Angelika Felenda | Wintergewitter Bd. 2

Angelika Felenda | Wintergewitter Bd. 2

Reitmeyers zweiter Fall

„War sie denn früher schon einmal hier?„, fragte Reitmeyer. Der Kellner zuckte die Achseln. „Kann sein. Mit so andere Flitscherln vielleicht. Die kommen manchmal vom Kolosseum rüber. Aber sicher bin ich mir nicht.“ „Wieso ‚Flitscherln‘?“ „Ja, vom Konvent der Unbefleckten Jungfrau war die nicht. So wie die ausgesehen und gesoffen hat.“ „Es kann sich nur um einen tragischen Unfall handeln, Herr Kommissär“, fiel der Wirt dem Kellner ins Wort und funkelte seinen Angestellten an. „Was wir natürlich sehr bedauern.“ (Auszug Seiten 32 und 33)

Wintergewitter ist der zweite Kriminalroman um den Münchner Kommissär Sebastian Reitmeyer. Der erste Teil Der eiserne Sommer spielte in 1914. Inzwischen sind sechs Jahre vergangen, der erste Weltkrieg ist vorbei und wie in ganz Deutschland leiden auch in München die Menschen unter einer katastrophalen Versorgungslage bei einer immer größer werdenden Inflation. Aufgrund des großen Nahrungs- und Wohnungsmangel blüht der Schwarzmarkt und aufgrund der hohen Beschaffungskriminalität hat die Polizei mehr als genug zu tun. Stichwort: „Diebesseuche“.

Tod im Schauspielermilieu

Allerdings boomt das Filmgeschäft und viele Frauen wittern ihre Chance und wollen auf die große Leinwand. So auch die junge Cäcilie Ortlieb, die jetzt im Roten Adler tot am Fuße der steilen Kellertreppe liegt. Sie ist aber nicht, wie zuerst vermutet, gestürzt und an einem Genickbruch verstorben. Laut Gerichtsmedizin wurde Cilly Ortlieb mit einer Überdosis Heroin oder Morphium vergiftet. Wenig später stirbt eine enge Freundin von Cilly unter ähnlichen Umständen. Beide arbeiteten in dubiosen Produktionen des Münchner Filmkonzerns Emelka. Kommissar Reitmeyers Ermittlungen führen ihn in illegale Spielclubs, Bars und Bordelle und bis in die höchsten Kreise. Auch ohne Unterstützung seiner Vorgesetzten, die alles tun, um einen Sündenbock zu installieren.

In einem zweiten Handlungsstrang sucht Gerti Blumfeld, eine junge Frau aus Berlin in München nach ihrer verschwundenen Schwester. Sie gibt vor, an einer Dissertation über Prostituierte zu schreiben um sich besser im einschlägigen Milieu umsehen zu können. Dabei kreuzen sich mehrmals die Wege des Kommissärs und Gerti. Da sie nicht weiß, ob sie ihm trauen kann, hält sie Informationen zurück. Als sie in den Besitz einer Mappe mit brisantem Inhalt kommt, begibt sie sich in Lebensgefahr.

Stimmiges Sittengemälde

Angelika Felender, die u.a. Geschichte studiert hat, zeigt uns hier ein stimmiges Bild der Gesellschaft um 1920. Geschichtliche Aspekte werden geschickt mit der Handlung verknüpft, die Thematik mit Kleinkriminellen, Neureichen und schlüpfrigen Filmproduktionen ist gelungen und so entsteht eine dichte und lebendige Atmosphäre. Die politische Situation spielt eine große Rolle und Felenda hat sich intensiv damit auseinandergesetzt. Die Bevölkerung leidet unter den hohen Auflagen der Siegermächte, die Rationierungen werden als ungerecht empfunden und es entsteht eine wütende, aufgeheizte Stimmung. Diese bildet den Nährboden für eine stark rechtspopulistische neue Politikrichtung und auf politischen Treffen begibt sich ein neuer Festredner in Stellung: Adolf Hitler. Die zunehmende Gewaltbereitschaft zeigt sich auch in rechten Gruppierungen wie zum Beispiel die Einwohnerwehr, in der ehemalige Soldaten Aufnahme finden, die jetzt neben der Polizei für Ordnung sorgen wollen und das Gesetz oft in die eigene Hand nehmen.

Dafür fehlte es der Kriminalgeschichte irgendwie an Zugkraft und die grundsolide Polizeiarbeit blieb oft im Ansatz stecken und führte zu nichts. Für mich gab es einige Ungereimtheiten, so zum Beispiel die ganze Passage, in der Gerti Unterschlupf bei Caroline, einer Jugendfreundin von Reitmeyer findet und die beiden sich da zufällig wieder sehen. Die Handlungsstränge waren teilweise verwirrend und aufgrund einer großen Anzahl an Figuren bedarf es einer großen Konzentration. Im letzten Viertel wird noch mal an der Spannungsschraube gedreht und die Auflösung am Schluss hat mich dann auch nicht richtig überzeugt.

Die Charaktere sind liebevoll gezeichnet, hätten an der einen oder anderen Stelle noch etwas Tiefe gebrauchen können. So ist Reitmeyer der sympathische, stets besonnene und korrekte Polizist. Der Fahrradfahrer versucht immer im Rahmen seiner Möglichkeiten für Gerechtigkeit zu sorgen. Auch an ihm ist der Fronteinsatz nicht spurlos vorbei gegangen. Er leidet unter Panikattacken, die er zu verbergen sucht. Das hätte man noch vertiefen können, es hätte ihm noch Ecken und Kanten verliehen.

Wie gehetzt lief Reitmeyer den Gang entlang und mit ein paar Sätzen die Treppe hinauf. Erst vor dem Haus wagte er, wieder tief durchzuatmen. Der faulig modrige Geruch in der Kellerwohnung, der Mief aus altem Bettzeug, Windeln und aufgewärmtem Kohl hatte ihm fast die Luft abgeschnürt. Am liebsten hätte er sich geschüttelt wie ein Hund nach einem Regenguss. So mussten diese Leute leben. Es war menschenunwürdig. Aber sie waren nicht die Einzigen. Es herrschte verheerende Wohnungsnot. (Seite 17)

Korbinian Rattler ist der pfiffige, etwas übereifrige Polizeischüler, der die älteren Kollegen mit unkonventionellen Ermittlungsmethoden nervt. Er leidet unter Lungenproblemen aufgrund von Gasverletzungen im Krieg. Die sprunghafte Gerti war für mich nicht richtig greifbar. Skrupellos spielt sie Reitmeyer gegen seinen besten Freund Sepp, einen Rechtsanwalt, aus.

Besonders informativ fand ich, einiges über den Sonderstatus Bayerns in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg zu erfahren, wie auch am Ende des Buches noch mal in den Anmerkungen der Autorin erklärt.

 

Rezension und Foto von Andy Ruhr.

Wintergewitter | Erschien am 29. Oktober 2016 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-5184-671-90
438 Seiten | 14.95 Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Auch bei uns: Andys Rezension zum 1. Band der Reihe Der eiserne Sommer

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