich von niemandem mehr unterkriegen ließ. Mittlerweile ist sie selbst zur Comic-Figur mutiert, grotesk überzeichnet und absurd überhöht. Da wundert es nicht, dass sie mir nichts, dir nichts die geheimsten NSA-Programme hackt, eigentlich unvorstellbar, aber wenn überhaupt jemand das schaffen kann, dann Lisbeth.

Oder vielleicht ihre Zwillingsschwester Camilla. Die war bei Larsson nur eine Randfigur, von der nicht allzuviel bekannt war. Lisbeth hatte sie viele Jahre nicht gesehen, aber nun taucht sie plötzlich auf und ist ebenfalls ein Fabelwesen: auch sie ist völlig unglaubwürdig dargestellt und nur mit Superlativen zu beschreiben als unsagbar schön, aber auch unglaublich berechnend, rücksichts- und gewissenlos, listig wie hinterlistig, verschlagen und unbarmherzig, eben abgrundtief schlecht, das genaue Gegenteil und eine erbitterte Feindin ihrer Schwester schon seit Kindertagen. Jetzt geraten die ungleichen Schwestern erneut aneinander, ihr Kampf Gut gegen Böse ist ein weiterer roter Faden des Romans.

Langsam wird Spannung aufgebaut, die Perspektiven wechseln häufig, der Aufbau ist aber trotzdem geradlinig, wird nur immer wieder unterbrochen von kürzeren und längeren Einlassungen zu Theorien der Informationstechnologie und Neurobiologie, zur Physik und Mathematik, zu Singularität und vollkommenen Zahlen, Psychologie und Psychatrie und auch der Verlagsindustrie und der Medienwelt im Allgemeinen. Dabei findet Lagercrantz allerdings die richtige Balance zwischen der Darlegung hilfreicher Informationen und dem Auslassen eher störender Erklärungen, er überfrachtet die Geschichte nicht mit zu speziellen Details und liefert doch das nötige Hintergrundwissen. Die vielen Verweise auf Wissenschaftler und Autoren und ihre Werke wirken durchaus passend und dürften manchen Leser interessieren,
allerdings nehmen sie das Tempo aus der eigentlichen Krimihandlung.

Es gibt wieder Actionszenen, die das Budget einer wahrscheinlichen Verfilmung gehörig aufblähen dürften, auch kommt es wieder zu sexuellen Übergriffen. Insgesamt aber kommt die Gewalt in Verschwörung mit deutlich weniger Wucht daher. Und es gibt einen deutlichen Unterschied zu den Romanen Larssons: “Verschwörung” ist viel weniger politisch, sozialkritisch.

Natürlich stammt Lagercrantz aus einer völlig anderen sozialen Schicht als Larsson, der Sozialist, Antifaschist, Nazigegner, der gegen Rechtsradikale und Ausländerfeine kämpfte. Und der auch so schrieb: emotional, brutal, wütend, roh. Eckiger, ja Larsson eckte an, während Lagercrantz bemüht ist, zu glätten, bestimmte Grenzen nicht zu überschreiten.

Dabei hatten die Larsson-Romane ja auch durchaus ihre Schwächen, die Story weist einige abstruse Einfälle und merkwürdige Einzelheiten auf, und die literarischen Qualitäten weisen Larsson ebenfalls nicht unbedingt als schriftstellerisches Schwergewicht aus, was in der gnädigen Rückschau allerdings leicht vergessen wird.
Die Erfindung der Figur Lisbeth Salander ist der wahre Geniestreich Larssons, eine solche Frau ist in der Literatur nie zuvor aufgetreten. Zornig, kämpferisch, hart und cool, aber auch kalt.

Vielleicht ist die Fortsetzung von Lagercrantz also sogar die bessere Literatur, auf jeden Fall ist sein Stil durchaus eleganter, flüssiger als die etwas hölzerne, umständliche Diktion Larssons. Lagercrantz hat tatsächlich die Geschichte sehr gekonnt weiter erzählt, natürlich auch indem er auf der “Trilogie” aufbaut , aber “Verschwörung” ist deutlich “seine” Geschichte, die meiner Meinung nach klarer strukturiert und geschickter aufgebaut ist als die drei Larsson-Teile. Ob es nun noch weitere „Millenium“-Bücher gibt, ist noch nicht bekannt, aber höchst wahrscheinlich. Gegen Ende heißt es: NICHTS WAR VORÜBER. LISBETH HATTE IHRE BEUTE LEDIGLICH ANGESCHOSSEN, ABER DAS REICHTE NICHT. NICHT IN DIESEM FALL. Also offensichtlich: Fortsetzung folgt. Mir ist es recht.

 

Rezension und Foto von Kurt Schäfer.

 

Verschwörung
Kurt über sein Foto: „Die wirren Zahlen beschäftigen sich mit der Fibonacci-Folge, diese spielt eine Rolle im Roman.“

Verschwörung | Erschienen am 27. August 2015 im Heyne Verlag
ISBN 978-3-45326-962-0
608 Seiten | 22,99 Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Überblick: Die vier Millennium-Romane um Mikael Blomkvist und Lisbeth Salander

Extra: Millennium-Gewinnspiel: Elftägige Autoreise »Klassisches Schweden« für zwei Personen ab/bis Stockholm inklusive Flug und Mietwagen (Teilnahme noch bis 30. November 2015 möglich)

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