Keigo Higashino | Unter der Mitternachtssonne

Keigo Higashino | Unter der Mitternachtssonne

Die Frau schritt nun zögernd auf die Leiche zu. Vor dem Sofa blieb sie stehen und schaute auf den Toten hinab. Sasagaki merkte, dass ihr Kinn zitterte. „Ist das Ihr Mann?“, fragte Nagatsuka. Ohne zu antworten, legte die Frau die Hände auf die Wangen und bedeckte mit ihnen schließlich ihr ganzes Gesicht. Ihre Knie gaben nach, und sie sank zu Boden. Netter Auftritt, dachte Sasagaki. (Auszug Seite 12)

Am Anfang steht ein Mord

1973 entdecken spielende Kinder in einem leerstehenden Gebäude zufällig die Leiche des erstochenen Pfandleihers Yosuke Kirihara. Die Ermittlungen unter Kommissar Junzo Sasagaki ergeben, dass das Opfer an diesem Tag einen großen Geldbetrag von der Bank abgeholt hatte und auf dem Weg zu einer Kundin war. Mit dieser Fumiyo Nishimoto, einer alleinerziehenden Witwe, wird ihm ein Verhältnis nachgesagt, was diese bestreitet. Das Geld bleibt verschwunden und trotz großer Bemühungen des ehrgeizigen Kommissars verlaufen auch alle anderen Spuren im Sand. Ein Jahr später stirbt Fumiyo in ihrer Wohnung an einer Gasvergiftung, ob Unfall oder Suizid, wird nie ganz geklärt, und hinterlässt eine zwölfjährige Tochter namens Yukiho.

In den nächsten Kapiteln ist dann von Kommissar Sasagaki erst mal nicht mehr die Rede. Stattdessen werden die Lebenswege von Ryo Kirihara, dem damals elfjährigen Sohn des Pfandleihers und der gleichaltrigen, bildhübschen Yukiho beleuchtet.

Die Wächtergrundel und der Knallkrebs

In diesen Kapiteln erzählt Keigo Higashino sehr ausführlich und detailliert über einen Zeitraum von fast zwanzig Jahren. So wird jedes Kapitel fast zu einer kleinen abgeschlossenen Kurzgeschichte, in der sich die Lebenswege vieler Menschen schneiden. Ein gewiefter Schachzug, denn als Leser grübelt man die ganze Zeit über den großen Zusammenhang und kann ihn nur schwer erahnen. Erst ganz langsam fügen sich die einzelnen Puzzlestücke zu einem Bild zusammen. Das habe ich in dieser Raffinesse noch nicht gelesen. Die Verbindungen und Hintergründe beim Lesen nachzuvollziehen macht einen besonderen Reiz dieses Thrillers aus. Dazu passt, dass der Autor die einzelnen Episoden zuerst für eine Zeitschrift konzipiert und dann diese für seinen 1999 in Japan erschienenen Thriller überarbeitet hatte.

Yukiho investiert viel in Bildung und gutes Benehmen und wird zu einer auffallend schönen und erfolgreichen Geschäftsfrau. Auch Ryo, den immer eine düstere Aura umgibt, ist sehr umtriebig und nutzt die Wirtschaftsblase der 80er Jahre, um mit dubiosen sowie illegalen Geschäften wie zum Beispiel Erpressung, Bankenbetrug oder Wirtschaftsspionage sein Geld zu verdienen. Beide haben an sozialen Kontakten nur soweit Interesse, wenn sie ihre Mitmenschen benutzen können und sind Meister der Manipulation. Beide verstehen es, Menschen in ihren Bann zu ziehen, aber wo sie auftauchen, geschieht ein Unglück. Der subtile Thrill entsteht durch die Betrachtung dieser beiden rücksichtslosen Intriganten.

Obwohl sie in den Kapiteln nie aufeinander treffen, ahnt man irgendwann, dass Yukiho und Ryo eine besondere Verbindung haben. Der Kommissar vergleicht das mit einem Beispiel aus dem Tierreich: Grundel und Knallkrebs gehen eine Art Symbiose ein, indem sie sich zum Beispiel vor Gefahren warnen. Diese Kapitel sind auch eine Zeitreise in die 80er Jahre und ermöglichen einen Einblick in die japanische Gesellschaft und fremde Kultur. Es ist der Beginn des Computerzeitalters und man nimmt teil an den Anfängerjahren der Videospiele wie das bekannte Super Mario Bros. oder das Benutzen der ersten Geldkarten. Man lernt dabei auch einiges über die Mentalität der Japaner.

Cold Case

Zwanzig Jahre nach dem Tod des Pfandleihers sind die Ermittlungen natürlich schon lange eingestellt. Der Kommissar ist inzwischen in Rente, aber der Fall hat ihn nie losgelassen. Und so verfolgt er beharrlich weitere Spuren, ermittelt auf eigene Faust und engagiert sogar einen Detektiv. Als Leser hat man inzwischen eine Ahnung, aber das Motiv wird erst auf den letzten Seiten enthüllt. Der Autor überrascht mit einer stimmigen Auflösung, wenn zum Schluss alle Handlungsfäden zusammengeführt werden. Es erfordert eine große Aufmerksamkeit, damit man kein Detail überliest.

Higashino bedient sich einer klaren, fast emotionslosen Sprache. Sein Figurenpersonal ist immens, aber er verzichtet darauf, seine Charaktere psychologisch zu analysieren. Stattdessen berichtet er distanziert und fast dokumentarisch von außen wie ein Beobachter aus der Ferne.

Eine große Herausforderung waren die vielen japanischen für europäische Ohren ähnlich klingenden Namen für mich. Ohne das beiliegende Namensverzeichnis einschließlich Kurzbiographien der wichtigsten Personen wäre ich verloren gewesen.

Keigo Higashino hat mit Unter der Mitternachtssonne einen außergewöhnlichen, brillant konstruierten Thriller auf über 700 Seiten kreiert, den ich auch nach dem Lesen nicht so schnell vergessen werde, ganz großes Kino, auch ohne große Action und viel Blutvergießen.

 

Rezension und Foto von Andy Ruhr.

Unter der Miternachtssonne | Erschienen am 10. März 2018 bei Tropen im Klett-Cotta Verlag
ISBN 978-3-608-50348-7
720 Seiten | 25.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Diese Rezension erscheint im Rahmen unseres .17special Mini-Spezials Japan.

3 Replies to “Keigo Higashino | Unter der Mitternachtssonne”

  1. Diesen Roman möchte ich dieses Jahr eigentlich auch noch unbedingt lesen. (Und ich staune gerade selber, dass ich damit indirekt schon das Jahresende im Blick habe. Eiwei, die Zeit, die Zeit!) Jedenfalls, ich glaube, die Lesezeit lohnt hier, das klingt wirklich vielversprechend mit der klaren Sprache und der außergewöhnlichen Konstruktion.

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